9. Kapitel: Krankenpflege
Heidrun:
Ein unangenehmes Pochen erfüllte meinen Schädel, als meine Drachendame zum Landeanflug ansetzte. Nachdem ihre Krallen auf der hölzernen Plattform Halt gefunden hatten, versuchte ich abzusteigen, doch stattdessen knickten meine Beine ein. Hart traf ich auf dem Boden auf und blieb stöhnend liegen, was auch immer man mir in den Höhlen für ein Gift verabreicht hatte, es war ein unglaublich scharfes Zeug. „Steh auf, Heidrun. Wenn du Hilfe brauchst, dann nimm meine Hand", hörte ich plötzlich Rowins Stimme neben mir. Als ich meinen Kopf drehte, sah ich, dass er tatsächlich neben mir stand und mir die Hand zur Hilfe anreichte. Leicht verlegen, nahm ich sie an und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen. „Sieht aus, als hättest du deutlich mehr Gift abbekommen als Astrid oder auch Sturmpfeil. Wobei Letztere das Zeug einfach aufgrund ihres größeren Körpers selbstverständlich besser abbauen kann, aber trotzdem haben sie dir wohl eine etwas höhere Dosis gegeben", erklärte er und legte seine freie Hand an meine Stirn. „Nicht gut", meinte Rowin nach einigen Sekunden, „du hast Fieber. Am besten solltest du dich jetzt ins Bett legen und nicht weiter anstrengen, ich hole dir inzwischen eine der Kräutermixturen der Seelenkrieger dagegen." Nickend akzeptierte ich den Vorschlag, verabschiedete mich noch kurz von den Anderen, sowie Windfang, die sich nur widerwillig in den Stall zurückzog, und lief dann von Rowin gestützt zu meiner Hütte. Dort angekommen öffnete ich die Tür und begab mich auf direktem Weg in mein Bett. Sofort war ich mir sicher, noch nie in meinem Leben erfreuter über mein warmes Lager zu sein.
Kaum hatte im mich in den weichen Federn zur Ruhe gelegt, ging Rowin ohne ein weiteres Wort wieder hinaus. Einige Minuten später kam er mit einem kleinen Tonkrug sowie einer -schüssel in der Hand zurück und stellte beides auf meinem Nachttisch ab. Danach öffnete er den Krug, um eine leicht zähe, grünliche Flüssigkeit in die Schüssel zu gießen, bis diese etwa fingerbreit gefüllt war. „Hier, trink das, es wird die Symptome des Giftes lindern", erklärte Rowin noch, als er mir das Gefäß anreichte. Mit zitterigen Händen nahm ich die Schale an und trank dankbar einen Schluck, den ich aber sofort wieder ausspuckte. „Igitt! Das schmeckt ja wie getrocknete Borkenkäfer, die in dreifach gewürzter Salz Soße eingelegt wurden!", jaulte ich fast schon. „Und woher weißt du bitte, wie die schmecken?", fragte Rowin und verzog das Gesicht. „Ähm, das ist eine lange, langweilige Geschichte", meinte ich verlegen, „hast du vielleicht eine etwas besser schmeckende Medizin?" Diese Frage, rang meinem Gegenüber ein leichtes Lächeln ab, ehe er mir antwortete. „Leider nicht, ich fürchte, du musst den Geschmack in Kauf nehmen", gestand Rowin schließlich. Schmollend verzog ich den Mund und machte keine Anstalten weiterzutrinken. „Heidrun, wenn ich die Menge an Gift, die du abbekommen hast, richtig einschätze, dann hast du ohne die Medizin noch Tage lang etwas von den Nachwirkungen. Mit der Medizin dürften die allerdings bis morgen Mittag verschwunden sein", erklärte er und sah mich auffordernd an. „Na schön", gab ich mich geschlagen und setzte die Schüssel an meine Lippen. Nur unter mehrfachem Würgen brachte ich es fertig das Zeug runterzuschlucken. Verdammt, warum konnte so ein Zeug eigentlich niemals gut schmecken?
