
Kapitel 26: Eine unmögliche Entscheidung
Hicks
Mit Muskeln wie Gummi kletterte ich das Seil wieder hoch, ein Kraftakt, der sich anfühlte wie eine mehrstündige Bergbesteigung. Oben ließ ich mich ausgelaugt auf alle Viere fallen. Was zur Hel war da eben passiert? Ich hatte entlang der Inschrift gestrichen und dann... Bei der Erinnerung an die misstönenden Stimmen kam mir die Galle hoch. Gerade noch rechtzeitig stand ich auf, bevor ich mich auf den Waldboden übergab, wieder und wieder.
Als es mir einigermaßen besser ging, kurz: als ich wieder gehen konnte, ohne dass Lawinen von Übelkeit auf mich zurollten, bewegte ich mich taumelnd zum Weiher, wobei ich mich mehrmals an Bäumen abstützen musste. Was auch immer da geschehen war, es hatte heftige Auswirkungen hinterlassen. An meinem Ziel angekommen, schöpfte ich mir eine Handvoll glasklares, eisiges Wasser daraus und säuberte mein Gesicht. Mitsamt dem Erbrochenen wusch ich auch den Schwindel davon, bis ich wieder gehen konnte, ohne zu stolpern.
Auf dem Rückweg zur Hütte betrachtete ich die Flasche, die ich hinter dem Spiegel gefunden hatte. Glatt und kühl lag sie in meiner Hand, die Flüssigkeit im Inneren sah im Dunkel der Nacht wie Tinte aus. Ein Stopfen aus Wachs verschloß das Fläschchen, darauf prangte das Symbol des Nachtschattens. Was das wohl darauf zu suchen hatte? Möglicherweise hing es mit dem Nachtschatten zusammen, den der Spiegel mir gezeigt hatte.
Plötzlich riss die Wolkendecke auf. Über mir zeigte sich ein blutroter Mond in seiner vollen Pracht. Grobian erzählte bei jeder Gelegenheit, dass bei einem Blutmond der Wolf des Hasses den Mond verschlang. Er war ein schlechtes Omen, genauso wie Nordlichter, und stand für Krieg. Ein ungutes Gefühl überkam mich.
Panisch begann ich zu rennen, ohne überhaupt zu wissen, wo mein Unbehagen herkam. Zweige peitschten mir ins Gesicht, ich stolperte über am Boden liegende Äste. Mein Atem ging so schnell wie noch nie, die kalte Luft schmerzte in meinen Lungen, doch ich rannte weiter, bis ich vor unseren Hütten zum Stehen kam. Alles schien ganz normal, bis auf den rostroten Mond am Himmel und den Geruch von Gefahr in den Luft.
Meine Schritte donnerten auf dem hölzernen Steg. Ich riss die Tür zum Clubhaus auf - und fand es leer vor. Was hatte ich auch erwartet, es war mitten in der Nacht. Wahrscheinlich schliefen alle, nur ich jagte mal wieder einem Hirngespinst nach. Trotzdem, ich konnte meine Angst einfach nicht abschütteln. Ich rannte weiter, zu Astrids Hütte. Stille. Vorsichtig schlich ich zu ihrem Bett. Es war verlassen. Mit rasendem Herzen eilte ich zu Fischbein. Ebenfalls niemand da. Genauso wie bei Rotzbacke und den Zwillingen. Wo waren alle? Was bei Thor war hier geschehen? Sie waren doch nicht...
"Leute!", rief ich so laut ich konnte, "Leute! WO SEID IHR?"
Warum antwortete mir keiner? Warum? Was war geschehen, wo waren sie, waren sie in Gefahr? Mir die Kehle heiser brüllend drehte ich mich herum, suchte an allen denkbaren und nicht denkbaren Orten, im Stall, am Strand, in der Wildschweingrube, in der Höhle der Nachtschrecken. Nach einer Stunde gab ich auf. Wo auch immer sie waren, auf der Drachenklippe waren sie nicht. Selbst von den Drachen war keine Spur, sogar Ohnezahn war verschwunden.
