34. Reconciliation
Mit meinen Gedanken allein zu sein tat mir nicht gut, weshalb ich in meinen gut strukturierten Wochenplan weitere Sitzungen mit meiner Psychologin Carly einplante. Sie half mir, klar zu denken und mir bewusst zu werden, was meine Gedanken bedeuteten. Und dabei brauchte ich wirklich gute Hilfe.
In einer der nächsten Sitzungen traute ich mich schließlich, von meiner damaligen Antwort auf Lukas E-Mail zu erzählen. Es tat mir sehr gut, mir meine Gefühle von der Seele zu reden und endlich darüber sprechen zu können. Das beste daran war jedoch die komplett wertfreie Reaktion meiner Psychologin. Carly nahm zur Kenntnis, was ich gesagt hatte, und spiegelte mir lediglich meine Gefühle, anstatt ihre Meinung dazu zu sagen. Ich merkte selbst, dass ich mich für meine gedankenlose Aktion verurteilte und es deshalb nicht aushalten könnte, wenn jemand anders das ebenfalls tun würde. Deshalb hatte ich mich bisher auch niemandem anvertrauen können. Jetzt war aber die Situation eine andere, und ich bekam Schuldgefühle, vor allem Niall gegenüber. Ich hätte ihm immer die Wahrheit sagen müssen, das begriff ich nun.
Am Ende der Sitzung fühlte ich mich sehr viel leichter, weil ich jetzt nicht mehr das Gefühl hatte, meine Ängste und Gedanken nur auf meinen Schultern herumtragen zu müssen. Carly gab mir den Eindruck, dass ich meine Sorgen mit ihr teilen konnte und wir dann gemeinsam an den Lösungen arbeiteten.
Da die Psychologin direkt nach mir den nächsten Klienten hatte, machten wir pünktlich Schluss, und ich begegnete an der Tür noch einer jungen und extrem dünnen Frau, ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie begrüßte mich mit einem kurzen Nicken und marschierte dann direkt in den Therapieraum.
„Mama, ich dachte du warst einkaufen? Das kann doch nicht sein, dass wir schon wieder keinen fettarmen Joghurt da haben!", hörte ich sie noch sagen, dann fiel die Tür zu.
Kopfschüttelnd trat ich hinaus in Richtung U-Bahn. Konnte die Frau nicht ihren eigenen Joghurt kaufen? Die Wintersonne schien heute besonders schön und ich nahm meinen Schal wieder ab, um ihn in meine Tasche zu stopfen. Dafür war es einfach zu warm. Ich traute mich mitten am Tag inzwischen auch alleine, in London herumzufahren, und nahm das auch in Anspruch. Es tat mir gut, wortwörtlich meine eigenen Wege gehen zu können und selbstständig zu entscheiden, wann ich was tun wollte.
Die Stadt war gut belebt und schon festlich geschmückt, was mich ein bisschen wehmütig werden ließ. Die Vorweihnachtszeit nicht in Deutschland zu verbringen, mit unseren riesigen Weihnachtsmärkten und den vielen klassischen Leckereien, das war schon hart. Hier gab es zwar auch gebrannte Mandeln und Schmalzkuchen an kleinen Ständen, die einen deutschen Weihnachtsmarkt zu imitieren versuchten, aber an das Original kamen sie nicht heran. Letztes Jahr um diese Zeit war ich fast jeden zweiten Tag mit Finja über den Weihnachtsmarkt geschlendert. Ich freute mich aber auch auf das Weihnachtsfest mit meiner Familie. Am 23.12., einem Freitag, würde ich nach Deutschland fliegen und dann die Feiertage dort verbringen. Ein Weihnachten ohne meine Eltern konnte und wollte ich mir einfach nicht vorstellen. Eher konnte ich allerdings auch nicht fliegen, da ich tatsächlich am 23.12. morgens noch eine Vorlesung besuchen musste.
Inzwischen vermisste ich Niall immer mehr. Er hatte sich nicht mehr viel bei mir gemeldet, weil er ja alle Mails von Lukas mitbekommen hatte und wusste, wie sehr mich diese gestört hatten. Vermutlich wollte er nicht genauso nerven und mich triggern. Mit Lukas hatte ich schließlich überaus schlechte Erfahrungen gemacht. Bei diesem Gedanken musste ich innerlich sarkastisch lachen. Schlechte Erfahrungen waren da wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.
