Kapitel 2 - Luis
Packen wurde rasch zum Problem. Luis hatte es auch lange genug hinausgezögert. Konnte man es ihm jedoch verübeln? Die Flut an Informationen, die ihm mit einem Mal überlassen wurden - wer hätte da widerstehen können? Allein wenn er daran dachte, zogen sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln auseinander. Es musste Jahre her sein, mindestens zehn, seit er etwas so unzensiertes vor sich hatte.
Manchmal vergaß Luis, dass die Menschen an seiner Seite mehr als eine Hülle waren. Wer hätte gedacht, dass sich hinter den passiven Fassaden seiner Kollegen so viel Feuer versteckte? Ihre Berichte waren beinahe schon sündhaft. Manche von ihnen hatten sich während ihres Aufenthalts sogar betrunken. Das Risiko. Luis würde sich ähnliches nie trauen. Nicht in der Nähe von Magienutzern. Sein freier Wille war ihm dafür einfach zu lieb.
Unsicher hielt er eine Jeans vor sich in die Höhe. Er hatte keine Ahnung, welche Kleidung er bringen sollte. Freizeitkleidung war ein Begriff, den man weitauslegen konnte. Trugen Magienutzer eigentlich noch Jeans - Kaia selbst hatte den Stoff nie leiden können - oder würde er damit schon auf den ersten Blick als fremd herausstechen? Er hatte schon zwei Shirts und drei Hemden deswegen beiseitegelegt. Manche Prints waren einfach etwas zu sehr auf die Nase gebunden.
Am liebsten würde er Cleo um Rat fragen, doch diese wollte seit seiner Verlobung nicht wirklich etwas von ihm wissen. Vielleicht bildete er es sich auch ein, doch wann immer er in ihr Sichtfeld trat, gab es plötzlich einen Notfall, der nicht auf sich warten lassen konnte. Wäre er sich ihrer Desinteresse nicht bewusst, würde er fast fürchten, dass sie unangemessene Gefühle für ihn entwickelt hatte. Doch allein der Gedanke klang schon absurd.
Luis Blick fiel auf seinen Nachttisch und das Bild von ihnen, das dort sein Heim gefunden hatte. Sie waren ungefähr dreizehn gewesen - Cleo nur ein paar Tage vor ihrem vierzehnten Geburtstag - und aßen heiße mit Schokolade gefüllte Äpfel auf dem Jahrmarkt.
Luis hatte bereits die Hälfte seines Apfels verschlungen, die Nase in das flüssige Innere getaucht, als er versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, um einen weiteren Bissen zu nehmen. Cleo jedoch hatte schon lange aufgegeben, an ihrem zu nagen und beobachtete ihn stattdessen mit sprudelndem Lachen.
Luis erinnerte sich noch gut an diesen Tag, wie amüsant chaotisch er gewesen war. Speichel und Apfelsaft waren seine Handgelenke hinabgeronnen, als er seine Schulter gegen Cleos stieß, Scherz und Gelächter laut in der Luft. Sie kannten sich schon eine halbe Ewigkeit - achtzehn, zwanzig Jahre gewiss.
Ohne groß darüber nachzudenken, steckte er das Bild in seine Tasche. Die erste Entscheidung, bei der er sich wirklich sicher war.
Luis konnte immer noch nicht glauben, dass er gehen durfte. Die Ehre, die Verantwortung, die Chancen, die man ihm damit gab - kein Dank der Welt würde genügen. Alles in ihm kribbelte vor Anspannung, sein Herzschlag ein nervöses Flattern in der Brust.
Es gab viel zu viel, dass schiefgehen könnte. Vielleicht war es doch nicht die beste Idee, ihn einzuschleusen. Er bezweifelte, dass der Schelm ihn mögen würde. Doch ehrlich gesagt, hoffte Luis nur, dass ihm das Trollzehenlutschen erspart bleiben würde. Sein Würgereflex war zwar gut - er bekam selbst das Freitagsessen ohne Probleme runter - doch nicht so gut.
Ein Schauer durchzuckte seinen Körper. Er musste wirklich über diese Geschichte hinwegkommen. William hatte ihn sowieso nur verarscht.
Vermutlich.
Definitiv.
Nicht.