Völlig entkräftet von den Strapazen dieser nicht zu enden wollenden Nacht gelangte ich in meine Hütte, wo mir sofort eine geisterbleiche Pergamentrolle ins Auge sprang. In meinem Hals bildete sich ein Kloß, der mir die Luft abschnürte. Mit zitternden Finger kniete ich mich hin und öffnete sie.
Hicks, dieses Spiel ist weit genug gegangen. Du nimmst mir, was mir am wichtigsten ist? Schön, dann tue ich dasselbe mit dir. Wenn du deine Freunde wiedersehen willst, dann komm vor Sonnenaufgang auf meine Insel. Viggo.
Schwindel erfasste mich. Viggo hatte meine Freunde entführt, um sich an Romis Seitenwechsel zu rächen. Und er würde sie umbringen, wenn ich mich nicht selbst auslieferte. Was ich machen würde, war klar. Jetzt war nicht die Zeit für langes Überlegen. Ich musste handeln.
Hätte ich doch nur schnell genug reagiert! Ich hätte doch wissen müssen, dass Viggo vor Wut kochte. Nun gab er mir die Schuld daran, dass Romi zu uns hielt. Verdammt, wie sollte ich überhaupt zur Jägerinsel kommen? Alle unsere Drachen waren weg und das Segel unseres einzigen Bootes war so löchrig wie eine Insel voller Flüsternder Tode.
Denk nach, Hicks, denk nach!
Was gab es auf der Insel? Bäume, Klippen - sie hieß ja schließlich Drachenklippe - moment, Drachen! Natürlich, es gab Horden von frei lebenden Drachen auf der Insel, die meisten von ihnen sogar einigermaßen zahm. Ich musste mich nur beeilen, ein Flug zu der Jägerinsel dauerte zwei Stunden und in fast drei Stunden ging die Sonne auf. Wenn ich schnell war und Romis Karte von der Insel richtig im Kopf hatte, dann konnte ich sie schon vorher befreien. Wenn nicht... dann standen meine Überlebenschancen nicht sehr gut.
Ohne Frage würde Viggo seinen Zorn an mir auslassen. Ich behauptete nicht, dass ich mich nicht fürchtete, doch die Angst um meine Freunde wog schwerer. Was auch passierte, ich musste sie retten. Auf die eine oder die andere Art. Wer weiß, was Viggo ihnen antat, während ich nach einem Drachen suchte.
Beeil dich!
Es schien, als hätte mein Glück mich verlassen, wenn ich überhaupt je welches gehabt hatte. Hundert Drachen auf dieser Insel und keiner, der mir über den Weg lief. Das war ja mal wieder typisch. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte ich gelacht. Nur leider hatte sich mein Humor in dem Moment verflüchtigt, als ich die Viggos Brief auf dem Fußboden entdeckt hatte.
Nach einer guten halben Stunde traf ich per Zufall doch noch auf einen Drachen, ein athletischer männlicher Nadder. Mit ihm würde ich den Flug unter den zwei Stunden schaffen, die man normalerweise dafür benötigte. Dann blieben mir noch ungefähr 20 Minuten, um nach meinen Freunden zu suchen. Im Handumdrehen hatte ich ihn gezähmt, ein Nadder bot mir schon lange kein Problem mehr. Es tat mir leid, dass er wahrscheinlich von den Jägern gefangen werden würde, aber ich musste meine Freunde retten. Außerdem erschien er mir intelligent genug, von der Insel runter zu kommen.
Der Flug wäre ruhig verlaufen, wären nicht meine unablässig kreisenden Gedanken gewesen. Wie ging es meinen Freunden? Würde ich sie vorher retten können? Und was, wenn nicht? So viele Fragen und viel zu wenige Antworten. Alles schien auf den Kopf gestellt. Wenn man sich noch vorstellte, dass ich vor einigen Stunden über Taffs Wortkreationen gelacht hatte... So schnell konnte sich das Leben ändern. Egal, was jetzt geschah, nichts mehr würde sein wie zuvor.