„Geht doch", entgegnete Rowin schließlich und nahm mir die Schale wieder ab. „Was ist da eigentlich genau in der Medizin drin?", erkundigte ich mich. „Glaub mir, du willst das lieber nicht wissen und besser schmecken würde es auch nicht", antwortete mein Krankenpfleger. „Gut, kannst du mir wenigstens sagen, was ich da abbekommen habe?", änderte ich meine Frage. „Ein sehr seltenes Waffengift aus einer von hier aus sehr weit entfernten Inselgruppe", erklärte Rowin. „Verstehe", meinte ich nur und schloss vor Erschöpfung die Augen. „Gut, schlaf ruhig ein Wenig, dann kannst du dich etwas von den Strapazen dieses Gifts erholen", sagte Rowin, „soll ich für heute Nacht vielleicht hierbleiben? Immerhin könnte ich dir so wesentlich besser helfen, nur falls doch noch etwas sein sollte." Leicht verdutzt öffnete ich meine Augen wieder und blickte ihn an. „Wo willst du denn schlafen? Etwa mit in meinem Bett?", fragte ich dann. Sofort hob Rowin abstreitend die Hände und antwortete: „Nein, nein. Ich dachte ich schlafe einfach als Nachtschatten hier auf dem Boden, ist zwar nicht ganz so gemütlich, aber es wird gehen." Kurz dachte ich noch über das Gesagte nach, kam jedoch schnell zu einem Ergebnis. „Ist gut, hoffen wir mal, dass deine Hilfe nicht von Nöten wird, aber sicher ist sicher", stimmte ich zu. Mit einem Nicken nahm Rowin meine Entscheidung zur Kenntnis und verwandelte sich in seine Drachengestalt. Ehe er sich daran machen konnte, sich einen halbwegs gemütlichen Schlafplatz zu suchen, drehte ich mich im Bett um und war binnen Sekunden eingeschlafen.
Dunkelheit hielt mich fest umschlossen. Eine unglaublich kalte und unheimliche Dunkelheit. Ganz langsam, formten sich daraus Gegenstände, Gestalten und auch Wände. Ehe ich mich versah stand ich als 15 Jahre altes Mädchen in der festlich geschmückten Halle eines großen Langhauses neben meinen Adoptiveltern. Alle schienen das Fest zu genießen und der Met floss geradezu in Strömen. „Nein, nicht dieser Abend", dachte ich, „ich will das nicht nochmal erleben. Nicht jetzt." Gerade wollte ich meinen Vater noch vor dem Kommenden warnen, als es auch schon zu spät war. Die Tür nach draußen wurde aufgerissen und ein stark hinkender Wikinger, mit beschädigter Axt in der Hand stolperte herein. „Der Stamm der Berserker greift an! Sie stürmen über den Marktplatz! Sie... Arg", die Stimme des Wikinger wurde abrupt abgerissen, als er auch schon mit einer Axt im Rücken zusammenbrach. „Jeder, der noch stehen kann, greift sich eine Waffe und verteidigt das Dorf! Alle anderen verschanzen sich hier drin", schrie der Dorfhäuptling. Augenblicklich leisteten alle Anwesenden Folge und stürmten entweder mit einer Waffe in der Hand nach draußen, oder rannten tiefer ins Langhaus. Allein ich stand bewegungsunfähig in der Halle und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Viel zu spät bemerkte ich, dass meine Eltern mit durch die Tür aufs Schlachtfeld gerannt waren. Verzweifelt riss ich mich endlich los und folgte ihnen, dass ich keine Waffe bei mir trug, geschweige denn wusste wie man eine benutzte, hatte ich vollkommen vergessen.
Draußen erwartete mich ein leibhaftiges Chaos, sämtliche Häuser standen in Flammen und überall wurde gekämpft, doch das Ergebnis stand bereits fest. Immerhin waren die Berserker deutlich in der Überzahl und waren im Gegensatz zu den meisten unserer Männer auch nicht angetrunken. Von Angst getrieben hastete ich in Richtung des Dorfplatzes und versuchte dabei von keinem der Schläge getroffen zu werden. Am Ziel angekommen, erwartete mich nur ein Bildnis meiner Albträume, meine Eltern kämpften verletzt gegen einen kleinen, rothaarigen Berserker. Oder besser gesagt, als ich ankam, fiel mein Vater gerade der Axt seines Gegenübers zum Opfer. „PAPA!", schrie ich aus Leibeskräften. „Heidrun?! Verschwinde schnell von hier!", rief Mama mir zu. „Heidrun?" fragte der Berserker verwundert und sah mich an. Ein überraschter und teils auch erfreuter Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht. Im nächsten Moment wurde er jedoch von meiner Mutter umgerissen, aber er entwand sich einfach ihrem Griff, zog einen Dolch von seinem Gürtel und erstach sie damit. „NEIN!", schrie ich noch verzweifelter als zuvor. „Männer, bringt mir die Kleine her, aber unversehrt, verstanden!", befahl der Berserker. Als sich seine Männer fast augenblicklich mir zuwandten, schaffte ich es endlich mich umzudrehen und wegzulaufen. Leider brachte das am Ende des Tages rein gar nichts, ich wurde geschnappt und diesem Widerling ausgeliefert, welcher sich zu allem Überfluss als mein Bruder herausstellte.