Wen versuchte er überhaupt zu täuschen, er würde es William definitiv zutrauen. Das und noch vieles mehr. Er hatte ihn schon schrägeres tun sehen.
Seufzend faltete Luis die Jeans zusammen und legte sie zurück in den Kleiderschrank. Eine kleine Internetsuche würde vielleicht helfen. Immerhin wollte er nicht einen auf William machen. Der erste Eindruck musste sitzen.
Er wollte gerade seinen Laptop einschalten, da ging die Tür zu seinem Zimmer auf. Natürlich ohne ein ankündigendes Klopfen. War ein wenig Privatsphäre wirklich zu viel verlangt?
Ja. Ja, das war es. Zumindest solange er mit seinem Vater zusammenlebte. Kontrolles Verlust hatte ihn paranoid gemacht. Ab und zu raubte er Luis noch immer die Stimme, veranlasste seinen Vater dazu die Wohnung nach Wanzen abzusuchen und brachte seine Mutter dazu sich in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren. Die Probleme verschwanden einfach nicht mehr. Bei niemandem. Und, ganz ehrlich, Kaias Tod hatte die Situation auch nicht gerade besser gemacht.
Mit verzogener Miene musterte er seine Eltern und schob den Laptop zurück unter sein Bett. Verdammt sei die Wirtschaft, die ihn zwang, auch noch mit sechsundzwanzig bei ihnen zu wohnen. Sechsundzwanzig. Er konnte es noch immer nicht glauben. Zwanzig Jahre ist es nun schon her. Einundzwanzig in ein paar Monaten. Olivia. Sie hatte das wirklich nicht verdient. Von all den Halbgöttern - Sein Herz schmerzte noch immer für sie.
Luis unterdrückte ein Seufzen. Mit Absicht wandte er seinen Blick ab.
"Kann ich euch weiterhelfen?" Die beiden tauschten einen beunruhigten Blick aus. Luis konnte ihre Sorge beinahe spüren. Die Stille trieb ihm in den Wahnsinn. Sie war urteilender als so manches Wort. "Steht nicht einfach so blöd da. Wenn ihr was zu sagen habt, dann sagt es." Schließlich setze sich seine Mutter neben ihn und seine halb gepackte Tasche. Handtücher und Unterwäsche, eine Wasserflasche, Streichhölzer und ne Taschenlampe - mehr hatte er noch nicht zusammentragen.
"Wir wollen keinen Streit, Luis." Er schnaubte. Natürlich nicht. Nur in seine Entscheidungen reingrätschen. Trotz seines Missmuts hielt Luis sich zurück. Benimm dich, murmelte es in seinem Verstand. Eine Anweisung, die er nicht anstrebte zu missachten. "Es ist nur... vielleicht solltest du deine Pläne noch einmal überdenken, zwei oder drei Monate darüber schlafen, anstatt aus einer Laune heraus zu handeln." Luis wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Packen zu. Ob sie ein Taschenmesser durchgehen lassen würden?
"Luis", mischte sich nun auch sein Vater ein. "Wir wollen doch nur sichergehen, dass dir nicht das Gleiche wie Kaia geschieht." Luis kniff die Augen zusammen, Finger eng um den Griff seiner Tasche gekrallt. Warum die beiden auch immer Kaia ins Spiel bringen mussten, wenn er gegen ihren Willen handelte. Die Situation war nicht einmal annähernd dieselbe. Kaia hatte sich verkalkuliert und sich mit einer Halbgöttin eingelassen. Dazu noch die Egoistischste. Und selbst wenn er das Gleiche vorhätte - verdammt noch einmal, es war sein Leben. Nicht das seiner Eltern und mit Sicherheit nicht Kaias.
"Keine Laune. Keine Phase. Ernsthaft, wie oft haben wir dieses Gespräch hier schon geführt? Ich werd mich von diesen Freaks schon nicht ablenken lassen, geschweige denn mich mit einem von ihnen einlassen." Das Schäferstündchen konnte er sich wirklich sparen. "Rebellieren werde ich auch nicht. Ich bin nicht Kaia und ich bin nicht William, zudem würde es der Schwangerschaft im Weg stehen."
"Schwangerschaft?", wiederholte seine Mutter ungläubig. Ihr Ton allein ließ Selbstgefälligkeit in Luis aufkeimen.