Falls ich meine Freunde befreien konnte, mussten wir wohl oder übel auf Berk untertauchen, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Wir würden unsere Basis aufgeben müssen, genau das, was ich befürchtet hatte. Dann konnte Viggo sie an sich reißen und von dort aus Berk angreifen. Hätten wir uns nur stiller verhalten, weniger auf Konfrontation gesetzt! Aber hinterher ist man immer klüger. Und falls ich scheiterte, was würde dann geschehen? Was würde Viggo mit mir machen? Er war nicht der Typ für körperliche Brutalitäten, doch in seinem Zorn wäre er zu allem fähig. Und selbst wenn, was ich viel mehr fürchtete, waren seine Psychospiele, diese geistige Folter, die er perfekt beherrschte. Er würde mich in den Wahnsinn treiben, alles vernichten, was mich ausmachte. Und falls er sich einigermaßen abreagiert hatte und ich dann noch am Leben war, würde er mich als Geisel benutzen, um meinen Vater und meine Freunde zu erpressen. Sie würden alles tun, was er von ihnen verlangte. Da wäre es besser, ich würde in der Gefangenschaft sterben.
Aber was würde mit den anderen geschehen? Mit Ohnezahn, dem Team, meinem Vater, Romi? Sie würden versuchen, mich zu befreien, genauso wie ich es bei ihnen versuchte. Alleine würden sie es bestimmt nicht schaffen, es würde eine Schlacht geben, denn Viggo würde sicher nicht kampflos aufgeben. Viele Menschen würden fallen, darunter Leute, die ich kannte. Egal wie man es drehte und wendete, es war hoffnungslos. Wie hatte es nur so weit kommen können? Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht, noch mal von vorne angefangen, einen besseren Weg gefunden. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Nach zwei Stunden landete ich in der versteckten Bucht, die Romi uns gezeigt hatte und die wir auch beim letzten Angriff angeflogen hatten. Der Granatenfeuerdrache war weg, die Probleme hatten sich damit allerdings nicht verkleinert. Im Gegenteil, sie waren immer weiter angewachsen und wie wir sie lösen sollten, war mir schleierhaft. Doch eins nach dem anderen.
Irgendwo hier war der Eingang zu den Gefängnissen. Romi hatte mich über diesen Weg befreit, damals als ich sie noch für Heidrun gehalten hatte und gestern - eigentlich schon vorgestern - hatten wir den gleichen Weg genutzt, um Fischbein wieder herauszuholen. Diesmal war es kein Trick, es war echt und es lag an mir, alle meine Freunde zu befreien.
Dunkle Schatten leckten über den Waldboden, ein Teppich aus Kiefernnadeln dämpfte meine Schritte. Bedrohlich ragten die Nadelbäume über mir auf, ein Heer von dürren, schwarzen Riesen. Das rötliche Licht des Mondes ließ ihre Umrisse düster glühen. Und überall diese Angst um meine Freunde. Sie lauerte außerhalb meines Blickfeldes, machte das Atmen schwer, wartete darauf, mich blitzartig zu überfallen. Je weiter ich in den Wald eindrang, desto finsterer wurde es und bald war mein Feuerschwert die einzige Lichtquelle. Orientierungslos strich ich zwischen den Bäumen umher. Immer wieder glaubte ich, ein Rascheln zu hören.
Vielleicht war das alles nicht wirklich, nur ein Traum, verursacht von dem Spiegel. Vielleicht war auch das nicht wirklich, vielleicht war ich immer noch 15 Jahre alt und wartete darauf, einen Drachen zu erlegen. Vielleicht drehte ich auch langsam durch.
Ohne jede Vorwarnung schoss etwas hinter einem Baumstamm hervor. Ich wich aus, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein goldener Nebel die Nadeln hinter mir zischend verglühen ließ, dicht gefolgt von einem silbernen Strahl, der die übrig gebliebene Asche mit einer Frostschicht überzog.
"Halt!", rief ich abwehrend, "Ich bin's, Sternenwind!"
Misstrauisch trat die Drachin aus dem Schatten heraus. Die golden und silbern funkelnden Tupfen in ihrem Rückenfell leuchteten im Dunkel der Nacht nur umso mehr. Drohend bäumte sich ihr Kopf auf. Ein schriller Pfeifton vervollständigte ihre angriffslustige Erscheinung.
