12. Permissions
Die ganze Woche, in der wir in einem Raum geschlafen hatten und außerdem jede wache Stunde miteinander verbracht hatten, hatte Niall mich nicht einmal so berührt, wie er es jetzt tat. Er beugte sich zu mir rüber und küsste mich auf den Mund. Seine Lippen fühlten sich wunderbar weich an und tausendmal besser als alle anderen Küsse die ich bisher erlebt hatte. Vor lauter Aufregung darüber konnte ich nicht einen klaren Gedanken fassen und wurde schließlich erst aus dem Standby meines Gehirns gerissen, als mehrere Autofahrer hinter uns zu hupen begannen. Der Stau hatte sich aufgelöst.
Eine kurze Weile fuhren wir weiter, dann ergriff Niall wieder das Wort, ohne jedoch die Straße aus den Augen zu lassen. Ich konnte immer noch nicht richtig denken.
„Ähm", begann er. „Also, äh, ich hoffe das", er machte eine kurze Sprechpause, „ist in Ordnung? Für dich?" Es sah ihm gar nicht ähnlich so verhalten zu sprechen, was mich zum Nachdenken brachte. War das jetzt ein gutes oder schlechtes Zeichen? „Lena?" Fragend sah er zu mir rüber.
„Oh, eh, ja", bejahte ich. „Ja, das ist sozusagen absolut in Ordnung für mich." Obwohl sein Kuss alles andere als in Ordnung war. Eher perfekt. Oder wunderschön.
Was genau das alles bedeutete wusste ich nicht, aber in diesem Moment war es mir einfach egal. Irgendwann würde ich das schon rausfinden, und bis dahin konnte ich einfach glücklich sein.
Niall hielt den Wagen ganz in der Nähe des Flughafens.
„Ich kann leider nicht mit rauskommen, du weißt schon. Aber du kennst dein Gate und wenn du Orientierungsprobleme hast, kannst du ja einfach jemanden ansprechen", gab er mir mit auf den Weg. „Guten Flug und melde dich, wenn du angekommen bist, okay?"
„Mache ich", versprach ich. „Ich wünsche dir viel Spaß auf deiner Weltreise und so."
Er beugte sich noch einmal zu mir rüber und küsste mich kurz, was mein Gehirn erneut für einen Moment aussetzen ließ. Wow.
Dann machte ich Anstalten, auszusteigen, nahm meine Tasche von der Rücksitzbank, verabschiedete mich erneut von Niall und schlug die Autotür zu.
Mit beschwingten Schritten machte ich mich auf den Weg ins Flughafengebäude und zum Check-In Schalter. Dort stand ich erst in einer längeren Schlange, bis ich mein Ticket vorzeigen konnte.
Die Frau am Schalter sah mich erwartungsvoll an.
„Oh, brauchen Sie noch meinen Ausweis?", riet ich und kramte in meiner Tasche herum.
„Nein", antwortete diese. „Sie haben einen Koffer dazu gebucht. Haben Sie keinen Koffer?"
Scheiße. Siedend heiß fiel mir ein, dass sich dieser noch in Nialls Auto befand, und zwar im Kofferraum. Ich Trottel hatte den einfach dort vergessen und Niall war jetzt bestimmt schon auf dem Weg zurück nach Mullingar.
„Entschuldigen Sie bitte." Hochrot nahm ich mein Ticket wieder an mich, trat aus der Schlange und kramte nach meinem Handy. Dummerweise war es bereits ausgeschaltet, sodass es Ewigkeiten brauchte, um hochzufahren. Hatte Niall überhaupt eine Freisprechanlage im Auto? So etwas konnte wirklich nur mir passieren. Ich war durch Nialls Küsse so überfordert gewesen, dass ich nicht mehr an meinen Koffer gedacht hatte. Ich ging wieder in die Mitte der Eingangshalle, um dort frei telefonieren zu können und war so beschäftigt damit, mein Handy anzufeuern, dass ich nicht merkte, wie jemand meinen Namen rief.
„Lena!" Nun tippte derjenige mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und war so genervt von mir selbst, dass ich denjenigen anschnauzen wollte, bis ich merkte, wer da vor mir stand.