Aber mit Niall hatte ich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Das war der Moment, in dem ich beschloss, dass ich auf jeden Fall eine Aussprache mit Niall wollte. Ohne richtig mit ihm gesprochen zu haben kaum Kontakt zu haben erschien mir falsch. Ich musste ihm wenigstens meine Gefühle erklären, damit er dann damit umgehen konnte. Lilly hatte es ja gesagt, für Niall war die Situation wohl auch nicht einfach, und ich konnte einfach nicht nur an mich denken. Schließlich waren wir in einer Beziehung! Lukas Fehlverhalten war auch wirklich nicht Nialls Schuld.
Das Studium und auch die Arbeit zogen momentan irgendwie nur an mir vorbei. Ich war zwar körperlich anwesend und erledigte meine Aufgaben, aber so richtig konzentrieren konnte ich mich nicht. Ich war immer noch sehr mit meinen Gefühlen beschäftigt, vor allem da in der Psychotherapie so Einiges aufgewirbelt wurde. Vielleicht hätte ich das schon eher tun sollen, denn meine erste schlechte Erfahrung mit Lukas hatte mich stark negativ geprägt, das verstand ich langsam.
Schön war es, dass Carly mich immer genauso annahm wie ich war. Ich hatte niemals das Gefühl, dass meine Gedanken nicht berechtigt waren oder ich vielleicht einen an der Klatsche hatte. Ich hatte zwar nicht das Bedürfnis, überall herumzuerzählen, dass ich regelmäßig zu der Psychologin ging, aber ich fühlte mich auch nicht schlecht dabei.
Damit ich mich mit Niall nicht allein aussprechen musste, sprach ich Carly bei der nächsten Stunde darauf an, wie ich das am besten tun könnte. Sie reagierte sehr positiv auf meine Nachfrage und vor allem die Eigeninitiative dahinter.
„Was hältst du davon, wenn du Niall fragst, ob er mal in eine Sitzung mitkommen möchte? Dann könnt ihr euch auf neutralem Boden aussprechen und ich bin sozusagen als Gesprächsmoderatorin dabei", schlug sie vor.
Da ich das für eine gute Idee hielt, vereinbarten wir sofort einen Termin, an dem eine solche Aussprache möglich wäre, und ich textete Niall die Daten, damit er schauen konnte, ob er Zeit hatte.
Der Tag an dem ich Niall wiedersah kam schneller, als ich das erwartet hatte. Er hatte tatsächlich direkt an dem Termin Zeit und stimmte sofort zu, dass wir uns in der Praxis treffen würden.
Vor lauter Aufregung kam ich viel zu früh an der Praxis an und wartete an der Tür, da ich meine Psychologin nicht früher als geplant stören wollte. Vielleicht hatte sie ja sogar noch einen Klienten vorher, das wusste ich nicht.
Deshalb sah ich Nialls Range Rover schon als er in die Straße einbog und sich auf den kleinen Parkplatz vor der Praxis stellte. Nialls Blick als er ausstieg und mich sah konnte ich kaum ertragen.
„Hey Lena", begrüßte er mich mit leiser Stimme. Es wirkte fast, als hätte er Angst in normaler Lautstärke mit mir zu reden.
„Hi", erwiderte ich nur und wusste in diesem Moment auch nicht richtig, was ich sagen sollte. Vorher war das alles so viel einfach gewesen, wir hatten uns immer etwas zu erzählen. Aber jetzt kam es mir so belanglos und unwichtig vor, von der Arbeit oder der Uni zu reden. Ich wollte aber auch nicht schon mit meiner Gefühlswelt anfangen. Das hatte gleich noch genug Zeit.
Niall schien auch unsicher und trat von einem Fuß auf den anderen. So schwiegen wir uns eine ganze Zeit lang an, bis Carly die Tür öffnete und uns hereinließ. Sie wirkte ein wenig gestresst und schob sich eine dünne Haarsträhne hinter ihr Ohr.
„Entschuldigt bitte, ich musste gerade noch mit einem Kollegen ein wichtiges Gespräch führen und das hat länger gedauert als erwartet." Wir gingen an ihr vorbei in ihren Therapieraum. Niall hatte mir den Vortritt gelassen, sodass ich mir zuerst einen der bequemen Sessel aussuchen konnte. Wie immer hier betrachtete ich zunächst die Wände, die in einem freundlichen Orange gestrichen waren und an denen einige Blumenbilder hingen.
Niall suchte sich ebenfalls einen der Sessel, der einen gebührenden Abstand zu mir hatte, und Carly schloss die Tür. Die ältere Frau setzte sich ebenfalls, sodass unsere Sitzgruppe ein Dreieck bildete.