"Hey, alles gut", redete ich beruhigend auf sie ein, "Ich bin es doch, Hicks. Wir stehen auf derselben Seite. Du willst auch Romi befreien, nicht wahr? Wahrscheinlich kommst du nicht zu ihr hin, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir zusammenarbeiten? Du führst mich zu ihr und ich hole sie raus." Mit schiefgelegtem Kopf musterte sie mich, so als müsste sie erst noch entscheiden, ob ich ihrer Hilfe würdig war und bevor ich reagieren konnte, preschte sie davon.
"Warte! Hey! Wohin willst du?"
Dafür, dass sie nur auf ihren Flügeln lief, war sie erstaunlich schnell und ausdauernd. Meine Kondition war nicht gerade die schlechteste, dafür musste ich zu oft vor Drachenjägern davonlaufen, doch schon nach kurzer Zeit gelangte ich aus der Puste. Den Weg einprägen konnte ich mir so nicht, aber da ich mich sowieso hoffnungslos verlaufen hatte, spielte das keine Rolle. Erst als Sternenwind vor einer Höhle stehenblieb, wurde mir klar, worauf sie hinauswollte.
"Keine Sorge, ich rette deine Freundin. Pass nur auf, dass du nicht geschnappt wirst."
Hohl surrend gab sie mir zu verstehen, dass sie auf keinen Fall so unvorsichtig sein und sich einfangen lassen würde. Ein letzter durchdringender Blick, dann verschwand sie aus meinem Blickfeld und ich stand allein vor dem Höhleneingang. Finster gähnte es vor mir, wie die Mundhöhle eines Tieres, das nur darauf wartete, mich zu verschlingen. Augen zu und durch.
Kleine Wassertropfen an den Wänden brachen das Licht meines Schwertes. Der Geruch von feuchtem Moos erfüllte die Luft. Jeder meiner Schritte hallte endlos in dem langen Tunnel. Es erinnerte mich auf ungute Weise an die Grotte, in der ich die Flasche mit dem Trank gefunden hatte. Die Flasche, die ich immer noch so fest umklammert in der Hand hielt, als hinge mein Leben davon ab. Vorsichtig bewegte ich meine steifen Finger. Sie ließen sich kaum öffnen.
Zur Hel mit der Flasche, ich musste meine Freunde finden! Ich musste sie finden, ich musste...
"Hicks?"
Erschrocken drehte ich mich herum. Zu meiner Rechten zweigte ein weiterer Weg von dem Tunnel ab, der in den Gefängnistrakt führte. Hätte die Person mich nicht gerufen, wäre ich wahrscheinlich an ihm vorbeigelaufen, ohne es zu merken. Hastig verließ ich meinen ursprünglichen Weg und rannte den Stollen entlang, bis ich vor einer dicken, hölzernen, mit Eisen beschlagenen Tür zum Stehen kam.
"Leute?", fragte ich kaum vernehmbar. Ich wollte es vermeiden, Aufsehen zu erregen, das hätte jede Flucht vereitelt.
"Nein, nur Romi."
"Was machst du hier?"
"Viggo hat mich eingesperrt", erklärte sie tonlos. Erschöpfung und Resignation sprachen aus ihrer Stimme, hinter ihnen versteckt brodelte die Verbitterung über das Zerwürfnis mit ihrem Bruder, das sich wohl in den letzten paar Stunden ereignet haben musste.
"Ich hole dich hier raus. Geh am besten von der Tür weg", warnte ich vorsorglich.
Giftgrün waberte das Zippergas um die Pforte herum. Ein Funke und alles flog in die Luft. Quälend langsam legte sich der Rauch, vermischte sich mit einigen hartnäckigen Überbleibseln des Zippergases. Die Mischung besaß eine ekelerregende Farbe und verbreitete einen stechenden Geruch, doch immerhin konnte ich Romi erkennen.
Sie sah genau so aus, wie sie geklungen hatte. Blut klebte an ihren Fingerknöcheln, vom Trommeln gegen die verschlossene Tür. Ihre Haare standen wild in alle Richtungen ab und sie saß in sich zusammengesunken auf einem der drei Betten. Tränenspuren zogen sich über ihr Gesicht. Nur in ihren Augen brannte noch der Kampfeswillen, ein stahlblaues Feuer, heiß und zerstörerisch.