„Ich glaube du hast da noch was vergessen." Niall, verkleidet mit einem knallgrünen Hut und Sonnenbrille, obwohl es draußen eher grau als sonnig war, reichte mir mit einem Grinsen auf den Lippen meinen Koffer.
Vor Erleichterung fiel ich ihm um den Hals. „Du bist ein Engel! Ich bin echt zu blöd, an meinen eigenen Kram zu denken, tut mir leid, dass du jetzt doch noch aussteigen musstest."
„Kein Problem", lachte er. „Jetzt sieh aber zu, dass du deinen Flug erwischst! Ich melde mich nochmal bei dir, wann wir uns wiedersehen können." Erneut umarmten wir uns, dann stellte ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag an die Schlange am Check-In und hoffte, dass die Frau mich nicht wiedererkennen würde. Das war mir so peinlich.
Niall schrieb mir kurze Zeit später eine Nachricht, dass er nun in seinem Auto sitze und mir einen guten Flug wünsche. Ich musste lächeln und steckte mein Handy dann weg.
Zuhause hatte ich jetzt noch eine Woche lang Ferien und die wollte ich nutzen, um mich für den Rest des Schuljahres auszuruhen. Ich wollte noch einmal richtig Gas geben in der Schule, um für mein Berufsziel die besten Noten zu sammeln. Die würde ich brauchen, sollte ich tatsächlich ohne Abitur anfangen wollen, zu studieren. Den Großteil der Zeit dachte ich allerdings an Niall, was bei meinen Eltern dahingehend nicht unbemerkt blieb, dass sie mich fragten, warum ich so gut gelaunt sei. Ich konnte einfach nicht aufhören, beim Gedanken an Niall zu lächeln. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich in meinem Zimmer saß und auf ein Foto von ihm in meinem Handy starrte, das ich in Irland gemacht hatte. Immer wieder stellte ich mir seine Stimme vor, und wie er mich umarmte. Seine Umarmungen waren wirklich toll.
Ich hatte mich bei mehreren Stipendiengebern, vor allem in England und vorrangig London, beworben, um mein Studium an der Universität von Professor Palmer beginnen zu können. Langsam trudelten deshalb die ersten Briefe ein und ich führte ein ernstes Gespräch mit meinen Eltern über meine geplante Zukunft.
Natürlich waren sie erstmal überhaupt nicht davon begeistert, dass ich es in Betracht zog, die Schule abzubrechen. Damit hatte ich allerdings gerechnet, weshalb ich den Mut nicht verlor. Ich erklärte ruhig, welche Chancen ich möglicherweise in London haben würde, sollte ich es tatsächlich zu einem Stipendium schaffen. Ich erklärte außerdem meine Möglichkeit, die Schule in London zu beenden und dort meine Prüfungen zu den A-Levels zu schreiben.
„Aber diese A-Levels, sind die dann genau so viel wert wie das Abitur?", wollte mein Vater wissen.
„Das sind sie", erklärte ich geduldig. „Wir können es ja erstmal so belassen und abwarten, ob jemand mir ein Stipendium anbietet. Dann können wir immer noch weitersehen, ob es was wird oder nicht."
„Du bist aber erst siebzehn", gab meine Mutter zu bedenken und machte sich, in diesem Fall, berechtigt Sorgen. „So kannst du doch nicht in London leben. Damals bei Sony Music war das ja etwas ganz anderes, weil du ständig in Begleitung von Volljährigen unterwegs sein konntest. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten sicher viel zu hoch."
„Viele Leute meinten, dass ich mir einfach eine WG suchen könnte, wo ich doch so viele Leute in London kenne. Vielleicht kann ich auch erstmal bei Lilly und Peter wohnen", zog ich in Erwägung. „Und mein Alter ist zum Glück gar kein Problem, das Semester fängt nämlich erst Mitte Oktober an." Ich hatte mich schließlich extra informiert, weil auch mir mein junges Alter Sorgen gemacht hatte.
Meine Eltern schienen sich jetzt auch langsam mit der Idee anzufreunden, wie ich sehen konnte.
„Du kennst in London ja wirklich viele Leute", murmelte meine Mutter. „Und wenn alles bezahlt würde, sähe es auch schon ganz anders aus."
