44. Scholarship
Ich brauchte nur einen Moment, bis ich mich an den Namen zu dem mir bekannten Gesicht erinnern konnte. Vor mir stand Tony Shaw und hielt mir zur Begrüßung seine Hand entgegen.
„Hallo Lena, schön, Sie wiederzusehen."
Ich warf einen Blick zu Niall, der nur grinste. „Na, ist mir die Überraschung gelungen?" Das war sie allerdings, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
„Hallo Mr. Shaw", erwiderte ich schüchtern. Der Mitarbeiter von Sony lächelte mich freundlich an, dann setzte er sich zu uns.
Wir bestellten Getränke und eine Vorspeise, dann begann Tony Shaw zu sprechen.
„Wie läuft denn Ihr Studium bisher?", wollte er wissen.
„Es macht mir sehr viel Spaß. Allerdings habe ich noch keine Noten oder Ergebnisse meiner bisherigen Abgaben bekommen, sodass ich meinen Notendurchschnitt bisher nicht kenne", fügte ich hinzu. Mir fiel ein, dass er sicher nicht nur Smalltalk betreiben wollte. Schließlich war er verantwortlich für die Vergabe von Stipendien. Meine Hände begannen zu schwitzen bei dem Gedanken daran, dass das hier gerade eine Art Bewerbungsgespräch darstellte.
„Eigentlich bin ich nur hier, um Sie zum Probearbeiten einzuladen", stellte Mr. Shaw klar, nachdem wir ein wenig Smalltalk betrieben hatten.
Ich war so überrascht davon, dass ich meine Freude darüber, mich in diesem Moment nicht erst beweisen zu müssen, gar nicht ausdrücken konnte.
„Haben Sie denn überhaupt noch ein Stipendium zu vergeben so mitten im Semester?", platze es bloß aus mir heraus. Da musste doch irgendwo ein Haken sein. Und ich schien damit Recht zu behalten.
„Ein Stipendium haben wir erst wieder ab dem nächsten Jahr anzubieten", lenkte der Mitarbeiter ein. „Allerdings haben wir durchaus Arbeitsplätze für Werkstudentinnen wie Sie zu vergeben, und diese werden sehr gut bezahlt. Sie arbeiten dann nicht auf Honorarbasis bei uns, sondern mit einer festen Wochenstundenanzahl."
„Das klingt sehr gut", musste ich zugeben. Von Arbeit auf Honorarbasis mit unregelmäßigen Stundenzahlen und Arbeitszeiten hatte ich erst einmal die Nase voll.
Es fühlte sich alles an wie ein Traum. Beim gemeinsamen Essen erzählte Tony Shaw mir mehr über meinen künftigen Job, und ich konnte nicht glauben, dass das gerade wirklich passierte. Mit einer solchen Wendung hatte ich nicht gerechnet.
Immer wieder sah ich zu Niall hinüber, der mir jedes Mal ein ermutigendes Lächeln zuwarf. Wie er das arrangiert hatte war mir ein Rätsel, aber ich war unglaublich dankbar.
Jetzt musste nur noch alles klappen, aber ich war zuversichtlich, dass ich das schaffen konnte. Um das Probearbeiten machte ich mir eigentlich keine Sorgen, schließlich hatte ich inzwischen schon viele Erfahrungen im Bereich der Tontechnik machen können.
Hinter dem Mischpult besaß ich eine Selbstsicherheit, die ich mir auch für mein restliches Leben wünschen würde.
Die Gespräche schweiften während des Essens ab zu Nialls neuem Projekt, und mein Freund berichtete mit leuchtenden Augen von seinen bisherigen Plänen. Ich sah ihm dabei an, dass er das aktive Musikmachen und die Konzerte vermisste, denn er schwärmte nur davon, bald hoffentlich wieder auf Tour zu sein.
Bei dem Gefühl, dass ich Niall dann vielleicht nur noch unregelmäßig sehen konnte, rumorte es bei mir im Magen. Vor allem, da wir gerade wieder so viel Zeit miteinander verbringen konnten. Aber ich wusste, dass er das brauchte und ich wusste auch, dass ich ihn jederzeit gehen lassen würde, damit er das tun konnte, was er so sehr liebte.