"Was machst du eigentlich hier?"
"Dich retten. Euch alle retten."
"Uns alle? Heißt das, er hat..." Sie ballte die Fäuste. "Lass mich mitkommen. Ich mache ihn fertig."
"Nein!"
"Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun oder lassen soll. Niemand kann das mehr. Ich gehöre weder zu euch noch zu Viggo. Ich kann und werde tun, was ich will."
"Ich wollte dir ja auch nichts vorschreiben! Ich wollte dir lediglich sagen, dass du nicht in der Lage bist, mitzukommen. Du bist völlig erschöpft, nachher wirst du verletzt. Sternenwind wartet im Wald auf dich, flieg mit ihr zur Drachenbasis."
"Aber ich muss mitkommen! Ich muss!"
"Rache ist nie gut."
"Wer sagt das? Würde es dich etwa nicht freuen, wenn Viggo weg wäre?" Viggo. Nicht "mein Bruder".
"Wenn es auf diese Art passiert, nicht. Du würdest dadurch nur dir selbst wehtun. Und sieh dich doch mal an! Du kannst froh sein, heil von der Insel zu gelangen. In einem Kampf gegen Viggo hättest du keine Chance, schon gar nicht in dieser Verfassung. Und dann sind da auch noch Reiker und Krogan. Was willst du mit ihnen machen, sie wegwünschen?"
"Und du? Wie willst du sie besiegen? Du bist auch nicht ausgeruhter als ich."
"Wer sagt, dass ich gegen sie kämpfen will? Ich will nur unsere Freunde befreien. Wie das geschieht, spielt keine Rolle." Scharf sog sie die Luft ein.
"Du willst dich ausliefern?"
"Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, ja."
"Aber..."
"Ich weiß. Und deswegen brauche ich dich. Wenn das schiefgeht und er die Anderen nicht freilässt, dann musst du Verstärkung holen und die Aufgabe übernehmen. Dann bist du die einzige, die das hier noch zum Guten wenden kann. Deswegen kannst du nicht mitkommen." Sie atmete hörbar aus.
"Schön. Aber erwarte nicht von mir, dass ich dein Vorhaben gut finde. Das ist nämlich kein Plan, sondern ein Selbstmordkommando."
"Ich weiß, aber es gibt keine andere Lösung."
"Also gut. Die Anderen sind vermutlich in der Arena. Lauf einfach geradeaus, bis zu der hölzernen Abstützung. Dann rechts. Der Tunnel gabelt sich, nimm den, der nach oben verläuft."
"Danke. Wir sehen uns dann später." Hoffentlich.
Ohne Romis Wegbeschreibung wäre ich noch Jahre in diesem Labyrinth herumgeirrt. Durch ihre Hilfe gelangte ich allerdings sicher und unbehelligt bis zu dem Tor zur Arena. Entschlossenheit durchströmte mich, jede Faser meines Körpers vibrierte vor Adrenalin. Ich hatte eine Chance.
Nicht nachdenken. Nicht daran denken, dass ich wahrscheinlich nur das tat, was Viggo wollte. Nicht daran denken, dass meine einzige Chance, meine Freunde zu retten, darin bestand, Viggos Zorn auf mich zu lenken. Nicht daran denken, dass auch das vermutlich nicht funktionieren würde. Einfach - nicht - nachdenken.
Ich trat durch das Tor. Stille. Kein johlendes Publikum, keine bewaffneten Drachenjäger zur Begrüßung. Nicht einmal meine Freunde. Nur Viggo zwei Meter über mir in einer Empore.
"Das reicht jetzt, Viggo! Rück meine Freunde raus!"
"Ach ja? Und mit welchem Recht?"
Romis Verrat musste ihm mehr zugesetzt als gedacht. Er klang völlig verändert, Hass und ein Hauch von Wahnsinn lagen in seiner Stimme. Mit ihm würde genauso wenig zu verhandeln sein wie mit einem in die Ecke gedrängten Tier.
"Weil das eine Sache zwischen uns ist. Zieh sie da nicht mit rein."
