** Kapitel 8 **
MAGNUS
Einen kurzen Augenblick starrte sie mich mit großen grünen Augen an, als könne sie nicht glauben, was ich ihr soeben vorgeschlagen hatte. Ich konnte es ja selbst nicht.
Das hier, das alles, war gar nicht meine Art.
Eisklotz.
Ella hatte es selbst gesagt.
Für gewöhnlich zog ich es vor, für mich zu sein – aus gewissen Gründen. Ich wollte niemanden um mich herum haben, wollte niemandem näherkommen, musste allein bleiben und möglichst nicht auffallen. Mein Plan war es, das Studium zu beenden und mir ein eigenes Leben fernab meiner Familie und des nicht gerade kleinen Erbes und der gesellschaftlichen Stellung aufzubauen. Unter dem Radar. Doch meine Komfortzone hatte ich heute schon mehrmals verlassen. Für Ella Lindström.
Auch jetzt versuchte ich sie von einer schrecklichen Dummheit abzulenken, indem ich ihr anbot, sich an mich ranzumachen. Herauszufinden, wie weit sie gehen konnte, bis mein sorgsam aufgeschichtetes Eis um mich herum schmolz. Es war keine gute Idee.
Wahrscheinlich würde ich keine dreißig Minuten durchhalten.
Jetzt trat ein herausforderndes Funkeln in ihre Augen, als hätte sie meinen Gedanken gelesen. Sie drehte sich in meiner Umarmung so, dass ihr Körper Millimeter um Millimeter näherkam, bis sie langsam, aber bestimmt ihren Bauch gegen meinen drückte. Wie von selbst neigte ich das Gesicht zu ihr nach unten. Ich konnte Ellas Wärme in jeder Faser spüren. Mein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell, aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Ich starrte in ihre Augen und ließ mich von ihr mitnehmen in verbotene Welten voller Jade.
Was machte sie nur mit mir?
Fast schon flehend sah ich sie an, bettelte im Stillen, dass sie doch bitte aufhören sollte. Aber Ella lächelte nur, hielt mich mit dem Blick gefangen und ließ mich noch tiefer darin eintauchen. Ich ließ geschehen, wie ihre Hand mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
„Ich nehme die Herausforderung an", flüsterte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich zu meinem Ohr, um ihren Körper noch fester gegen meinen zu pressen. „Ich bin bereit, dein Eis zu schmelzen, Helvig."
Ich sog tief die Luft ein.
War ich es denn?
Bestimmt schob ich sie wieder ein Stück von mir weg, um in ihr wunderschönes Gesicht zu sehen. In Ellas Blick war hinter dem Alkohol Entschlossenheit und ein Hauch Faszination. Es kam mir vor, als würde ich in einen Spiegel sehen. Auch sie fühlte sich zu mir hingezogen, aus welchen Gründen auch immer. Ich meinte es zu erkennen. Am Alkohol allein lag es nicht.
Es war verrückt.
Bis vor wenigen Tagen hatte ich diese Frau nicht einmal beachtet, kaum ihren Namen gekannt, und dann hatte sie im Seminar von Andersson vor mir gesessen, ihn angeschmachtet und in mir das Bedürfnis ausgelöst, sie vor unserem Dozenten zu schützen, nachdem ich sein Telefonat dummerweise belauscht hatte.
„Lässt du mich?" Mit der Hand strich sie langsam über meine Halsschlagader und verweilte dort. Sicher spürte sie meinen kräftigen, unkontrollierten Herzschlag, der aufgeregt gegen ihre Finger hämmerte.
Meine Antwort war ein raues „Hmm-hmm." Ich war kaum mehr in der Lage, klar zu denken, geschweige denn in ganzen Sätzen zu antworten.
Sie quälte mich.
Ihre Finger streichelten über meinen Nacken und machten mich vollkommen willenlos. Die anderen Typen waren in den Hintergrund gerückt. Vielleicht waren sie noch da, vielleicht auch nicht. Es war vollkommen unwichtig. Ich krallte mich an ihrer Taille fest, in den leichten Stoff ihres Rockes, und zog sie enger an mich heran, so eng, dass nichts mehr zwischen uns passte. Und dann spürte ich ihre Zunge, die mir warm über den Hals fuhr.
