23. Kapitel: Der Tempel der Nacht
Rowin:
„Erkläre mir bitte nochmal, wie genau du es geschafft hast, die Karte zu entschlüsseln", bat Heidrun ungläubig. „Wie ich schon sagte... Nachdem ich gestern zurück in meine Hütte gegangen bin, habe ich mich nochmal in Ruhe an die Karte gesetzt und bin das Ganze einmal etwas anders angegangen. Dabei habe ich dann bemerkt, dass die Linien auf den äußeren Ringen eher so aussehen, als würden sie zu einem kunstvollen Muster gehören und habe Selbiges dann vervollständigt. Ehe ich mich schließlich versah, hatte ich dann auf einmal die beiden Hälften der Kugel und diese Karte in den Händen", erklärte ich den dreien nochmal. „Dann hat unsere kleine Auszeit gestern dir also geholfen auf die Lösung zu kommen, oder habe ich das falsch verstanden?", hakte Heidrun gespielt überlegen grinsend nach. „Im Prinzip ja", bestätigte ich und schaute wieder auf die Metallkarte vor uns auf dem Tisch. Noch immer konnte ich es kaum glauben, dass diese Rolle aus aneinander befestigten Metallplättchen mit den eingravierten Zeichnungen tatsächlich die Karte war, nach der wir gesucht hatten. „Wenn ihr beide dann mit flirten fertig seid, können wir dann bitte weiter darüber reden, wo genau dieser Tempel nun ist? Ich für meinen Teil werde nämlich nicht wirklich schlau daraus", unterbrach Aliena unser Gespräch und deutete auf das kleine Metallrechteck. Leicht verlegen drehte Heidrun daraufhin ihren Kopf von Aliena weg, während Astrid nur eine Augenbraue hob und ich mich dazu entschied, die Karte genau zu inspizieren. „Nun ja, wenn du mich fragst, dann wirst du gerade nur nicht schlau daraus, weil die Karte nicht genordet, sondern platzsparend auf dieser doch recht begrenzenten Fläche ausgerichtet ist", erklärte ich dann nach einer Weile.
„Klingt logisch... nur stellt sich jetzt die Frage, wo genau auf dieser Karte nun Norden ist...", bemerkte Astrid anschließend. „Das dürfte sich schon noch herausfinden lassen...", murmelte ich nur und zog ein Karte des ganzen Inselreiches hervor, um sie auf dem Tisch auszubreiten. „Also... hier müsste die Insel mit dem Eingang ins Seelenreich sein... und das hier sieht mir nach der Insel, der Werwolf-Flügler aus...", meinte ich leise, während ich die Metallkarte so drehte, dass sie mit dem dazu passenden Ausschnitt meiner Karte übereinstimmte. „Gut, dann müsste sich der Tempel also ungefähr hier befinden... etwa zwei, vielleicht auch drei Tagesflüge in nördlicher Richtung des Seelenreichs", kommentierte ich dabei und betrachtete das Ergebnis zufrieden. „Dann haben wir ihn also gefunden...", erwiderte Astrid nur leise. „Stimmt, wann wollen wir aufbrechen?", fragte Heidrun und betrachtete die auf der Karte verzeichnete Position des Tempels. „So bald wie nur möglich, würde ich sagen", entgegnete Astrid und schaute in die Runde. „Ah, ich pack einen Mantel ein...", erwiderte Aliena und verließ den Raum.
Kalter Flug Wind strich mir über die Schnauze, während ich neben Sturmpfeil und Windfang in Richtung Norden flog. Wir waren bereits seit gut einem Tag unterwegs und hatten bisher lediglich eine Pause gemacht, damit ich Sigfrid einen Brief an unserem üblichen Platz hinterlassen konnte. Hoffentlich würde er den noch rechtzeitig lesen, bevor wir wieder vom Tempel zurück zur Klippe geflogen waren. Ayla und Ohnezahn waren aus recht offensichtlichen Gründen zuhause geblieben, aber wir verstanden und gönnten ihnen das auch. Immerhin hatten die Beide eine Menge Schwierigkeiten mit ihrer Beziehung, da hatten sie es mehr als verdient, jetzt etwas Zeit für sich zu haben und sie zu genießen. Als es schließlich langsam dunkel wurde, landeten wir auf einer kleinen Insel, entzündeten ein kleines Feuer und aßen etwas von dem Proviant, den wir mitgenommen hatten.
