9: Der Wolf mit den blauen Augen
Noch im selben Atemzug, in dem das ganze Körpergewicht des Wächters mich auf dem Boden fixiert und seine Hand, wie seine Lippen, auf Wanderschaft gehen will, wird er mit einem Ruck von mir gezogen.
Bevor er mich berühren kann.
Bevor sein Vorhaben sich auch nur in die Richtung seiner Fantasie bewegen kann.
Ohne seinen Sinneswandel zu hinterfragen, setzte ich mich auf. Ich kraxele so weit von der Stelle ab, wie die Fessel es erlaubt und presse die Knie an die Brust. Verängstigt wickele ich meine Arme so fest darum, dass er sich nicht noch einmal auf mich werfen kann; während ich darum bemüht bin, meine Atmung zu kontrollieren und das Zittern zu beruhigen.
„Was zum Feuertänzer geht hier vor?", knurrt eine tiefe Männerstimme, die mir im ersten Moment fremd ist. Doch dann erkenne ich sie. Der jungen Mann mit den blauen Augen, der mich das letzte Mal gerettet hat. Ich lasse meinen Blick in ihre Richtung gleiten. Tatsächlich.
„Die Kleine wollte spielen. Wer bin ich, ihr das zu verbieten?", sagt der Wächter mit einem diabolischen Grinsen in meine Richtung, das mir einen Schauer über die Haut jagt.
„Clipper! Du solltest mich nicht belügen!" Würde ich den jungen Mann nicht sehen, würde ich schwören, es ist ein Wolf, der knurrt. Selbst Clipper verliert das Lächeln und rappelt sich auf. Er ist einen halben Kopf kleiner als der junge Mann, jedoch genauso breit und muskulöse - wenn nicht mehr.
„Ich wollte ihr nur Manieren lehren." Clippers Stimme ist beinah unterwürfig.
„Niemand rührt sie an!", zischt der junge Mann.
Mein Peiniger nickt mit gesenktem Blick.
„Der Nächste, der Hand an sie anlegt, verliert mehr als nur einen Finger!" Bevor ich die Worte verstehen kann, schreit Clipper auf und umklammert seine Hand. Blut schwemmt über sie. Es ist so dunkel wie Rikers. Nicht ganz schwarz, aber auch nicht rot wie meines. Es formt nach einem Herzschlag eine Lache, in dessen Mitte der ...
Ich wende den Blick mit einem Ruck zurück in ihre Gesichter, da das Bild mir den Magen verdreht. Clippers Haut ist Leichenblass, während er versucht seine Schreie zu ersticken und die Blutung zu kontrollieren.
Der junge Mann knurrt etwas auf einer mir unverständlichen Sprache und Clipper stürmt, nachdem er seinen Finger einsammelt, aus dem Zelt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir uns in keinem Gebäude befinden, stattdessen bestehen die Wände aus dickem Stoff.
Meine Gedanken sind zu aufgewühlt, um meine Umgebung zu mustern. Zudem treffen die blauen Augen genau im nächsten Wimpernschlag auf mich und fordern meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ohne den Blick abzuwenden, wischt der junge Mann sein Messer am Hosenbein ab und steckt es zurück in eine Vorrichtung an seinem Unterarm. Er nimmt zwei Schritte auf mich zu, doch als ich unbewusst zusammen zucke, hält er inne. Er geht in die Hocke und hebt beschwichtigend die Arme.
„Keine Angst, ich tu Euch nichts." Seine Mundwinkel zucken, doch nicht zu einem Lächeln. Sie verlieren lediglich die strengen Miene, mit der er Clipper ansah. „Hat er Euch geschlagen?" Er deutet auf seine Stirn und ich taste die Stelle bei mir ab.
Ich spüre die zähe Flüssigkeit und ziehe die Luft scharf ein, als die Berührung den Schmerz wiederbelebt. Die Wunde muss jedoch beim Versuch Riker anzufallen entstanden sein. Denn Clippers Backpfeife war nicht stark genug, um meine Haut aufzureißen; obwohl das Brennen meiner Wange widersprechen würde.
Doch es sind nicht die einzigen Verletzungen in meinem Gesicht, deren ich mir mit der abschwellenden Angst bewusst werde. Ich kann das rechte Auge nicht ganz öffnen und spüre einige Schwellungen auf meinem Gesicht. Meine Lippe ist aufgerissen und legt einen kontinuierlichen metallischen Geschmack in meinen Mund.
