10🐉
» Jungkook «
Seine Brust bewegte sich in langen, kräftigen Zügen auf und ab, sein schwerer Atem war in diesem Abstand deutlich zu hören.
Mein Herz schien im Rhythmus zu seinem Atem zu schlagen. Als wären wir ein und dieselbe Person.
Meine Finger an seine Wangen machten sich selbstständig. Sie begannen über seine Haut zu fahren. Die Weichheit, die mich empfing, motivierte mich fortzufahren.
Er ließ mich nicht aus den Augen.
Ich legte den Kopf schief und strich weiter über sein Gesicht. Mir war dabei in keiner Weise bewusst, was ich in diesem Moment tat. Ich bekam mit, wie ich mich bewegte. Wie meine Handflächen sich an seine Backen gelegt hatten und was ich unter ihnen spürte. Aber die wirkliche Bedeutung und das Ergebnis meiner Handlung wollte nicht in mein Bewusstsein eindringen.
Ein nebliger Schleier lag über meinen Sinnen und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde dichter, was es unmöglich machte, mich selbst von dieser Kraft zu befreien, die mich fest in ihren Bann hatte.
Doch dann ging etwas durch den Kronprinzen durch.
Ehe ich mich versah, stand ich nicht mehr direkt vor ihm, sondern befand mich am Boden.
Ich blinzelte einige Male geistesabwesend und hob mein Kinn träge hoch, um hinaufzugucken.
Sein Kiefer war angespannt. In seinem Blick lauerte etwas, das am besten mit Terror und Panik zu vergleichen war, während seine generelle Miene nicht viel mehr Ausdruck als sonst zeigte. Die eisige Atmosphäre und die Düsternis in seinen Augen von soeben war mit einem Mal verschwunden. Ersetzt von diesen neuen Emotionen, die ich noch nicht an ihm gesehen hatte.
Und obwohl Terror als auch Panik keine positiven Gefühlsregungen waren, hatten sie etwas...Menschliches. Sie zeigten mir, dass, was auch immer vorhin vorgefallen war, vorbei war.
Er wandte sich schnell ab und lief von mir weg.
Ohne meinen Blick ihm folgen zu lassen, wusste ich, dass er aus meinen Gemächern gestürmt war, nachdem ich das krachende Aufzerren der Türen hörte.
Kaum wurde ich allein gelassen, nicht einmal ein vollständiger Gedanke schaffte es, sich in meinem Verstand zu manifestieren, als polternde, gehetzte Schritte näherkamen.
„Hyung...!", schrie Beomgyu hysterisch auf.
Er und Soobin waren in den Pavillon hineingestürmt und hatte mich am Boden entdeckt.
Soobin kniete sich zu mir herunter. „Was ist passiert?"
Sie schauten sich das Chaos an.
Ich runzelte die Stirn und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, die sich verirrt hatte. „Ich...weiß es nicht. Er ist plötzlich... Ich weiß es nicht..."
„Soobin, seine Hände...!" Beomgyu wies auf meine Hände hin.
Soobin folgte seinem Finger zu meinen Händen. Als er sie beide an sich heranzog, kräuselten sich seine Brauen. „Hyung, deine Hände bluten!"
Ich schaute auf sie herab und stellte erstaunt fest, dass meine Handflächen tatsächlich bluteten. Es waren keine großen Verletzungen, aber dennoch trat Blut aus den wenigen Schnittwunden, die über meine beiden Hände verteilt waren. Neben der roten Flüssigkeit klebten auch Reste des Frühstücks an meinen Händen, was den Anblick verschlimmerte.
Als der Prinz mich weggeschlagen hatte, musste ich wohl in die Scherben gefallen sein und hatte mich an ihnen geschnitten, ohne es zu merken.
Erst jetzt, wo die beiden mich daraufhin wiesen, nahm ich das Brennen der Wunden allmählich wahr.
„Komm, ich helfe dir hoch, Hyung." Soobin hakte sich bei mir herunter und stützte mich, sodass ich wieder zu Füßen kam. Daraufhin setzte er mich auf den Stuhl, der von den drei Stühlen nicht umgefallen oder zerstört wurde.