Auch am nächsten Tag flogen wir fast ohne Unterbrechung nach Norden und erreichten schließlich gegen Mittag eine entlegenen Insel, die von weitläufigen Gebirgen durchzogen war. Die wenigen Schluchten und Ebenen der Insel waren noch dazu mit spärlichen Tannenwäldern bewachsen, dafür aber dicht zugeschneit. Dennoch erkannte ich schnell, wo unser Ziel genau lag, nämlich am Hang des größten Berges auf der Insel. „Ich sehe den Eingang, folgt mir", teilte ich den beiden Drachen neben mir mit und setzte zur Landung an. Die anderen folgten mir und am Boden angekommen stiegen Astrid, Heidrun und Aliena, die bei Heidrun mitgeflogen war, ab, während ich mich zurückverwandelte. Wir standen auf einer kleinen Fläche, die sonst nur über einen schmalen Gebirgspfad zu erreichen war, direkt vor einer gerade emporragenden Bergwand. Diese entpuppte sich bei näherem Hinsehen jedoch als Steinernes Eingangsportal, das bestimmt 20 Meter hoch aufragte, obwohl es nur auf halber Höhe des eigentlichen Berges lag. „Sieht nach nichts aus", meinte Aliena skeptisch. „Wir sind hier aber richtig", erwiderte ich, mir meiner Sache ganz sicher. „Die Seelenkrieger von früher konnten die Tore zu ihren Verstecken durch irgendeine Magie so tarnen, dass sie aussehen, als wären sie Teil einer Felswand. Außerdem können diese Tore anscheinend von nichts und niemandem geöffnet werden, solange man kein Seelenkrieger ist", erklärte Astrid, die solch ein Bauwerk ja schon von der Insel der Werwolf-Flügler kannte. „Dann ist das wohl mein Stichwort", entgegnete ich und trat zum Tor, wo ich noch ein letztes Mal durchatmete. Vorsichtig löste ich schließlich den Handschuh an meiner Rechten und legte sie auf den kalten Stein des Eingangstors.
Augenblicklich ging ein Ruck durch meinen Körper und das gesamte Umfeld verfärbte sich dunkel, so als wäre fast sämtliches Licht ganz schlicht verschwunden. Vollkommen irritiert blickte ich mich daraufhin um und erkannte, dass bis auf das steinerne Hauptportal des Tempel alles um mich herum verschwunden war. Es fehlte jede Spur von meinen Freunden, dem Rest des Berghangs und sogar der verschneite Boden war einer völlig glatten Fläche aus schwarzem Gestein gewichen. Das Licht, was diesen Ort nun erhellte, hatte scheinbar keine Quelle und leuchtete jeden Bereich gleichermaßen aus, womit ich keinen Schatten warf, was mich doch etwas irritierte. „Hm, ich hatte mich schon gefragt, wann der große Nachtschattenkrieger Rowin mich endlich mit seiner Anwesenheit beehren würde", hörte ich plötzlich eine nie zuvor gehörte Stimme. Ruckartig drehte ich mich um und entdeckte eine in einen weiten, dunklen Umhang gehüllte Gestalt, welche sich auf einen schwarzen Kristallstab gestützt hatte. „Wer seid Ihr?", fragte ich, als ich das Gesicht unter der tief nach unten gezogenen Kapuze nicht erkennen konnte. „Heißt das etwa, dass du mich nicht erkennst? Das ist ja schon fast eine Beleidigung dafür, dass ich einst an deiner Stelle war...", meinte die Gestalt und hob den Kopf, wodurch die Kapuze sein Gesicht nicht länger verdecken konnte. Ungläubig ausatmend starrte ich in das doch etwas ältere, von Narben gezierte Gesicht, aber vor allem auf das linke Auge, oder eher auf die Stelle, wo das linke Auge sein sollte. Denn dort klaffte nur noch eine leere, schwarze Höhle, von der oben und unten eine wohl ehemals vernähte Narbe abging. „Du... Du bist Onyx, der Dämonentöter... der erste Nachtschattenkrieger unseres Volkes...", murmelte ich leise, als ich diese Verletzung erkannte.