"Fortpflanzung, Gravidität, den alten Braten in der Röhre - suchts euch aus. Veronica und ich werden heiraten. Eure Einladungen sollten bald eintreffen. Bei meiner Rückkehr wird es so weit sein. Mit etwas Glück zeugen wir gleich beim ersten Mal einen adäquaten Erben. Bei ihren Genen nicht unwahrscheinlich." Es blieb nur zu hoffen, dass er mehr mit Kaia als die Nase teilte. Ein Kind von ihrem Kaliber könnte das Ruder in diesem Krieg doch noch zu ihren Gunsten reißen. Seine Eltern jedoch schienen anderer Meinung zu sein. Vielleicht aber waren sie auch nur erzürnt, dass sie erst jetzt von der Verlobung erfuhren.
Schlussendlich war es sein Vater, der als erstes seine Stimme wiederfand.
"Luis, wir reden hier über ein Leben, ein atmendes, schreiendes, kackendes Baby und nicht eine deiner ausgefallenen Strategien. Wie willst damit fertig werden? Und was ist mit Veronica, was machst du mit ihr, wenn das Kind einmal da ist?"
"Keine Ahnung, ist mir ehrlich gesagt auch egal."
"Aber-", setzte sein Vater fort. Und dann kam die Wut. Heiß stieg sie in Luis auf, zehrte an seinen Eingeweiden und krallte sich seine Kehle hinauf. Er warf den Rucksack, mit dem er eben noch sinnlos gefuchtelt hatte, zu Boden und stand ruckartig auf.
"I don't wanna hear it", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Keiner von euch muss- keiner- you don't have watch your friends get slaughtered by these anomalies! Ihr müsst da nicht raus - but I do!" Er seufzte, als der Kampf in ihm von einer Welle der Gleichgültigkeit vertrieben wurde. "I do." Er wandte sich dem Fenster zu, näherten sich ihm, bis seine Knie den kalten Heizkörper berührten. So weit weg von ihnen wie möglich. Alles, um sie nicht ansehen zu müssen, um ihr stilles Urteil nicht mitzubekommen. "Tatsache ist, dass wir jemanden wie Kaia brauchen, um diesen Krieg zu gewinnen. Ein Kind ist unsere einzige Option und anders als euch ist sich Veronica dem bewusst. Der Rest ist unwichtig."
"Krieg?", wiederholte seine Mutter. "Luis, die Götter wissen, dass wir dich so nicht erzogen haben. Das hier ist nichts weiter als die persönliche Vendetta einiger Einflussreichen."
Ihre Hand legte sich auf seine Schulter. "Bleib. Du kannst, noch wirst du eine gesamte Spezies auf den Scheiterhaufen zerren. Ja, was mit deiner Schwester passiert ist, ist schlimm, doch nicht jeder von ihnen ist böse. Mensch oder nicht - jeder hätte sie töten können."
"Außerdem", sagte sein Vater, "was würde Kontrolle wohl denken, wenn sie wüsste, was aus dem lieben Jungen geworden ist, der drei Tage vor dem Messegebäude gecampt hat, um ihr seine Kartentricks zu zeigen?"
"Unwichtig", konterte Luis. Und das war es auch: unwichtig. Würde sie noch leben... - zur Hölle, vermutlich wäre sie genauso wütend wie er. Verlangen, die Halbgöttin der niederen Triebe, hatte sie immerhin gemäß ihres Titels niedergestreckt. "Ihre Schwester hat meine getötet. Halbgöttin hin oder her - ihre Hoheit hätte sich nicht einzumischen."
"Respekt, Luis", mahnte sein Vater, während sich mit zwei Fingern über die krumme Nase rieb. "Wir reden nicht mit scharfer Zunge über die Halbgötter. Insbesondere nicht über Verstorbene."
Luis schnaubte. Respekt. Was wusste sein Vater schon davon? Arschkriecherei passte schon eher. Olivia wäre wohl die Letzte, die etwas gegen sein Benehmen hätte. All die Interviews, die Luis von ihr gesehen hatte - she was a litte spitfire. Nein, Luis glaubte nicht, dass sie beleidigt wäre, im Gegenteil, er würde ihr gefallen.