In der Zwischenzeit eilte Beomgyu in eine andere Ecke des Gebäudes und kam mit einem Besen wieder, um den Dreck am Boden sauber zu machen. Soobin holte dann ein kleines Holzkästchen herbei, das sich in einer der Schubladen der Kommode befunden hatte, und wollte sie auf den Tisch stellen. Allerdings knirschte dieser unter dem Gesicht und krachte ein.
Soobin schaffte es noch gerade so, das Kästchen wieder hochzuheben, bevor auch diese fiel.
Er guckte mit großen Augen zu mir.
Ich erwiderte seinen Blick gequält.
Der Tisch war hinüber. Der Kronprinz hatte ihn mit seiner Kraft unbrauchbar gemacht, und nun, wo Soobin etwas hinaufgelegt hatte, hatte der Tisch komplett seinen Nutzen verloren.
Soobin lachte ein wenig verlegen und legte das Kästchen stattdessen in seinen Schoß, aus welcher er Verbandzeug herausholte, um meine Wunden zu behandeln.
Während das Blut gesäubert und gestoppt wurde, Beomgyu entsorgte das zerbrochene Geschrirr und die Essensreste, wanderten meine Gedanken stets zu Kim Taehyung. Es war so gut gelaufen. Warum war er plötzlich so zornig geworden. Wann hatte sich die Stimmung verändert?
Ich überlegte. Und dann fiel mir die Teekanne ein. Es war der Zeitpunkt gewesen, in dem ich mich ungeschickt an der Kanne verbrannt hatte, wobei man es nicht ganz verbrennen nennen konnte. Ich war einfach nur von der Hitze überrumpelt worden.
Zweifel kamen in mir hoch.
Was war danach passiert?
Seine Stimmung hatte eine hundertachtzig Grad Wendung gemacht, und er hatte den ganzen Tisch leergefegt.
Ich verzog stutzig das Gesicht. Konnte das wirklich der Zusammenhang sein? Gab es nicht doch einen ersichtlicheren Grund als diesen? Warum sollte er meinetwegen auf einmal so unruhig werden? So dermaßen unruhig, dass er ausgesehen hatte, als würde er den ganzen Pavillon herunterreißen wollen?
Auf meiner Stirn bildeten sich immer mehr Falten. Genauso wie mehr Fragen in meinem Kopf entstanden.
Soobin, der mit meiner linken Hand fertig war und bei meiner rechten Hand weitermachen wollte, bemerkte meine Quälerei. „Hyung?"
Ich zuckte zusammen, aus meinem Grübeln herausgerissen.
„Ist alles in Ordnung?", fragte nun auch Beomgyu besorgt.
Ich entzog meine Hände und erhob mich ruckartig, woraufhin Soobin überrascht zu mir hochschaute. „Ich muss zu ihm."
„Hyung! Zu wem?", rief er irritiert.
Ich war bereits mit einem Beim draußen, als ich meinen Hals nach hinten reckte und erwiderte: „Zum Kronprinzen."
„Was?? Nachdem er so...ausgerastet ist?" Verständnislosigkeit verfinsterte Beomgyus Gesicht.
„Ja... Es fühlt sich nicht richtig an, die Sache so auf sich beruhen zu lassen."
„Was ist, wenn er wieder handgreiflich wird?", wandte der Größere von ihnen ein.
Beomgyu nickte zustimmend. „Was, wenn es...noch schlimmer endet?"
Ich schüttelte betroffen den Kopf und entgegnete ungeduldig: „Ich muss trotzdem zu ihm...!"
„Hyuuung! Deine rechte Hand ist noch nicht fertig verbunden!", hörte ich noch Soobin hinter mir herrufen, doch ich war schon aus dem Pavillon gejagt und stürmte in die Richtung meines Ziels.
Der Weg war mir mittlerweile derartig vertraut, dass ich mit verschlossenen Augen auch in den Bereich des Kronprinzen gefunden hätte.