Verheißungsvolle Hitze auf meiner Haut.
Es brachte mich tatsächlich zum Schmelzen.
In diesem Moment war es mir egal. Meine über die Jahre sorgsam aufgeschichtete Mauer war kurz vor dem Einsturz, verursacht von einer Frau, die ich kaum kannte.
Küssend wanderte sie mit ihren Lippen weiter und fuhr meinen Hals wieder hinauf. Als sie die Stelle erreichte, unter der mein Puls wie verrückt hämmerte, spürte ich, wie sie leicht die Haut zwischen ihre Zähne zog und zubiss. Ein Prickeln erfüllte meinen ganzen Körper, jagte heiß und kalt über mein Rückgrat und ließ mich leicht zusammenzucken.
Dann war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Koste es, was es wolle. Ich zog sie noch enger an mich.
Augenblicklich glitten ihre Hände in meine Haare und vergruben sich darin. Ich seufzte und übernahm die Führung.
Mit den Lippen strich ich ihren Hals entlang und erreichte schließlich ihr Kinn. Langsam wanderte ich höher zu ihrem sinnlichen Mund. Ich wollte sie küssen.
Da war nichts mehr außer Ella, ihre Lippen und meine, die sich ihren mit jedem Millimeter näherten.
Doch kurz bevor ich ihren Mund erreichte und gedanklich schon in einen tiefen Kuss versank, wich sie leicht zurück und sah mir in die Augen. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Atemlos erwiderte ich ihren Blick.
„Du lässt erstaunlich viel mit dir anstellen, Helvig", sagte sie leise. „Schmilzt der Eisberg etwa gerade?"
Hölle. Ja!
Ich zuckte leicht die Schultern, war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen nach so viel Nähe und Beinahe-Küssen. „Ich weiß es nicht", flüsterte ich, weil ich meiner Stimme gerade nicht traute.
„Ich schon." Ella lächelte. „Du bist nahezu Wachs in meinen Händen, das ist dir hoffentlich bewusst?"
Oh Fuck!
Sie hatte sowas von Recht.
„Denke schon", murmelte ich.
„Gewonnen." Es war nur ein geflüstertes Wort, und doch katapultierte es mich schmerzhaft zurück ins Hier und Jetzt. Ich löste mich von ihr, gerade in dem Moment, als eine Sirene losschrillte. Schwer atmend sahen wir uns abermals an. Meine Haare standen wirr nach allen Seiten ab, und ich versuchte sie mit einer schnellen Handbewegung wieder zu ordnen. Es gelang mir nicht.
„Was ist das?", fragte Ella.
„Die Alarmanlage." Wir hatten nur noch wenige Minuten, ehe der Wachdienst uns entdecken würde. „Ich befürchte, deine Freunde haben sie ausgelöst."
„Shit." Hektisch sah sie sich zu allen Seiten um. „Wo sind sie?"
„Weg."
„Verdammt."
„Alles gut, mach dir keine Sorgen", versicherte ich ihr und griff nach ihrer Hand. „Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden."
„Ich glaub, ich muss mich übergeben."
Verdammt. Auch das noch.
~~~
ELLA
Was war das? Ein grauenhaft ohrenbetäubendes Geräusch riss mich unsanft aus dem Schlaf. Ich stöhnte und versuchte, meine Augen zu öffnen, doch es klappte nicht. Ein furchtbares Pochen schoss mir durch den Schädel. Kopfschmerzen direkt aus der Hölle, als würde Satan höchstpersönlich mit seinem Dreizack auf mich einstechen. Immer wieder, direkt in die Schläfen und die Stirn.
Aua.
Mit klammen Fingern strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und unternahm einen weiteren Versuch, meine Lider aufzumachen. Der Dreizack wurde zu einem Hammer, der unerbittlich auf meinen Kopf einschlug.
Oh shit.
Was war gestern Abend bloß noch passiert, dass ich in einem derart schlechten Zustand war?
Plötzlich hörte ich neben mir ein leises Stöhnen. Sofort war ich hellwach und ignorierte den Höllenschmerz in meinem Kopf. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit, die durch das Fenster drang. Lichtstrahlen suchten sich ihren Weg an den Rändern der achtlos geschlossenen Vorhänge vorbei und erhellten erbarmungslos den Raum. Was hätte ich in diesem Moment für Rollläden gegeben, die bombensicher die Sonne draußen ließen? Wahrscheinlich mein Leben.