„Aber bist du dir sicher, dass du so lange von uns weg willst? Vielleicht ist es doch besser, in Deutschland zu studieren?", machte mein Vater sich jetzt doch mehr Sorgen. „Wie willst du da überhaupt deinen Führerschein machen? Du hast dann kein Auto. Und zudem fahren die alle auf der falschen Straßenseite!"
An meinen Führerschein hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber mein Vater hatte Recht, dass es durchaus Sinn machte, den hier zu machen.
„Sie ist doch noch ein bisschen hier. Lena, wenn du jetzt mit dem Führerschein anfängst, schaffst du das sicher bis zum Schuljahresende!", bekam ich überraschend Unterstützung von meiner Mutter.
„Dann sieht das schon wieder anders aus", nickte mein Vater. „Wenn du deinen Führerschein hast bis du weg willst, lasse ich auf jeden Fall mit mir reden."
Das klang nach einem vernünftigen Deal. Irgendwie kam ich mir plötzlich so alt vor, als ich zur Fahrschule ging um mich dort anzumelden. Autofahren taten Erwachsene. Ich dagegen fühlte mich plötzlich so gar nicht mehr erwachsen. Vor allem nicht, wenn ich an Niall dachte. Dann fühlte ich mich ein bisschen wie eine durchgeknallte Teenagerin. Vielleicht war ich das aber auch.
Ich musste mir nur noch darüber klar werden, ob ich mein Elternhaus wirklich schon verlassen wollte. Irgendwie war ein möglicher Auszug meinerseits bisher in so weiter Ferne gewesen, dass ich mir darum noch keine Sorgen oder Gedanken gemacht hatte. Aber langsam wurde es ernst.
In den bisherigen Umschlägen von britischen Firmen, die mit Tonproduktion zu tun hatten, waren bis auf einmal nur Absagen zu finden gewesen. Die eine Firma, die zugesagt hatte, lag aber am weitesten weg von der Universität, auf die ich plante zu gehen, und es war außerdem nur ein sehr kleines Unternehmen mit drei Mitarbeitern. Dort wollte ich eher ungern landen. Wie diese mir ein Stipendium finanzieren wollten, konnte ich mir auch nicht ausmalen, aber offensichtlich schienen sie ja eins zu vergeben zu haben.
Sony Music hatte sich noch nicht bei mir zurückgemeldet, aber Tony Shaw, mit dem wir damals gesprochen hatten, hatte mir versichert, dass das der Normalität entspreche.
Bei all diesen Gedanken, die ich mir zu meiner Zukunft machte, kamen meine wenigen Freundinnen in meiner Heimatstadt definitiv zu kurz.
Vor allem mit Finja hatte ich irgendwie kaum noch etwas zu tun. Als wir uns einmal in der Stadt trafen, wussten wir gar nicht so richtig, worüber wir miteinander reden sollten, weil ich eben plante, mein Leben in eine ganz andere Richtung einschlagen zu lassen. Finja konnte damit leider nicht so viel anfangen. Sie würde ihr Abitur machen und dann in der Nähe, vielleicht sogar in Hannover, studieren, damit sie erstmal zuhause wohnen bleiben konnte.
In der Schule strengte ich mich richtig an und nahm zudem jede Gelegenheit wahr, ins Tonstudio meines Onkels zu fahren, um dort zu üben. Immer wieder, wenn ich in diesen Räumen glückliche Stunden verbracht hatte, wurde mir klar, dass es genau das war, was ich später machen wollte und womit ich vorhatte, Geld zu verdienen.
Ich bekam schließlich von der Universität, an welcher Professor Palmer Dozent war, eine Zusage, dass ich dort studieren können würde, sollte ich durch ein Stipendium unterstützt werden. Das war alles, was ich mir erhofft hatte, denn eine Zusage zu einem Stipendium hatte ich schließlich schon.
Unter all diesem Stress kam ich kaum dazu, mit Niall zu skypen und vermisste ihn immer mehr. Ein Treffen fiel komplett aus dem möglichen Rahmen, weil Niall sich inzwischen nach Asien begeben hatte und diesen Kontinent zusammen mit Basil unsicher machte. Dazu schickte er mir jedoch regelmäßig Fotos von sich, bei denen ich öfter als gewollt grinsen musste. Ich freute mich richtig für ihn, wie viel Spaß er dort zu haben schien.