Ja richtig, der Mörder meiner Adaptiveltern, wobei ich sie eher als meine Leiblichen sehen würde, war mein eigener Bruder. Anscheinend war ich als kleines Kind von Piraten entführt worden, was auch mit der Geschichte übereinstimmt, die mein Vater mir erzählt hatte. Laut ihm hatte er mich nämlich bei einem Überfall auf ein Piratenversteck gefunden und mich nicht einfach so dort liegenlassen können. Jedenfalls hatte dieser Dagur, so hieß mein liebenswürdiger Bruder, mich nun anhand der Ähnlichkeit zu meiner Mutter erkannt und beschlossen mich aufzunehmen. Selbstverständlich hatte ich protestiert, aber all das half mir nicht weiter, ich wurde trotzdem mitgenommen und von Dagur im Kampf auf brutalste Weise ausgebildet. Irgendwann verbündete er sich dann mit den Drachenjägern und zwang mich ebenfalls, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wenigstens lernte ich damals Hicks kennen, meinen einzigen Freund, neben Windfang die ich nur knapp vor den Jägern retten konnte. Dennoch durfte ich nicht mal Hicks als Freund behalten, auch er wurde mir genommen. All diese Momente erlebe ich vor meinem geistigen Auge nochmal und jeder einzelne quälte mich mit den Schmerzen von einer dornenbesetzten Peitsche. Doch plötzlich verblassten diese Bilder und ich stand in einem schwarzen, leeren Raum auf dunklem Steinboden. Verwirrt sah ich mich um, diesen Ort hatte ich noch niemals in meinem Leben gesehen. „Hallo meine Liebe", hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir. „Papa...", murmelte ich ungläubig und drehte mich um. „Du hast mich im Stich gelassen, meine Frau und ich... wir hätten überlebt, wenn du nur ein Bisschen weniger feige gewesen wärst", warf er mir vor.
„Ich... ich konnte nichts tun", stammelte ich. „Du hättest uns helfen sollen, du Versagerin", meinte er und zog seine Axt. „Papa... nein", murmelte ich und hob meine Waffe ebenfalls. Im nächsten Moment griff er an, seine Axt traf klirrend auf den Stiel meiner Waffe, sofort legte mein Vater einen weiteren Schlag nach. Verzweifelt wehrte ich ab und hoffte, dass mein Gegenüber zur Besinnung kommen würde. „Was ist Kleine? Greif doch mal an, oder bist du noch immer zu feige dafür?", fragte Papa hasserfüllt. Diese Aussage brachte meine Selbstbeherrschung augenblicklich dazu sich auszuschalten. Kreischend setzte ich zu einem Gegenangriff an und schaffte es schließlich meinen Gegner zu entwaffnen. Ehe ich mich wieder unter Kontrolle kriegen konnte, hatte ich meinem Vater schon die Axt in die Brust gerammt. Sofort starrte ich ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an, hatte ich ihn gerade wirklich umgebracht? „Ja genau", meinte Papa und lächelte fies, „mein Blut und das meiner Frau an deinen Händen!" Verzweifelt sah ich an und versuchte meine Axt zurückzuziehen, doch er hielt sie einfach fest. „Du bist schwach, erbärmlich!", klagte er mich an. „NEIN! NEIN!", schrie ich und wachte schweißgebadet auf. Erschrocken sah ich mich um und bemerkte, dass Rowin mit besorgtem Gesichtsausdruck am Kopfende meines Betts kniete. „Keine Angst, du hast nur schlecht geträumt weiter nichts", beruhigte er mich. „Das... das war schrecklich", murmelte ich und versuchte krampfhaft diese Bilder aus meinem Kopf zu kriegen. „Ganz ruhig", sprach Rowin weiter, „was auch immer du gesehen hast, es war nur ein Traum und ist niemals wirklich passiert."