Es war gerade einmal mittags, aber dennoch wirkte der Himmel über mir dunkel und düster. Dichte, dunkelgraue Wolken hatten sich angesammelt und sich wie eine unheimliche Decke über das Anwesen gelegt. Vorhin, als der Prinz erst bei mir angekommen war, hatte die Sonne noch am wolkenlosen, strahlend blauen Himmel geschienen, doch nun sah es so aus, als würde uns ein großes Gewitter bevorstehen.
Vor dem Pavillon des Thronfolgers angekommen, machte ich mir nicht einmal die Mühe, anzuklopfen. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass ich ihn im Inneren vorfinden würde.
Ich riss die Türen auf und rechnete mit demselben ordentlichen, hellen Zimmer, das ich letzte Nacht angetroffen hatte, als ich ihn gesucht hatte. Allerdings wurde ich stattdessen von dunklen, verwüsteten Räumlichkeiten empfangen.
Durch das düstere Wetter drang kaum Licht ins Innere. Aber nicht nur das hatte die Helligkeit hier genommen, sondern auch der Schatten unter der Figur, die in der Mitte des Zimmers am Boden zwischen den umgeworfenen Kerzenständern, Stühlen, Tischen und anderen Möbeln, die ich nicht mehr welche identifizieren konnte, kniete.
Nur wo Licht existierte, konnte es Schatten geben.
In den Pavillon strömte kaum Tageslicht hinein. Nichtsdestotrotz nahm der Schatten des Prinzen beinahe jede Ecke des Raumes ein. Er erstreckte sich über den Boden und die Wände, umhüllte das Gebäude in Dunkelheit.
Mein Verstand schaffte es nicht, dieses Phänomen zu erklären. Nichts spielte hier nach den Regeln der Physik.
„Eure H- Taehyung?", hauchte ich ihm seinen Namen entgegen.
Seine knieende Statur war ein wenig in sich verfallen. Seine Schultern hingen herunter, der Kopf Richtung Brust heruntergekippt und die Arme hingen schlaff an den Seiten herunter. Er saß seitlich zum Eingang, durch den ich gekommen war.
Als meine Stimme ihn erreichte, hob er träge den Kopf.
In genau demselben Moment leuchtete ein greller Blitz neben ihm durch das Fenster zu seiner rechten Seite auf, das das Zimmer und sein Gesicht kurzzeitig erhellte. Der Donner folgte kurz darauf.
Meine Augen weiteten sich bestürzt, als ich auf seine traf.
Sie waren nicht wie immer unnatürlich dunkel, dass die Iris beinahe mit der Pupille verschmolz. Im Gegenteil, sie strahlten golden. Wie flüssiges Gold, das von einem feinen, schwarzen Rand umhüllt war.
Ich hörte auf zu atmen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Mein Mund stand leicht offen, während ich in diese goldenen Juwelen blickte.
Ein zweiter Blitz- und Donnerschlag erschienen.
Unter seinen goldenen Augen, die mich an etwas erinnerten, das zum Greifen nah war, aber dennoch nicht benannt werden konnte, wie ein Beigeschmack, der nicht zu beschreiben war, sammelte sich eine Flüssigkeit, die langsam auf beiden Seiten ihren Weg nach unten bahnte.
Es waren Tränen.
Aber diese Tränen waren schwarz wie schwarze Tinte.
Er weinte.
Jedoch nicht geräuschlos wie in der Nacht am See.
Leise, aber schmerzvoll anzuhörende Schluchzer erfüllten den Raum. So tief wie das Grollen eines mächtigen Gottes und gleichzeitig so hoch wie das Singen einer lieblichen Nymphe.
Wie von einer fremden Kraft angezogen, machten sich meine Füße selbstständig und trugen mich in die Raummitte zu ihm.
Ich sank vor ihm auf die Knie und sah ihn an. „Taehyung..."
Er blinzelte die schwarzen Tränen aus seinen Augen und schaute mich gequält an. Der traurige, deprimierte Ausdruck sprach Bände voller Leid und Schmerz, dass es mir selbst in der Seele wehtat, obwohl ich noch nicht verstand, weshalb er so aufgelöst war.