Auch auf der Rückfahrt vom Restaurant, war ich noch ganz in meine Gedanken vertieft, sodass ich kaum mitbekam, wie Niall mich ansprach.
„Wie hat dir denn die Überraschung gefallen?" Er stupste mich leicht am Ellenbogen an, als von mir keine direkte Reaktion kam.
„Hm?" Ich blinzelte zweimal und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Du rettest damit buchstäblich meine Existenz", versuchte ich zu erklären. „Es fühlt sich noch so unwirklich an, ich kann gar nicht glauben, dass ich jetzt wohl bald Arbeit habe, die dann auch wirklich bezahlt wird."
„Darauf kannst du dich verlassen", sagte Niall. „Und wie wir es schon besprochen haben, mein Anwalt ist dem auf der Spur, so oder so wirst du das Geld, für das du schon gearbeitet hast, noch bekommen."
Darauf hoffte ich, denn ich wollte ungern auf sein Geld oder das von jemand anderem angewiesen sein. Aber das stand nicht in meiner Macht, deshalb nahm ich mir vor, mir nichtmehr allzu viele Gedanken darum zu machen. Eine Lösung war schließlich in Sichtweite.
Was in meiner Macht stand, war jedoch meine eigene psychische Gesundheit, um die ich mich am nächsten Tag wieder kümmerte, indem ich meinen Termin bei Carly wahrnahm.
Die Psychologin sah heute ziemlich gestresst aus, ihre Augenringe konnte sie hinter der Brille kaum verstecken. Etwas fahrig bot sie mir Tee an, verschüttete jedoch beim Eingießen aus dem Wasserkocher die Hälfte auf den Boden. Da ich wusste, wo sich die Toilette befand, bot ich ihr direkt an, Papier zum Aufwischen zu holen. Das setzte ich dann auch in die Tat um. Gemeinsam hockten wir dann auf dem Boden und wischten das Wasser auf.
Ich suchte nach Worten, um die Stille zwischen uns zu durchbrechen, jedoch fiel mir nichts wirklich ein. „Ist ja nur Wasser", versuchte ich sie schließlich zu trösten.
Normalerweise leitete Carly in unseren Sitzungen durch das Gespräch, heute schien sie dazu jedoch irgendwie nicht in der Lage zu sein. Wir hatten jedoch mein traumatisches Erlebnis inzwischen so oft durchgesprochen, dass ich dummerweise auch nicht wusste, was ich noch erzählen sollte. Die Konfrontation mit Lukas hatten wir bereits in einer vorherigen Stunde bearbeitet, sodass ich diese auch nicht noch einmal erwähnen wollte.
Dass ich kaum etwas zu besprechen hatte, zeigte mir, dass mein Leben langsam wieder geordnete Bahnen annahm. Und das war meiner Ansicht nach auf jeden Fall etwas Gutes, ich wusste nur nicht, ob Carly das genauso sah.
Mir war aber bewusst, dass die Zeit meiner psychologischen Sitzungen mit ihr begrenzt war, denn meine Krankenversicherung übernahm nur eine bestimmte Stundenanzahl. Psychotherapien waren nämlich nicht gerade günstig, das hatte ich schon erfahren. Und bei meinem aktuellen Kontostand konnte ich keine einzige Sitzung aus eigener Tasche bezahlen.
Irgendwie verging die Stunde mit meiner Psychologin trotzdem. Ich hatte irgendwann angefangen, über die Blumenbilder, die an ihrer Wand hingen, zu reden, und Carly war darauf eingestiegen.
Ich wollte ihr keinesfalls zu nahetreten, aber es interessierte mich brennend, was meine sonst so unerschütterliche Psychologin dermaßen aus der Bahn geworfen hatte. Jedoch hätte ich mich niemals getraut, nachzufragen.
Als sie mich am Ende der Stunde jedoch zur Tür hinausgeleitete, entschuldigte sie sich. „Es tut mir leid, dass ich heute so neben mir stand, ich verspreche dir, dass das nicht wieder vorkommt. Meine Tochter hat große gesundheitliche Probleme und wird gerade im Krankenhaus zwangsernährt. Das habe ich gerade direkt vor deiner Stunde erfahren, und ich muss das erst einmal verarbeiten."
Ich versicherte ihr, dass das kein Problem sei und ich dafür Verständnis hätte, dann verabschiedeten wir uns bis zum nächsten Mal.