„Okay ihr beiden, ich möchte einmal kurz zu Beginn erklären, wie das hier heute ablaufen wird, damit keine Missverständnisse auftreten und wir gut vorankommen. Ich bin jetzt für diese Sitzung nicht Lenas Therapeutin, sondern allparteilich, also neutral. Zwischendurch werde ich sicherstellen, dass ihr ein paar wichtige Kommunikationsregeln einhaltet. Dazu gehört, dass ihr beide nur Ich-Botschaften von euch gebt und keine Worte wie niemals oder immer nutzt, sondern stattdessen genau sagt, wann etwas auftritt. Habt ihr Fragen dazu?" Niall und ich schüttelten beide den Kopf. „Sehr gut, dann können wir anfangen", lächelte sie. „Ich möchte, dass ihr beide sagt, was ihr euch von dieser Sitzung versprecht. Niall, du kannst anfangen."
„Ich hoffe, dass ich Lenas Gedanken und Gefühle besser verstehen kann und damit auch besser auf sie eingehen kann." Ich wollte ihn schon unterbrechen, aber der warnende Blick der Psychologin hielt mich auf. Stattdessen lehnte ich mich wieder etwas zurück. „Ich wünsche mir, nachzuvollziehen, warum sie abweisend ist, obwohl ich doch nur helfen möchte. Und eigentlich hoffe ich, dass unsere Beziehung wieder wie vorher sein kann, aber ich weiß nicht, wie realistisch das ist." Der letzte Satz schien ihn viel emotionale Kraft zu kosten, denn ich sah die deutliche Bewegung seines Adamsapfels als er vorher schluckte. Mein Herz wollte in diesem Augenblick nur zu Niall und ihn in die Arme schließen, aber ich unterdrückte diesen Wunsch. Dafür waren wir jetzt nicht hier.
„In Ordnung, Niall", sagte Carly, als Niall länger schwieg und scheinbar fertig war. „Lena, bevor du deine eigenen Erwartungen formulierst, möchte ich, dass du Nialls Erwartungen so wiederholst, wie du sie verstanden hast."
„Ich muss einen Moment überlegen", sagte ich, weil ich darauf nicht vorbereitet war. Was war die Quintessenz aus Nialls Worten? „Ich habe verstanden, dass Niall mich besser verstehen möchte und sich wünscht, dass unsere Beziehung zueinander so ist wie vorher." Vor allem der letzte Teil machte mir irgendwie Angst. Niall hatte vorher so verletzlich gewirkt, als er das gesagt hatte, und Niall zu verletzen war wohl das letzte, was ich wollte.
„Niall, hast du es so gemeint, wie Lena das verstanden hat?", fragte Carly nach. Sie wollte es wohl ganz genau wissen.
„Den ersten Teil auf jeden Fall", stimmte er zu. „Aber ich wünsche mir nicht, dass unsere Beziehung zueinander so ist wie vorher, das habe ich vielleicht auch nicht ganz richtig formuliert. Ich meinte, dass ich die Hoffnung habe, dass die Art der Beziehung so wird wie zuvor, aber genau so wird sie niemals wieder sein und das ist auch irgendwo gut so. Wir sollten uns ja auch weiterentwickeln meiner Meinung nach."
„Okay, Lena?" Carlys Blick ging zu mir.
„Ja, ich habe es so verstanden, dass Niall hofft, dass unsere Beziehung wieder ähnlich wie zuvor wird, wir uns aber auch weiterentwickeln." Niall nickte auf meine Antwort.
„So, dann möchte ich dich bitten, deine Erwartungen für diese Sitzung zu formulieren, Lena."
„Ich habe irgendwie gar nicht so genaue Erwartungen an irgendetwas, das nach dieser Sitzung passiert", gab ich ehrlich zu. „Ich wünsche mir nur einen Raum, meine Gefühle darzulegen und Niall zu zeigen, wie ich denke und welche seiner Verhaltensweisen unangenehm für mich sein können."
Niall wiederholte meine Aussage fast wörtlich, was mich sehr beeindruckte, und die Psychologin scheinbar auch. „Sehr gut, dann beginnen wir jetzt damit. Lena, wenn du dich dafür bereit fühlst, darfst du jetzt alles ich-Bezogene loswerden, von dem du denkst, dass Niall das in diesem Augenblick wissen sollte. Wir hören erst einmal nur zu."