Für eine ganze Weile saßen wir dicht beieinander und starrten uns einander an, während das Gewitter draußen seinen Höhepunkt erreichte. Nun hörte man auch das starke Prasseln des Regens auf das Dach des Gebäudes.
Schließlich war er es, der unerwarteterweise begann zu sprechen: „Ich kann das nicht mehr."
Seine Stimme klang so monoton und gefühlslos, doch hinter diesen Worten verbarg sich etwas, was spürbar schmerzvoll und einsam war.
„Jeder will mich sterben sehen. Niemand sieht nach mir. Wie lange soll ich noch hier eingesperrt sein? Warum muss ich das Monster sein? Habe ich mir das ausgesucht?" Er schüttelte immerzu den Kopf und schien die Antworten verzweifelt bei mir zu suchen.
In diesem Moment sah er aus wie ein Kind, das sich nach Nähe und Liebe sehnte. Ausgesetzt und alleingelassen.
Doch dann veränderte sich seine Miene zu einem wehmütigen, abwesenden Ausdruck, der ihn wieder älter und weiser wirken ließ. „Die Götter sind so grausam. Die Menschen sind es noch mehr."
Ich verstand seine Aussage nicht, wurde nicht schlau aus diesem Parallelismus, den er zwischen Göttern und Menschen gebildet hatte. Und um ehrlich zu sein, hatte ich meine Aufmerksamkeit auch nicht unbedingt auf die Interpretation gesetzt.
Was ich jedoch verstand, war, dass er einsam war.
Ich wusste nicht, was das für ein Fluch war, der auf ihn lastete, der ihm diese körperlichen Merkmale, düstere Erscheinen und unberechenbare Persönlichkeit, die zwischen mehreren Extremen zu schwanken schien, verlieh, aber ich wollte ihm helfen. Auch, wenn das bedeutete, lediglich an seiner Seite zu bleiben.
Wir waren ohnehin offiziell verheiratet.
Wenngleich wir beide Männer waren.
Wie könnte Sexualität noch irgendwie von Bedeutung sein, wenn die Situation schon so war.
Mein Blick fuhr von seinen strahlend goldenen Augen herunter zu dem Drachenmal, weiter zu seinem Schüsselbein und seiner Schulter, die von dem heruntergerutschten Gewand entblößt waren, bis hin zu seinen Händen, die stellenweise mit schwarzen, kleinen, blockartig aneinandergereihten Schriftzeichen bedeckt waren.
Anschließend fing ich seinen Blick wieder auf und formte mit meinen Lippen ein aufmunterndes Lächeln, das von Herzen kam, das ihn einen überraschten Funken in die Augen zauberte.
Meine Hände wanderten zu seinem Gesicht, bis sie es umfassten. Mit den Daumen wischte ich die schwarzen Tränen fort, wischte dabei über das Drachenmal, das unter meiner Berührung zu glühen schien. „Ich bin für dich da. Ich bleibe bei dir. Solange wir verheiratet sind, solange ich noch atme, werde ich an deiner Seite bleiben. Du bist nicht mehr allein, Taehyung."
Seine emotionslose Miene zerbrach. Die Brauen sanken in sich zusammen, seine Lippen pressten sich aufeinander. Mehr Tränen suchten ihren Weg ins Freie, als wäre ein Damm eingebrochen.
Bei diesem Anblick konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich nahm meine Hände von seinem Gesicht und legte meine Arme um seinen Körper, bevor ich ihn sachte an meinen eigenen zog. Er blieb völlig locker und schlaff und ließ es sich über sich ergehen. Wie ein beschütztes Kind lag er in meinen Armen und schluchzte in meine Schulter, wo der Stoff meines weißen Gewands in seinen schwarzen Tränen getränkt wurde.
Draußen zog das Gewitter allmählich vorbei, bis nichts mehr von dem Sturm zu hören war und der Raum von dem Sonnenlicht durchflutet wurde.
In dem Moment realisierte ich, an was mich seine goldenen Augen erinnert hatten.
An einen echten Drachen.
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