„Darf ich mir die Wunden ansehen?"
Den jungen Mann umgibt erneute eine beruhigende Aura. Wie eine warme Frühlingsbrise. Obwohl sie nicht so stark wie bei unserer letzten Begegnung ist, beruhigt es mein aufgewühltes Herz und ich werde Herrin meiner Atmung.
„Möchtet Ihr etwas Wasser? Habt Ihr Hunger?", fragt er, als ich mich nach einigen Atemzüge noch immer nicht rühre.
Mir wird die Anrede bewusst, mit der er mich anspricht. Wie eine Gräfin, der Adel oder Frau eines wohlhabenden Hauses. Ich lege den Kopf schief. Was soll das Schauspiel? Guter Wächter, böser Wächter? Wollen sie mich so gefügig machen?
Nein, er ist kein Wächter.
Seine Augen - sie sind nicht grau. Weshalb alle Männer in der Vulkanascherüstung graue Augen haben, konnte mir nie jemand erklären. Jeder weiß einfach, dass es so ist. Der Grund ist ihnen egal.
„Wasser", sage ich schließlich und spüre, wie wund mein Hals ist. Ich muss mehr geschrien haben, als mir bewusst war. Was habe ich noch alles nicht bemerkt? Drachenmist!
Der junge Mann nickt und tritt zu einem Tisch. Füllt einen Becher und tröpfelt etwas hinein. Als er damit auf mich zutritt, betrachte ich ihn misstrauisch. Er geht mit ausreichend Abstand vor mir in die Hocke. Noch auffälliger kann er mich nicht vergiften. Er hat nicht einmal versucht, es zu vertuschen.
„Nur Honig - und etwas für die Schmerzen", erklärt er und hält mir das Gefäß entgegen. Doch ich nehme es nicht an. Sein rechter Mundwinkel zuckt.
Der junge Mann nimmt selbst einen großen Schluck, bevor er mir den Becher erneut entgegen hält. Jetzt hat er ihn mit seinem Sabber verpestet, doch zumindest kein Gift.
Zögerlich nehme ich den Becher und bemerke, wie stark meine Hände zittern. Das schwindende Adrenalin weckt nicht nur die Schmerzen, sondern beraubt mich meiner Kraft. Wie soll ich so entkommen? Verdammter Feuerdreck!
Ich rieche an dem Wasser und nehme einige vorsichtige Schlucke, die so sehr schmerzen, dass Tränen in meine Augen schießen. Trotzdem leere ich den Becher.
Der junge Mann nimmt ihn entgegen und füllt ihn erneut. Dieses Mal leere ich ihn nur bis zur Hälfte und stelle ihn neben mir ab. Tatsächlich schwinden die pochenden Schmerzen meines Körpers. Nur mein Kopf dröhnt weiter stark.
„Darf ich mir jetzt Eure Wunden ansehen?" Er wird vermutlich nicht nachgeben, bis ich einwillige, weshalb ich nicke.
Auf seine Bitte, mich auf die Pritsche zu setzen, stemme ich mich auf. Doch kaum, dass ich meinen gefesselten Fuß belaste, gibt mein Bein unter höllischen Schmerzen nach. Der junge Mann fängt mich auf, bevor ich zu Boden stürze.
Als ich sitze, lässt er augenblicklich von mir ab und entschuldigt sich für die unerlaubte Berührung. Vielleicht ist seine Höflichkeit doch aufrichtig?
Mit Erlaubnis betrachtet er zuerst meinen Fuß, den er von der Fessel löst. Er legt so das Bild unter dem Metall frei. Ich ziehe scharf die Luft ein und unterdrücke ein Keuchen. Bei dem kräftigen Ruck ist mehr zu Schaden gekommen, als gut für meine Situation ist. Das Metall hat sich nicht nur in mein Fleisch gebohrt, wie gedacht. Mein Knöchel ist aufs Doppelte angeschwollen und so stark verfärbt, dass er beinah schwarz wirkt.
„Hat einer der Männer daran gezerrt?" Der junge Mann knirscht mit den Zähnen.
Ich schüttele den Kopf. Der Blauäugige murmelt etwas, das sich wie ein Fluch in einer anderen Sprache anhört. Er schnauft, nimmt sachte meinen Fuß in die Hand und bewegt ihn langsam. Als ich schmerzlich zische, stockt er, bevor er ihn in eine andere Richtung bewegt.