Natürlich konnte er es nicht besser wissen, aber diese Aussage fachte den Sturm in mir zu neuer Größe an, immerhin war sie ja grundlegend falsch. „Ich wünschte, es wäre so Rowin", meinte ich also völlig verheult, „aber es ist wirklich passiert, vor vielen Jahren zumindest." Bei diesen Worten weiteten sich Rowins Augen plötzlich und er sah mich erschrocken an. „Sag nicht, du hast auch Albträume von einem eher ‚unschönen' Erlebnis aus deiner Vergangenheit?", fragte er daraufhin. „Auch?", fragte ich nur verwirrt zurück. „Manchmal", begann er leise, „da träume ich heute noch von dem Moment meiner Brandmarkung und nun ja... Verbannung." Entgeistert starrte ich ihn an, dass er litt wusste ich ja, aber womit ich nicht gerechnet hatte, war diese enorme Ausprägung seines Traumas. „Das tut mir leid, aber wieso hast du uns nie etwas davon gesagt?", fragte ich vorsichtig. „Weil ich nicht wollte, dass ihr euch Sorgen um mich macht und weil es mein Problem ist", antwortete er. „Rowin, ich dachte wir hätten das Thema schon durch", entgegnete ich sanft, meinen Traum hatte ich in dem Moment vollkommen vergessen, „alleine wird man mit sowas nicht gut fertig und um Hilfe zu bitten, ist auch keine Schande." „Ich weiß", meinte er, „es passiert nur so selten, dass ich dachte, ich bräuchte keine Unterstützung mehr." Mit einem schiefen Blick dachte ich kurz über seine Antwort nach, ehe ich wieder etwas sagen konnte. „Schön, aber wenn es wieder passiert, dann sagst du es mir, einverstanden?", erkundigte ich mich also.
„Ja", meinte er, „was ist mit dir? Was verfolgt dich bis in den Schlaf?" Diese Frage warf mich augenblicklich zurück in die grauenvollen Erinnerungen an Dagurs Angriff und... meinen ‚Kampf' gegen Vater. „Ein Angriff der Berserker auf das Dorf meiner Eltern, oder na ja... Adoptiveltern", gestand ich. „Oh, ich nehme einfach mal an, dass sie es nicht geschafft haben, oder?", fragte er mit einem mitfühlenden Ausdruck in den Augen. „Nein", bestätigte ich und erzählte die ganze Geschichte im Anschluss nochmal von vorne. „Was du erleben musstest tut mir schrecklich leid Heidrun. Sowas sollte niemand durchmachen müssen, besonders nicht in deinem Alter", sagte Rowin und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das ändert nichts daran, dass ich ihnen hätte helfen können, aber es nicht geschafft habe, wenn ich nur...", verfing ich mich in Selbstvorwürfen, aber Rowin unterbrach mich. „Heidrun, du warst 15 und hattest keine Waffe, du hättest nichts gegen einen zum Töten abgerichteten Berserker ausrichten können", tröstete er. „Ich weiß, aber trotzdem hätte ich irgendwas tun können, anstatt dumm in der Gegend herumzustehen", meinte ich. „Heidrun, egal wie oft du es noch wiederholst, du wirst niemals erfahren was gewesen wäre, denn es ist jetzt Vergangenheit. Du kannst es nicht mehr verändern, oder deine Eltern zurückholen, auch wenn es nicht leicht ist, musst du das akzeptieren", erklärte er. „Auch wenn mir mein Vater im Traum ins Gesicht sagt, dass er noch leben würde, wenn ich etwas getan hätte?", fragte ich, wofür ich einen entsetzten Blick von Rowin erntete. „Ja, selbst dann", antwortete er dann aber, setzte sich neben mir aufs Bett und nahm mich in den Arm, „immerhin ist dieser letzte Teil mit Sicherheit keine Erinnerung und somit nie passiert. Ich bin mir sicher, dass dein Vater das genauso sehen würde, wenn er jetzt hier wäre." Eine Weile lang saßen wir nur so da und hielten uns gegenseitig fest. „Ich werde es versuchen", versicherte ich ihm dann.
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