Doch dieses Zimmer besaß keine Rollläden.
Als mir das bewusst wurde, riss ich die Augen noch ein bisschen weiter auf und sah mich suchend um. Ich lag in einem Bett mit Standardbreite, nicht mehr als einen Meter, das definitiv nicht mein 140 Zentimeter breites Futonbett in meinem WG-Zimmer war. Die Bettwäsche war dunkelgrau und roch teuflisch gut nach männlichen Aftershave. Wo, zum Teufel, war ich? Und wie war ich hier gelandet? Verzweifelt suchte ich nach Hinweisen, fand in der kargen Möblierung aber keine. Ein hoher, geschlossener Holzschrank, einige Regale über einem normalen Schreibtisch mit einem spartanischen Stuhl, das Fenster mit den dunklen, aber schlichten Vorhängen, keinerlei Fotos oder persönliche Gegenstände.
Ich hatte absolut keinen Schimmer, wo ich mich befand.
Das ohrenbetäubende Piepen, das noch immer den Raum in kurzen Abständen erfüllte, machte mich wahnsinnig. Das Denken fiel mir schwer. Ein erneutes Stöhnen lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Mal konnte ich es sogar lokalisieren. Es kam vom Boden, direkt neben dem Bett. Langsam schob ich mich vor und lugte vorsichtig über die Bettkante nach unten. Mein Blick fiel sofort auf einen strammen sexy Knackarsch in enger Retroshorts. Dann wanderte er in Sekundenbruchteilen den nackten Rücken entlang, über einen verstrubbelten Hinterkopf, die muskulösen und ebenfalls nackten Oberarme weiter, die Wirbelsäule zurück und blieb wieder am Arsch hängen.
Verdammt!
Was hatte ich getan?
Schnell hob ich die Decke und sah an mir herunter. Gott sei Dank hatte ich meine Klamotten noch vollständig an. Mein Shirt, mein Rock, meine Unterwäsche, noch alles da, wo es hingehörte. Selbst die Pumps, die ich gestern getragen hatte, waren noch an meinen Füßen. Erleichtert lehnte ich mich ins Kissen zurück. Dann war zwischen mir und Mr Knackarsch hoffentlich nichts gelaufen.
In diesem Moment stöhnte er erneut und fing an sich zu bewegen. Ich hörte die Bewegungen auf dem Boden, als er das grässliche Piepen des Smartphone-Weckers endlich ausstellte.
Sofort herrschte eine angenehme Stille im Raum. Leise seufzte ich auf, konnte mich aber nicht wirklich entspannen. Ich musste dringend von hier verschwinden, auch wenn ich gar nicht genau wusste, wo hier eigentlich war.
Wieder warf ich einen Blick auf den Boden. Der Typ hatte sich bewegt. Jetzt lag er nicht mehr auf dem Bauch, sondern hatte sich auf der Seite zusammengerollt. Als erstes fielen mir seine Bauchmuskeln auf. War es möglich, ein Eight-Pack zu haben? In der einen Hand hielt er das endlich verstummte Handy. Der Kopf ruhte auf seinem Oberarm, an dessen Innenseite ich ein Tattoo erkannte. Irgendein verschnörkelter Schriftzug, den ich aber nicht lesen konnte. Die dunklen Haare fielen ihm in die Stirn und über die geschlossenen Augen, aber ich brauchte sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie ozeanblau waren.
Oh Shit!
Schockiert hielt ich den Atem an, konnte aber nicht verhindern, dass ich ihn weiter anstarrte. Kein Geringerer als Magnus Eisklotz Helvig lag zu meinen Füßen.
Als mir das bewusstwurde, schnappte ich abrupt nach Luft. Erbarmungslos drängte sich die erste Frage umso mehr zurück in mein Bewusstsein. Wieso, zum Teufel, war ich gerade beim Eisklotz im Bett? Wieso war er fast nackt? Wie waren wir überhaupt hier gelandet? Und wieso, verdammt nochmal, konnte ich mich an nichts mehr erinnern?