Das war mein Stichwort. Hier ging es schließlich letztendlich nicht um eine Paartherapie, sondern für mich darum, dass ich Niall begreiflich machen konnte, warum ich so abweisend war und das vielleicht auch weiterhin sein würde.
Ich erzählte von meinem Wunsch nach Selbstbestimmtheit, nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Das war meiner Meinung nach eins der wichtigsten Dinge, die Niall verstehen sollte. In der hilflosen Situation mit Lukas hatte ich mich ausgeliefert gefühlt und war nicht in der Lage, irgendetwas dagegen zu tun. Mein Schicksal war in seiner Hand. Und dieses Gefühl, diese Ohnmacht, wollte ich um jeden Preis vermeiden. Das bedeutete aber auch, dass ich mich Niall nicht schutzlos ausliefern konnte, darauf hatte mich vor allem die Arbeit mit Carly gebracht. Deshalb wollte ich sein Mitleid und seine Hilfe nicht und konnte es kaum ertragen, wenn er sich um mich kümmern wollte. Ich wollte ihm in keiner Weise untergeordnet sein, was ich aber vor allem in der Woche mit der Gehirnerschütterung war. Und das hatte dieses Gefühl Niall gegenüber noch einmal verstärkt.
Während ich erzählte sah ich Niall immer wieder nicken und hatte den Eindruck, dass er nun wirklich verstand, was in mir vorging. Als ich jedoch auf unsere Beziehung zu sprechen kam, und dass ich ihn vermisste, aber nicht wusste, wie es weitergehen sollte, schossen mir urplötzlich die Tränen in die Augen. Ich konnte nicht einmal mehr weitersprechen, so sehr schüttelten sie mich. Dass meine Psychologin mir sofort ein Taschentuch reichte nahm ich kaum wahr. Alles was ich spürte, war diese tiefe Verzweiflung, dass Lukas mich vielleicht kaputt gemacht hatte. Dass ich nicht mehr so mit Niall zusammen sein konnte, und das vielleicht niemals können würde. Ich hatte es ja auch ohne dieses Drama bisher nicht einmal geschafft, mit ihm zu schlafen oder auch nur davon in die Nähe zu kommen! Jetzt war dieser Wunsch nach körperlicher Nähe ganz weit in die Ferne gerutscht.
Die Tränen waren überhaupt nicht mehr aufzuhalten und flossen nur so mein Gesicht hinunter. Ich wollte doch mit Niall zusammen sein, warum konnte das nicht einfach funktionieren? War vielleicht doch unser großer Altersunterschied das Problem, weshalb ich mich ihm untergeordnet fühlte? Im Gegensatz zu Verhaltensweisen würden wir diesen niemals ändern können. Das konnte das Aus für uns sein.
Als eine Hand mich am Rücken berührte, erschrak ich für einen Moment, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Durch meine Tränen konnte ich kaum noch richtig sehen, und so wusste ich für einen Moment nicht, wessen Hand das war. Aber kurze Zeit später spürte ich die warme Energie, die er mir weitergab. Es war, als würde er mir Kraft schenken, aber er sagte gar nichts. Er stand einfach nur da und war bei mir, während meine Tränen langsam versiegten und ich mich wieder etwas beruhigte.
„Ich bin an deiner Seite", hörte ich Niall mit rauer Stimme flüstern. „Und solange du mich haben möchtest, bleibe ich bei dir, Lena. Egal welcher Sturm uns begegnet, wir werden ihm trotzen. Ich könnte mir momentan nicht vorstellen, ohne dich an meiner Seite zu leben."
Kann ich einmal von allen Seiten ein lautes Aww hören? Danach ist es mir auf jeden Fall zumute nach diesem Kapitel :) Ich hoffe euch hat es gefallen.
Ich weiß nicht, ob ihr das mit dem Handauflegen kennt, aber es gibt da eine Methode namens Reiki, die sozusagen Lebensenergie weitergeben soll, und darauf habe ich hier Bezug genommen.
Noch ein kurzes Update zu meinem Leben: Ich habe zwar eigentlich vorlesungsfreie Zeit, aber tatsächlich muss ich neben der Arbeit noch einige große Papers und Portfolios abgeben und komme deshalb gerade fast gar nicht zum Schreiben von Don't Worry. Ich möchte diese Geschichte aber eigentlich gern noch dieses Jahr beenden, also wenn ihr ein paar Stunden (und gaanz viel Motivation) übrig habt, immer her damit :D
LG Catrifa xx
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