„Ja, genau der bin ich... und ganz nebenbei habe ich auch diesen Tempel hier erbaut, als einen Ort des Rückzuges und der Sicherheit, um zwischen meinen Einsätzen wieder zu Kräften zu kommen... Doch frage ich mich nun, warum genau ich dich heute in mein Bauwerk hereinlassen sollte... Was genau lässt dich glauben, du seiest es wert diese heiligen Hallen zu betreten?", fragte Onyx mit dunkler Stimme. „Nun ja, weil... ich ein großer Krieger bin", erwiderte ich zugegeben mehr als nur ein wenig kleinlaut. „Hm, war das eine Frage?", hakte Onyx nach und lächelte scheinheilig. „Nein... ich bin ein großer Krieger, dessen bin ich mir absolut sicher", antwortete ich nun mit etwas mehr Überzeugung. „Tatsächlich? Weißt du, in all den Jahren, die ich im Krieg erlebt habe, habe ich gelernt, dass man nur denen vertrauen kann, die sich im Kampf mehr als nur behaupten können... Einen halberfahrenen Jüngling jedoch kann man für gewöhnlich zu gar nichts gebrauchen", stellte Onyx eiskalt fest und trat einen Schritt auf mich zu. „Was wollt ihr damit sagen?", fragte ich verunsichert zurück und wich meinerseits einen Schritt nach hinten. „Nun, das solltest du eigentlich ganz genau wissen... Rowin", mit dem letzten Wort hatte Onyx seinen Stab auf den Boden aufschlagen. Diese Aktion erzeugte eine starke Druckwelle, die mich einerseits von den Füßen fegte und andererseits mehrere Meter weit zurückschleuderte.
Heidrun:
Erschrocken musste ich mit ansehen, wie Rowin ohne erkennbaren Grund zurückgeschleudert wurde und gut fünf Meter vom Tor entfernt auf dem Boden landete. „Rowin!", rief ich besorgt und eilte zu ihm. „Es geht schon...", meinte mein Freund nur und raffte sich wieder auf, bevor ich mich auch nur zu ihm hinunterbeugen konnte. „Was bei Odin ist denn da eben passiert?", fragte ich noch immer völlig schockiert, wodurch ich kaum mitbekam, wie die anderen ebenfalls zu uns traten. „Ich... Ich habe mit jemandem gesprochen... mit Onyx, dem ersten Nachtschattenkrieger, um genau zu sein... Er war nicht wirklich hilfreich...", antwortete er nur frustriert. „Du meinst den Typen, der vor 400 Jahren gestorben ist? Ganz sicher, dass du dir nicht den Kopf gestoßen hast, als du auf dem Boden aufgekommen bist?", fragte Astrid ungläubig. „Ja... mir geht es gut... nur mein Selbstwertgefühl ist vielleicht etwas angekratzt...", erwiderte Rowin nur. „Aber wie ist das möglich? Du bist in genau der Sekunde weggeflogen, als du das Tor berührt hast, also wie kannst du bitte mit jemandem gesprochen haben?", hakte Aliena misstrauisch nach. „Ich weiß es auch nicht genau... vermutlich läuft das mit der Zeit dort einfach anders...", gab Rowin nur zurück, während er wieder aufstand und zurück zum Tor trat. „Ich versuche es nochmal", meinte er in unsere Richtung und hob seine rechte Hand etwas. „Gut, fang die Sache nochmal ganz neu an", sprach ich ihm ein wenig Mut zu. Langsam legte Rowin seine erhobene Hand auf dem Stein ab, wurde aber in der nächsten Sekunde gleich wieder von den Füßen gerissen. Erneut eilte ich zu ihm und auch dieses Mal hatte er ich wieder aufgerafft, bevor ich mich zu ihm hinunterbeugen konnte. „Verdammt, dieser Typ lässt mich einfach nicht vorbei!", fluchte Rowin, als ich neben ihm stand. „Hey, bleib ganz ruhig. Irgendwie kriegst du das schon hin... Immerhin stehen wir hier ja nicht unter Zeitdruck...", versuchte ich ihn aufzuheitern, als plötzlich der Klang eines Horns ertönte.