Wieder bewegte er sich leicht, was in mir den Fluchtinstinkt auslöste. Ich hatte unendlich viele Fragen, aber keine davon würde ich ihm heute Morgen stellen. Ich musste verschwinden, so schnell wie möglich. Also begann ich, mich langsam und lautlos aus der Decke zu schälen, rutschte leise ans Bettende und erhob mich. Meine Beine zitterten, mein Schädel brummte und ich spürte das leichte Sausen in den Ohren, das den Schwindel ankündigte. Mit klammen Fingern hielt ich mich kurz an der Wand fest und atmete tief durch. Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und versuchte mich zu sammeln. Doch mir lief die Zeit davon. Ich musste sein Zimmer verlassen, bevor er aufwachte und die Situation noch peinlicher wurde, als sie ohnehin schon war.
Also tapste ich zur Tür, öffnete sie und huschte hindurch. Ohrenbetäubend laut klackte das Schloss, als ich sie hinter mir wieder zumachte. Ich konnte nur hoffen, dass er von dem Geräusch nicht aufgewacht war. Und selbst wenn – am Ende des offenen Raumes entdeckte ich die Wohnungstür. Anders als sein Schlafzimmer war dieses eine Art Wohnküche. Rechts von mir war eine ordentlich aufgeräumte Küchenzeile, auf dessen Arbeitsfläche lediglich ein halbvolles Glas Wasser mit einer Tablettenpackung daneben stand. Links befand sich eine kleine grüne Couch, ein dazu passender Sessel zum Schaukeln und ein runder Holztisch. Die Einrichtung war spartanisch, nirgends lag Kleinkrams herum. Magnus musste verdammt ordentlich und organisiert sein.
Kurz fragte ich mich, wie er sich eine solche Wohnung leisten konnte, wenn er doch neben seinem Studium als Barkeeper arbeitete?
Aus seinem Zimmer dröhnte jetzt wieder das schreckliche, eintönige Piepsen seines Smartphone-Weckers. Erschrocken zuckte ich zusammen und nahm das zum Anlass, endlich selbst auf meine Uhr zu gucken.
Oh shit.
Die erste Vorlesung lief bereits seit gut dreißig Minuten, dort brauchte ich also nicht mehr hinzufahren. Anni war sicher auch nicht dort, schließlich hatte sie schon vorgestern angekündigt, die ersten Stunden zu schwänzen. Wichtig war für mich auch nicht mehr die Anwesenheit in meinen Kursen, sondern mich für das Gespräch mit Herrn Andersson zu wappnen und bis dahin allmählich wieder auf die Beine zu kommen. Ich fühlte mich nach wie vor schrecklich und sehnte mich nach einer heißen Dusche und meinem Bett.
Wie ich letzten Endes nach Hause in meine eigene Wohnung gekommen war, konnte ich später gar nicht mehr sagen, aber als ich aus der Dusche kam, fühlte ich mich fast wie neu geboren. Das Wasser tropfte aus meinen Haaren, als ich nur mit Handtuch bekleidet mein Zimmer betrat, doch es störte mich nicht. Ich schlüpfte in einen lilafarbenen Oversize-Hoodie und meinen Slip und legte mich in mein Bett. Seufzend zog ich die Decke bis zum Hals und schloss die Augen. Mein Kopf dröhnte vom Alkohol nach wie vor. Ich verfluchte mich, dass ich so dermaßen abgestürzt war und mich an den gestrigen Abend ab einem gewissen Zeitpunkt wirklich nicht mehr erinnern konnte.
Mit den Fingern wollte ich meine Halskette umschließen, wie ich es immer kurz vor dem Einschlafen tat, aber sie fuhren ins Nichts. Der Anhänger lag nicht wie sonst auf meinem Schlüsselbein, die filigrane Kette war ebenfalls verschwunden. Hatte ich sie abgelegt? Ich war mir sicher, dass ich sie am gestrigen Abend getragen hatte. Diese Kette war ein Erbstück meiner Großmutter, vergoldet mit einem Saphir in der Mitte, und relativ wertvoll. Nicht nur auf materieller Ebene, sondern auch auf persönlicher, denn meine Großmutter hatte sie selbst hergestellt, immer getragen und kurz vor ihrem Tod mir vermacht. Jetzt war sie nicht mehr da.
Ich musste sie verloren haben.
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