"Ich soll andere nicht mit hineinziehen? Und was ist mit dir? Glaubst du, du bist darüber erhaben? Der große, friedensstiftende Drachenreiter? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, was du anrichtest, als du Romi auf deine Seite gezogen hast?"
"Es war allein ihre Entscheidung! Und dass sie dir nicht mehr vertraut, kannst du dir selbst zuschreiben. Allein du hast uns in diese Lage gebracht, weil du nur an dich denkst! Romi ist dir doch egal!"
"Romi ist mir egal? Romi ist mir egal? Du hast keine Ahnung, was du da behauptest. Du bist nur ein kleiner Junge, der sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen. Du versteckst dich hinter deinen Freunden und deinem Vater, weil du Angst hast, eine falsche Entscheidung zu treffen. Aber was ist, wenn du mal selbst entscheiden musst? Was passiert dann? Wollen wir es herausfinden?"
Knirschend schabten die Flügel eines gewaltigen Gatters über den staubigen Boden. Würde er einen Drachen auf mich loslassen? Einen, den ich nicht zähmen konnte, damit ich mich zwischen ihm und mir entscheiden musste? Weit gefehlt. Das, was das Tor offenbarte, war noch viel schrecklicher. Hatte Viggo das mit entscheiden gemeint?
Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde schlecht. Die Arena begann, sich um mich herum zu drehen, ein gigantischer Strudel, der mich in die Tiefe riss. Mein einziger Anker waren Astrid und Ohnezahn, die gefesselt hinter dem Tor standen.
Sollte ich mich zwischen ihnen entscheiden? Entscheiden, wer überleben und wer sterben würde? Das konnte nicht, das war unmöglich, das durfte Viggo nicht von mir verlangen. Das würde ich niemals tun. Aber wenn dann beide sterben würden? Es war grausam, es war fürchterlich. Es war die perfekte Rache.
"Du weißt, worauf ich hinauswill, stimmt's? Warum tust du es dann nicht? Je schneller du dich entscheidest, desto schneller ist es vorbei. Aber du kannst es nicht, nicht wahr? Vielleicht benötigst du bloß eine kleine Entscheidungshilfe."
Auf ein Zeichen wurden Astrid und Ohnezahn, der angekettet auf einem Brett mit Rollen stand, ins Zentrum der Arena geschoben. Was hatte Viggo jetzt vor?
Alles ging so schnell, dass die Bilder vor meinen Augen verschwammen. Ein durchdringendes Pfeifen in meinen Ohren übertönte jedes Geräusch. Astrids Bewacher vollführte einen silbernen Blitz und plötzlich war da Rot an ihrem Bein, so viel Rot. Es spritzte förmlich heraus und bildete am Boden eine Lache.
Ich rannte zu ihr, doch es kam mir vor, als rannte ein Anderer. Dieser Andere band ihr das Bein oberhalb der klaffenden Wunde mit seinem Gürtel ab und legte es hoch, strich Ohnezahns Speichel auf die Wunde, die trotzdem nicht aufhörte, zu bluten. Jede Sekunde erschien zugleich unendlich lang und unvorstellbar kurz. Alles wirkte so irreel, wie ein furchtbarer Traum.
"Hicks, es hat keinen Zweck", flüsterte Astrid.
Und mit einem Mal war wieder ich es, der neben ihr kniete, sie im Arm hielt, dessen Augen sich mit Tränen füllten. Zärtlich strich ich ihr die Haare aus dem Gesicht, über dem ein dünner Schweißfilm lag. Ich durfte sie nicht verlieren!
"Wie kann ich sie retten, Viggo? Wie? Sag es mir, oder du bist der nächste, der stirbt!"
Mir war bewusst, dass ich mich lächerlich anhörte, mit brechender Stimme und Tränen in den Augen, doch ich wusste, dass das nicht alles sein konnte. Viggo musste noch etwas im Hinterkopf haben, eine weitere Schikane, etwas, das sie womöglich retten konnte. Ich hätte alles dafür getan.
"Und wie willst du das anstellen? So ganz allein, ohne deine Freunde. Aber ich will nicht unmenschlich sein, ich gebe dir einen Tipp. Es gibt eine Legende, die besagt, dass wenn ein Nachtschatten stirbt, sich seine Seele in einem Kristall sammelt. Und das Licht, dass durch diesen Kristall fällt, ist in der Lage, jede beliebige Wunde zu heilen."