„Musstest du das jetzt sagen?", fragte ich gespielt böse und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zu meinem Entsetzen sah ich dort tatsächlich fünf Drachenjägerschiffe in Richtung der Insel fahren. „Woher wissen diese Kerle nur von dem Tempel?", fragte Astrid vollkommen ratlos. „Das können sie nicht, aber es sind zu viele, um sie alle zu bekämpfen, und auf dieser kargen Insel hier gibt es keinen Ort, wo wir uns verstecken könnten... Außer dem Tempel selbst zumindest...", murmelte Rowin und blickte wieder zu dem Tor. „Also gut, dann greifen Astrid und ich mit unseren Drachen die Flotte an, um sie ein wenig aufzuhalten und dir die Zeit zu verschaffen, die du brauchst, um das Tor aufzukriegen", bestimmte ich ungefragt. „Und was soll ich inzwischen machen?", fragte Aliena leicht genervt. „Du bleibst hier für den Fall, dass es doch ein paar Jäger schaffen hierher zu kommen", erklärte ich ihr. „Hm, dann kann ich ihnen so richtig den Hintern aufreizen... Gefällt mir", stimmte Aliena dem Plan zu. „Dachte ich mir... dann wollen wir mal!", meinte ich daraufhin sicher und stieg auf Windfangs Rücken. „Ich bin direkt hinter dir", meinte Astrid, als sie auf Sturmpfeils Rücken kletterte. Lächelnd blickte ich kurz zu ihr hinüber, bevor ich Windfang anwies sich in die Lüfte zu erheben und in Richtung der nahenden Flotte zu fliegen. Mit einem schallenden Brüllen kam mein Mädchen meiner Bitte nach und stürzte sich mit Höchstgeschwindigkeit auf die anfahrenden Schiffe. Es dauerte natürlich nicht lange, bis sie uns entdeckten und ein lautes Drachenreiter über die Decks hallte, woraufhin alle Besatzungsmitglieder sofort auf Verteidigungspositionen gingen.
Trotzdem schaffte Windfang es noch den mittleren Mast des ganz rechten Schiffes ziemlich nah über dem Deck so anzuschießen, dass er genau auf den vorderen Mast stürzte und diesen so mit sich riss. Den letzten Mast zerschnitt mein Mädchen einfach mit ihrem stachelbewehrten Schweif, womit das Schiff nun endgültig manövrierunfähig war. Anschließend drehte sie eine Schleife und zerstörte das Lenkruder des Schiffes ganz rechts mit einem gezielten Feuerstoß. Ein Seitenblick verriet mir, dass Sturmpfeil und Astrid währenddessen das Schiff ganz im Zentrum der keilförmigen Formation mit einem Feuerstrahl in Brand gesteckt hatten. Trotzdem konnte das nicht verhindern, dass das Schiff zusammen mit den beiden noch Intakten das Ufer erreichte und die Drachenjäger an Land eilten. Ich wollte Windfang schon anweisen, dass sich um diese kümmern sollte, als die Schiffe auch schon das Feuer eröffneten und uns sowie Sturmpfeil zum Abdrehen zwangen. Über stumme Kommunikation machte ich mit Astrid aus, dass wir uns die die Jäger im Inland der Insel vornehmen würden, da sie dort natürlich keine schwere Artillerie zur Verstärkung hatten. An sich verlief dieser Plan auch recht erfolgreich, bis ich schließlich einen Blick zu dem Gebirgspfad, der zum Tempel führen musste, wagte und dort zu meinen Erschrecken drei in schwarz gehüllte Gestalten entdeckte. Sie liefen direkt in Richtung des Eingangsportals des Tempel und waren bereits so weit weg, dass weder Windfang noch Sturmpfeil sie rechtzeitig erreichen würden. „Rowin... nein...", murmelte ich der Verzweiflung nahe, „Aliena... bitte halt sie auf..."
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