Kopfschüttelnd stemmt er sich auf. Aus einer Ecke fischt er Leinentücher und nimmt einen Kessel mit heißem Wasser vom Feuer, das mir zuvor nicht aufgefallen ist. Dann kniet er sich erneut vor mich und zieht eine kleine Holzkiste zu sich. Verschiedene Phiolen und Kräuter kommen zum Vorschein, die leise klimpern, während er auf der Suche nach etwas Bestimmten über sie fährt.
Ich nehme mir die Zeit den Fremden zum ersten Mal wirklich zu betrachten. Sein rabenschwarzes Haar ist zu einem unordentlichen Knoten gelegt. Als hätte er sie streng gebunden, doch nach einem ausgiebigen Kampf habe sie sich gelockert. Seine Haut ist goldbraun und leicht gerötet. Einige feine Narben ziehen sich blasser darüber. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn und bestätigen die Vermutung eines Kampfes oder Trainings, von dem er kommt. Was das merkwürdige, passgenaue Oberteil und die Hose erklärt. Diese wirken wie etwas, das die Wächter unter ihrer Vulkanascherüstung tragen. Nicht für die Öffentlichkeit. Seine Hände sind mit Schwielen bedeckt, die von vielen Stunden mit dem Schwert stammen können. Doch die Waffe selbst sehe ich nicht an ihm. Es sind seine warmen Finger, die mich noch immer faszinieren. Wer ist er? Ist er doch ein Wächter? Wieso ist seine Berührung warm?
Nachdem er eine kühlende Paste und eine Flüssigkeit auf meinen Fuß verteilt, bandagiert er ihn und blickt zu mir auf. Das Blau seiner Augen, das erneut so stark schimmert, als brenne dahinter ein Licht, fesselt mich.
„Euer Gelenk ist schlimm verstaucht. Ihr solltet es die nächsten Tage nicht belasten." Ich nicke und verfluche mich selbst, da ich so eine Flucht um einiges erschwert habe.
Nachdem er auch die Wunde an meinem Kopf umsorgt, widmet er sich anderer Verletzungen, die mir wie so vieles entgangen sind.
„Wie lange ... war ich ... bewusstlos?", frage ich, als der junge Mann seinen Heilkasten beiseite packt und meinen Becher erneut befüllt. Bis auf meinen Kopf, der noch immer unausstehlich brummt, hat der restliche Schmerz an Kraft verloren.
„Drei Tage." Die Worte scheinen ihn selbst zu schmerzen. „Es tut mir leid, was die Männer ... Sie hätten Euch nicht schlagen dürfen." Drei Tage? Mein Herz stockt.
Ich ziehe die Knie erneut an die Brust, dabei bedacht meinen verletzten Fuß zu schonen. Der Weg zum Palast ist von hier sehr weit, weshalb eine Flucht noch immer Zeit hat; aber drei verlorene Tage sind drei verlorene Tage.
„Mein Name ist Ryu Kyrell Aeron. Aber man nennt mich Azarias", stellt sich der junge Mann vor und hält mir seine Hand entgegen. „Wie darf ich Euch nennen?" Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
„Ihr jagt mich, erschlagt mich und versklavt mich und du kennst meinen Namen nicht?" Meine Stimme ist kräftiger. Die Wut vertreibt, dank seiner warmen Aura, die Reste der Angst.
„Ich kenne den Namen Eurer Seele, doch nicht den Euren?"
Hat er zu viel von seinen Kräuter eingeatmet?
Oder war doch etwas in dem Wasser, das über Schmerzlinderung herausgeht? Drachenmist, ist er ein Irrer?
Mein verspannter Körper erhöht den schmerzliche Druck in meinen Kopf, was meine Wut davon abhält, überzuschäumen. So entlasse ich sie mit schweren Atemzügen, um meinen Körper zu beruhigen, bevor ich erneut in die Bewusstlosigkeit falle.
„Amaya", sage ich knapp, nehme jedoch seine Hand nicht entgegen. Sein Mundwinkel zuckt zufrieden.
„Amaya, sagt mir, mögt Ihr Spiele?"
Jeder Muskel, den ich gerade vehement gelockert habe, verkrampft sich mit einem Schlag. Ich höre Clippers Stimme in meinem Kopf.
Du solltest kein Spiel spielen, das du nicht gewinnen kannst.
Sonst verbrennst du dich.
Wortzahl: 1737 (14570)
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