Das war schlimmer als ein Schlag mit Thors Hammer. Viggo wollte nicht unmenschlich sein? Das war das unmenschlichste, was er hätte tun können. Wie sollte ich Ohnezahn töten? Wie sollte ich Astrid sterben lassen? Beides würde ich nicht tun können, beides würde mich den Rest meines Lebens von Schuldgefühlen zerreißen lassen. Ich hätte nie gedacht, wie heftig Viggos Verlangen nach Rache war. Das hier war schlimmer als alles, was er mir hätte antun können.
Abermals war es der Andere, der die Kontrolle übernahm, der Astrid gut zuredete und versuchte, das ganze Blut irgendwie aufzuhalten, während ich in meinem Inneren weinte und tobte und schrie und fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Er war es auch, der probeweise das Feuerschwert in die Hand nahm und einen Schritt in Ohnezahns Richtung machte, doch es fühlte sich so falsch an, dass er es wieder sinken ließ. Und abermals waren es Astrids Worte, die den Anderen verschwinden ließen, mich zurück an die Oberfläche holten.
"Lass gut sein. Es... ist in Ordnung. Ich wünschte nur... ich hätte dir ... früher sagen können ... dass ... ich dich liebe."
Mit einem Mal brachen die ganzen Tränen aus mir heraus, schwemmten alles davon, während ich ein ums andere Mal ein "Ich liebe dich auch" hervorstieß. Lächelnd hauchte sie:
"Ich wusste es."
Dann verlor sie das Bewusstsein und alles drehte sich, drehte sich um uns herum. Und Ohnezahn brüllte und ich brüllte auch und alles in mir brüllte, genau wie in der Grotte. Rette Astrid, töte Ohnezahn; töte Ohnezahn nicht, lass Astrid sterben; rette sie, rette sie beide; glaube nicht an die Fassade, sei die Seele; glaube nicht an die Fassade, sei die Seele.
Alles um mich herum verlangsamte sich wie unter Wasser. Meine Sinne waren so scharf wie noch nie. Glaube nicht an die Fassade, sei die Seele. Rette sie alle. Glaube nicht an die Fassade, sei die Seele. Rette sie alle.
"Viggo, wirst du die Überlebenden gehen lassen?"
"Du hast mein Wort."
Wie in Zeitlupe entkorkte ich das Fläschchen, das ich achtlos zur Seite geworfen hatte.
"Astrid, ich liebe dich. Das habe ich schon immer und das werde ich auch immer tun. Und auch wenn du mich nicht hören kannst, ich weiß, dass auch du das weißt. Se-sei stark. Und - und bleib so wie du bist, okay? Ich würde mir nie verzeihen, wenn du dich veränderst."
Liebevoll legte ich sie zu Boden. Immer noch drang Blut aus ihrer Wunde, immer noch wurde sie blasser und blasser. All diese verlorene Zeit. All diese verpassten Gelegenheiten, Nur jetzt, wo es zu spät war, hatte wir uns unsere Liebe gestanden.
Zwei Schritte, dann stand ich vor Ohnezahn. Vertrauensvoll legte ich meine Hand auf seine Stirn, so wie bei unserer ersten richtigen Begegnung. So viel hatte sich seitdem geändert, so viel war gleich geblieben.
"Kumpel, ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Das konnte ich immer. Du - du bist mein bester Freund und ich hätte so gern viel mehr mit dir erlebt. P-pass auf Astrid auf, ja? Sie wird dich brauchen."
Verzweifelt bäumte er sich gegen seine Ketten auf, doch sie gaben ihn nicht frei. Er war ein Gefangener, genau wie wir alle. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich vieles anders gemacht, so vieles. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Erneut zog ich mein Schwert. Diesmal würde ich es benutzen. In einem Zug kippte ich den Trank hinunter. Und ich stieß das Schwert hinein, durch Muskeln und Sehnen, an den Rippen vorbei mitten ins schlagende Herz. Und die Welt explodierte in einer Woge aus Schmerz.
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