Ein ferner Eindruck, halb vergessen im Laufe der Jahre, drängte sich in den Vordergrund. Olivia vor ihm, breites Lächeln und mit kürzeren Haaren als je zuvor. Sie wirkte müde, bedrückt, doch passierte ihn nicht, stattdessen sank sie auf ihren Knien zu seiner Höhe herab. Vermutlich hatte sie nur eine Pause von den Fragen der Presse gebraucht und sich auf das erste Kind in ihrer Nähe gestürzt, dennoch, Luis hatte sich nie wichtiger gefühlt. Die Freude, der Stolz in ihren Augen, als er ihr seine Schwester vorstellte, er nur ein Mensch, sie so offensichtlich magisch und keine Spur Neid zwischen ihnen. Es hatte sich großartig angefühlt.
Von all den Wesen im Universum, von all den Göttern und Halbgöttern, von all den Anomalien war sie die Einzige, die nicht nur an sich selbst dachte, die Einzige, die Luis verschonen würde.
Die Hand seiner Mutter fiel von seinem Rücken. "Ich mache es dir leicht", sagte sie. "Entweder du bleibst und überdenkst noch mal, was diese Sekte dir eingeredet hat oder du bist hier nicht mehr willkommen."
Manchmal konnte Luis sich selbst nicht leiden. Ihm war wohl bewusst, was für ein Arsch er sein konnte, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte. Er rastete nicht aus - Wut konnte man sich in einer Welt wie dieser einfach nicht leisten. Stattdessen wurde er kühl, auch wenn es feucht in seinen Augen kribbelte.
Seinen Blick richtete er in die Ferne, auf einen jungen Baum, der eben erst seine ersten Blätter bekommen hatte. In dieser Gegend gab es nicht mehr viele seiner Sorte. Die meisten von ihnen waren nichts mehr als verbrannte Überreste. Dieser hier wurde erst vor wenigen Tagen gepflanzt. Wie lange er wohl durchhalten würde, bevor er weggebombt wurde oder das Feuer ihn verschlang?
"Dann ist ja alles geklärt", sagte er schließlich. "Ich befürchte jedoch, dass ihr die Wohnung räumen müsst, nur Mitglieder dürfen sich an den Zuschüssen bereichern - etwas, das ihr ja nicht seid." Dann drehte er sich zu ihnen. "Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich es begrüßen, wenn ihr mich in Ruhe lasst. Ich habe noch zutun."
Er drängte die beiden mit seinen Schritten zur Tür und scheuchte sie beinahe hinaus. Bevor er die Tür schloss, sagte er noch:
"Ach, und bevor ich es vergesse, betrachtet euch als ausgeladen. Ich möchte euch weder auf der Hochzeit sehen, noch sonst irgendwo, solange ihr nicht die Wichtigkeit von alledem hier begreift."
Dann schloss er die Tür nachdrücklich hinter ihnen, bevor sie auch nur ein Wort einwerfen konnten. Was würde er nicht dafür geben, dass Cleo hier wäre, dass Kaia ihn den Rücken stärkte.
Luis blickte auf seinen Rucksack hinab. Er seufzte. Bis er eine Entscheidung getroffen hatte, würden vermutlich noch Stunden vergehen. Den Arztbesuch hatte er ja auch noch vor sich.
Er rieb sich einmal über die Augen und holte seinen Laptop wieder hervor. Hoffentlich würde ihm das Internet weiterhelfen können. Er musste wirklich mehr über die Mode und Sitten dieser Freaks lernen, wenn er nicht auffallen wollte.
Währenddessen, Kilometer entfernt, auf einem anderen Kontinent, hatte James es sich auf dem Boden seines Badezimmers bequem gemacht. Die Haare in ein Handtuch gewickelt, blätterte er erneut durch Luis' Akte. Er nahm einen Schluck des Tees, den sein Haus ihn gebracht hatte, und tätschelte die Fliesen mit leisem Dank.
"Bennett." Luis' Nachname rollte ihm locker von der Zunge.
Er wusste genau, wo er ihn haben wollte.
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Hi! Jetzt wird es langsam spannend...
Na, wer von euch hat seine Meinung über Luis geändert?
Glaubt ihr, da läuft was zwischen ihm und Cleo?
Wie meint ihr, wird er mit James in Verbindung stehen?
OH! Was sagt ihr eigentlich zum Schelm und seiner Beschreibung? Irgendwelche Theorien hierzu?
Ich quatsche wie immer gerne mit euch!
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