Bei einer Skypesession, die wegen der Zeitverschiebung am Wochenende stattfand, sprach ich mit Niall über meine Pläne, zum Spätsommer hin nach London zu ziehen. Wie erwartet freute er sich mit mir über die zwei Zusagen.
„Außerdem können wir uns dann endlich wiedersehen", fügte er mit einem verschmitzten Grinsen hinzu.
„Da hast du Recht", musste ich zustimmen und fühlte, wie mein Herz einen Hüpfer machte. „Glaubst du, ich sollte mir Sorgen machen, weil Syco sich immer noch nicht gemeldet haben? Von denen hätte ich ja am liebsten das Stipendium, weil ich alle schon kenne."
„Ach, mach dir keine Sorgen", schüttelte Niall seinen Kopf. „Selbst wenn sie sich nicht mehr melden, hast du trotzdem, was du wolltest. Und wenn du doch noch zu Sony willst, hast du immer die Möglichkeit, vor Ort eine Änderung zu erwirken. Das geht sowieso immer besser, glaub mir. Wir schaffen das schon." Er sagte wir, was mich zum Grinsen brachte.
„Ich werde auf jeden Fall versuchen, in den nächsten Tagen ein bisschen herumzutelefonieren und nach einer Wohnung zu schauen", teilte ich Niall mit. „Wenn ich eine WG finde, wäre das super, weil ich die Wohnungspreise in London unter keinen Umständen bezahlen kann. Einen kleinen Nebenjob werde ich mir sowieso suchen müssen."
„Vielleicht hast du da Glück und Sony braucht Hilfe im Tonstudio. Eigentlich stellen die gern Studenten an. Und dann könntest du gleich ein bisschen in deinem späteren Job üben. Zudem müsstest du nicht kellnern oder in einem Café arbeiten. Ich glaube das machen die wenigsten Studenten wirklich gern", gab er mir einen Tipp.
„Da hast du vermutlich recht", stimmte ich ihm zu. „Ich versuche momentan, noch möglichst viel Geld im Tonstudio von Onkel Wilfried zu verdienen, aber das gestaltet sich zeitlich gesehen schwierig. Ich mache jetzt nämlich auch noch meinen Führerschein."
Das schien Niall aus den Socken zu hauen. „Wie jetzt, du machst deinen Führerschein? Darfst du das überhaupt schon?", fragte er verwundert nach.
„In Deutschland kann man seinen Führerschein schon mit siebzehn machen", teilte ich ihm grinsend mit.
„Also das ist unfair", erboste er sich. „Ihr dürft mit sechzehn Bier trinken und mit siebzehn Auto fahren. So etwas Gemeines."
„So ist das Leben." Ich zuckte mit den Schultern und lachte ihn aus. Es war herrlich, dass der Umgang mit Niall wirklich einfach war.
„Du, Lena, ich muss jetzt glaube ich auflegen, wir wollen nämlich heute noch weiterfliegen und Basil klopft schon die ganze Zeit", bemerkte Niall.
„Richte ihm mal liebe Grüße aus", gab ich Niall mit auf den Weg. „Und viel Spaß euch beiden."
„Haben wir sicher." Er zwinkerte mir zu. „Tschüss, und viel Spaß noch beim Herumtelefonieren!"
Ich warf noch einen letzten Blick auf den blondierten Iren, drückte auf den roten Hörer des Skypeanrufs und klappte dann meinen Laptop zu. Als erstes würde ich Lilly anrufen, ob ich zumindest in der ersten Zeit bei ihr und Peter unterkommen könnte. Und dann hatte ich eine recht lange Namensliste abzuarbeiten. Alles Leute, die in London lebten und mich möglicherweise bei sich aufnehmen würden.
Ich wählte Lillys Nummer und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Das würde ein langer Tag am Telefon werden.
Die arme Lena vermisst Niall ganz schön. Wie fandet ihr den Kuss und ihre Verpeiltheit am Flughafen? Also mir jedenfalls ist es noch nicht passiert, dass ich meinen Koffer irgendwo vergessen habe. Habt ihr schon einmal etwas ähnliches erlebt?
Natürlich sehen die beiden sich auch sehr bald wieder. Wie dieses Wiedersehen abläuft, könnt ihr im nächsten Kapitel lesen, das ich in zwei Wochen am Dienstag, den 9. Mai hochladen werde.
Liebe Grüße, Catrifa x
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