In der U-Bahn auf dem Weg in unsere WG verknüpfte ich die junge Frau, die ich für Carlys Tochter hielt, gedanklich mit der Aussage meiner Psychologin. Dass dieses dürre Wesen zwangsernährt werden musste wunderte mich nicht, aber für Carly tat es mir sehr leid. Es war sicher nicht leicht, als Psychologin eine magersüchtige Tochter zu haben und damit tagtäglich umgehen zu müssen.
Von der WG aus rief ich bei Mr Brown an, dem ich mitteilte, dass ich krank sei und leider nicht zur Arbeit kommen könne. Ich war froh, ihn nicht direkt zu erwischen, sondern nur den Anrufbeantworter dranzuhaben. In dieses Tonstudio wollte ich in nächster Zukunft keinen Fuß setzen.
Stattdessen bereitete ich mich mental auf das Probearbeiten bei Sony vor, das am kommenden Montag stattfinden sollte. Ich recherchierte noch einmal gründlich zu wichtigen Daten meines möglichen neuen Arbeitgebers und las mir die schriftliche Einladung, die ich von Mr Shaw bekommen hatte, erneut durch.
Abends öffnete ich abermals mein Online-Banking, um zu schauen, ob sich auf wundersame Weise vielleicht doch etwas an meinem Kontostand getan hatte. Und das hatte es tatsächlich, denn es befanden sich plötzlich 100 Pfund mehr darauf als zuvor. Als ich sah, von wem das Geld kam, konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Ich hatte Niall doch gesagt, dass ich kein Geld von ihm annehmen würde!
Ich wählte direkt seine Nummer, um ihn darauf anzusprechen, auch wenn ich noch nicht genau wusste, was ich eigentlich sagen wollte.
„Niall, was hast du getan?", warf ich ihm erst einmal pauschal vor.
„Damit du dich sicherer fühlst." Er wusste scheinbar direkt, worauf ich anspielte. „Du kannst es mir ja, sobald du dein erstes Gehalt bekommen hast, direkt zurück überweisen. Das ist nicht so viel, als dass du das nicht zurückzahlen könntest."
Da hatte er allerdings Recht, und ich musste zugeben, dass ich mich bei dem Gedanken, ein bisschen Geld zum Notfall auf dem Konto liegen zu haben, sicherer fühlte.
Schneller als gedacht verging die Zeit bis zum Montag und ich saß pünktlich um 7:30 Uhr in Stoffhose und Bluse in der U-Bahn auf dem Weg zu meiner neuen Arbeitsstätte. Das Studio befand sich nicht im Headquarter, wo ich mein Praktikum absolviert hatte, sondern in einer Außenstelle, die ich jedoch auch gut mit der U-Bahn erreichen konnte. Trotz meiner Aufregung war ich müde, denn dieses extrem frühe Aufstehen war ich nicht mehr gewohnt. Die Uni begann fast nie so früh.
Um acht Uhr sollte es losgehen, ich war jedoch sicherheitshalber schon 15 Minuten eher da. Man konnte schließlich nie wissen.
Dass außer mir noch niemand am Standort war, zeigte mir jedoch mal wieder, dass ich meine deutsche Pünktlichkeit dringend ablegen sollte. Hier machte es nämlich einen merkwürdigen Eindruck, zu früh zu sein und zu warten.
Eine andere Wahl hatte ich jedoch nicht. Ich stand also morgens früh im Nieselregen vor der Eingangstür des Studios und wartete bibbernd darauf, dass jemand ankommen würde. Meine Kapuze schirmte den Regen irgendwann nicht mehr ab und ich spürte meine kleinen Zehen nicht mehr, weil diese durch die Kälte eingefroren wurden.
Nach einiger Zeit sah ich auf die Uhr und bemerkte, dass es bereits zwanzig nach acht war. Leicht panisch holte ich mein Handy heraus, um nachzusehen, ob ich mich denn am richtigen Ort befand. Da die Adresse auch neben der Haustür stand, konnte ich das zweifelsfrei bestätigen.
