00. Prolog
Die hochgewachsene Frau schritt durch die schmale Gasse. Ihr Gang war aufrecht und erhaben. Die lange, schwarze Robe ließ sie beinahe gänzlich mit der Dunkelheit verschmelzen, aber ihr blondes Haar leuchtete im sanften Schein des Mondes und machte sie für die Augen ihrer Beobachter sichtbar.
Ihr Blick wanderte unruhig durch die Straße. Nervosität lag in ihren Augen. Eine bohrende Unruhe, die nicht zu ihren stolzen, gleichmäßigen Schritten passte. Ihre Körperhaltung verriet keine Unsicherheit, aber ihre verkrampften Gesichtszüge drohten ihr jeden Augenblick zu entgleisen und ihre Angst preiszugeben.
Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, suchte nach einem Fluchtweg, aber es war auswegslos. Lautlos, wie ein Schatten, trat der hochgewachsene Mann aus einer Seitengasse und baute sich vor die Frau auf.
"Ich habe dich bereits erwartet, Ari", begrüßter er die Frau. Der Schritt, den sie zurückwich, verriet ihre Unsicherheit, aber gleichzeitig reckte sie das Kinn und stand aufrechter, als möchte sie mit dieser Haltung den kleinen Fehler wieder gutmachen. Sie war stolz. Sie konnte ihre Angst niemanden eingestehen.
"Davon bin ich ausgegangen, Tom", erwiderte die Frau kühl. Sie wandte nicht mal den Blick von ihm ab, als zwei Männer aus dem Schatten hinter ihr traten, die Zauberstäbe drohend auf sie gerichtet. Beide hielten ihr Gesicht unter schwarzen Kapuzen verborgen. Die Frau wandte sich nicht zu ihnen um, sondern behielt ihre ganze Aufmerksamkeit weiterhin auf dem Mann vor sich gerichtet, der sich nun langsam die Kapuze abstreifte und sein blasses Gesicht freigab. Er war zweifelslos hübsch. Aber er bleich und seine feinen Gesichtszüge waren seltsam verschwommen, wie eine unscharfe Fotografie.
"Du hast mir noch nie den nötigen Respekt gezollt, aber Früher habe ich gerne die Augen davor verschlossen. Das ist jetzt nicht mehr möglich", die Stimme des Mannes war unglaublich sanft, aber es lauerte eine leise Drohung in ihnen. Die nächsten Worte hingegen sprach er mit der Schärfe eines frisch geschliffenen Messers aus.
"Wo ist sie?"
Die gefasste Fassade der Frau zerbrach das erste Mal in dieser Nacht. Schmerz kam darunter zum Vorschein. Er war tiefer, als jede Wunde, die ein Fluch verursachen konnte.
"Sie ist tot. Ich hatte eine Fehlgeburt", wisperte sie. In diesem Moment war sie nicht mehr stark, sondern fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Die Last der letzten Monate schien sie erdrücken zu wollen. Sie war keine mutige Kämpferin mehr, sondern nur noch eine einfache Mutter, die um ihr verlorenes Kind trauerte.
"Du weißt, was das bedeutet, Ari", entgegnete Tom kalt. Kein Hauch von Mitleid schwang in seiner Stimme mit, doch die Hexe hatte nichts anderes von dem gefühlslosen Zauberer erwartet.
"Und du weißt auch, was ich mit meinen Freunden mache, die sich mit dem Feind verbünden", fuhr er gelassen fort und beobachtete zufrieden, wie die Frau endlich den Kopf sinken ließ. Die vermummten Männer hoben ihren Zauberstab und zielten auf die Hexe. Tom tat es ihnen gleich. Sie blieb stumm stehen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und sich selbst ausgeliefert. Jetzt war ihre Aufgabe erledigt.
Sie schloss die Augen und Ruhe legte sich, wie ein Vorhang über ihr Gesicht. Eine tiefe Gewissheit überkam sie. Endlich würde sie Frieden finden. Sie empfing den Fluch mit offenen Armen, der sie, wie ein Totentuch umhüllte. Sie war frei.
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