Bei dieser Überprüfung fiel mir jedoch noch etwas anderes ins Auge. Die angegebene Uhrzeit war neun, und nicht acht Uhr. Da diese in Zahlen aufgeschrieben war und sich ein Tintenfleck des Druckers ungünstig darauf befand, war ich fälschlicherweise von der früheren Uhrzeit ausgegangen.
Das war jetzt scheinbar mein persönliches Pech, denn zurück konnte ich nicht mehr. Ich überlegte, mich nochmal in die U-Bahn zu setzen und hin und her zu fahren, traute mir aber zu, dann nicht mehr pünktlich zu sein.
Die Zeit verging wie im Schneckentempo. Immer wieder sah ich auf die Uhr, aber die Zeit bewegte sich meist nur um eine oder zwei Minuten. Inzwischen hatte ich auch kein Gefühl mehr in den Beinen und meine Stoffhose war auch total durchnässt. Zwar trug ich aufgrund der Kälte eine Strumpfhose darunter, aber das half mir jetzt auch nicht weiter.
Zum Glück kamen bereits um zehn vor neun, also ungewöhnlich pünktlich für die Londoner Zeit, bereits zwei Mitarbeiter angeschlendert, die mich freundlicherweise hereinließen, nachdem ich mich vorgestellt hatte.
Beide hatten Kaffee dabei und stellten sich als Jimmy und James vor. Die Namen klangen so ähnlich, dass ich mir, direkt nachdem sie sich vorgestellt hatten, schon unsicher war, wer von beiden jetzt wer war.
„Ich bewerte heute deine Arbeit." Der, der vermutlich James war, grinste und holte ein Klemmbrett aus seinem Rucksack. „Aber lass dich bloß nicht irritieren." Er sagte das mit so einem komischen Tonfall, dass ich mir nicht sicher war, ob er das Ernst meine oder nur einen Scherz machte.
„Für die Pünktlichkeit gibt es schon mal Extra-Punkte", sagte Jimmy – also der andere – und James machte sich Notizen. Oder er tat nur so, ich konnte es nicht einschätzen.
„Wir warten noch auf zwei andere deiner Art." James sah von seinem Klemmbrett auf. „Jimmy, gehst du schon mal nach hinten und schaust, ob das AKG C314 angeschlossen ist?"
Ich war erleichtert, weil ich es bis hierhin scheinbar geschafft hatte, die Namen mit den richtigen Personen zu verknüpfen.
Kompliziert wurde es jedoch, als die zwei anderen meiner Art auftauchten und sich als Jim und Jacob vorstellten. Die Verwechslungen waren bei mir jetzt schon vorprogrammiert. Das war aber auch wirklich ein blöder Zufall.
Meine Hose war inzwischen halbwegs getrocknet und ich konnte auch meine Zehen wieder spüren – zumindest teilweise. Ich war also bereit zu arbeiten und bereit dazu, zu beweisen, dass ich mich auch als Frau mit Tontechnik auskannte. Die Geschlechterverteilung in diesem Studio bewies mal wieder, dass die Tontechnik immer noch hauptsächlich eine Männerdomäne war, und das plante ich zu ändern.
Den Erklärungen zu unseren Aufgaben hörte ich aufmerksam zu und machte mich dann direkt an die Arbeit. Ich brauchte unbedingt diesen Job, und niemand konnte mich davon abhalten, diesen und auch ein mögliches späteres Stipendium für mich zu bekommen.
Hallo ihr Lieben,
nach meiner Prüfungsphase geht es nun hier weiter und in den Endspurt. Ich hoffe ihr seid bereit dazu und habt genug Proviant dabei ;)
In den Kommentaren kam nach dem letzten Kapitel die Frage nach einem Shipnamen für Lena und Niall auf, und ich möchte das gern zur allgemeinen Diskussion stellen. Habt ihr Vorschläge? Ansonsten fand ich den Vorschlag "Niana" bisher ganz süß. Wer dafür ist, kann ja hier mal kurz die virtuelle Hand heben (oder so), das würde mich sehr freuen.
Ich weiß nicht, wann ich das nächste Kapitel schreiben kann, da ich ja trotzdem weiter arbeite und noch ein paar Abgaben habe, aber ich bin dran.
Ich hoffe, dass ihr Lena und Niall auf ihrer Reise bis zum Ende dieser Geschichte begleiten wollt und noch dabei ist.
Liebe Grüße und bleibt gesund!
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