8 - Dem Tod so nahe
Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegen schwarze Ringe und dicke Tränensäcke unter meinen geschwollenen Lidern.
Ich fühle mich schrecklich.
Nicht nur, weil drei Stunden Schlaf eindeutig zu wenig waren, sondern auch, weil mein Schädel brummt, weil mein Magen knurrt und weil mir kalt ist.
Das sind definitiv keine perfekten Voraussetzungen, um in den Tag zu starten – wohlbemerkt in den Geburtstag meiner verstorbenen Mutter.
„Guten Morgen, Schätzchen", begrüßt mich Granny, als ich verschlafen die Küche betrete. Ihre graublauen Augen mustern mich skeptisch über den Rand ihrer Brille hinweg, ehe sie hinzufügt: „Du siehst schrecklich aus."
„Danke", erwidere ich bloß grummelnd. „Genauso fühle ich mich auch."
Rider, der bereits putzmunter am Frühstückstisch hockt und wie ein Staubsauger Müsli in sich hineinschaufelt, scheint es deutlich besser zu ergehen als mir.
Er wirkt ausgeschlafen und fit. Von der Trauer, die ihn an diesem besonderen Tag eigentlich zerfressen sollte, ist noch nichts zu sehen.
Ob das bloß die Ruhe vor dem Sturm ist? Ich vermute es.
„Wie war dein Abendessen gestern?", erkundigt sich Granny neugierig bei mir, während sie mir ein Brot mit Käse und Tomaten zubereitet.
„Gut."
Dass ich mich übergeben musste und gegen ein Polizeiauto getreten habe, verschweige ich aus Sicherheitsgründen mal lieber. Nachher bin ich noch diejenige, die sich eine Standpauke anhören muss, obwohl mein Bruder diese viel mehr verdient hätte.
Zum Glück belässt es Granny bei dieser einen Frage und erzählt mir beim restlichen Frühstück von dem Spieleabend mit Rider. Das Strahlen in ihren Augen und das verträumte Lächeln auf ihren Lippen verraten mir, wie sehr sie die Zeit mit ihrem Enkel genossen hat.
Viel zu oft vergesse ich, dass auch Granny an Riders Drogen- und Alkoholproblem schwer zu knabbern hat.
Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mum und Dad gestorben sind, war mein Bruder ihr absolutes Lieblingsenkelkind. Mindestens dreimal in der Woche haben sie sich gesehen, um entweder durch die Stadt zu schlendern oder Gesellschaftsspiele zu spielen.
Umso schmerzhafter muss es für Granny sein, machtlos dabei zuzusehen, wie Rider immer mehr auf die schiefe Bahn gerät.
Leider habe auch ich keine Idee, wie wir ihn vor dem tiefen Sturz bewahren können.
„Gehst du gleich mit mir zu Mums Grab, Helin?", reißt mich plötzlich Riders fragende Stimme in die Realität zurück. Im ersten Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich mich bloß verhört habe, doch sobald er ein flehendes „Bitte!" hinterherschiebt, weiß ich, dass mir meine Ohren keinen Streich gespielt haben.
Rider möchte tatsächlich unsere Eltern auf dem Friedhof besuchen und das, obwohl er seit ihrer Beerdigung vor acht Monaten nicht mehr dort war.
Ich selbst war auch nicht gerade oft an ihrem Grab, aber mindestens einmal in der Woche. Mit ihnen zu sprechen, hat mir gutgetan.
Auf einmal flammt Hoffnung in mir auf.
Vielleicht realisiert Rider selbst, dass er seinen Kummer mit den falschen Mitteln bekämpft, wenn wir an dem Grab unserer Eltern stehen. Jetzt, wo er ausnahmsweise mal nicht unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol steht, kann er sein Verhalten besser reflektieren.
„Ä-Ähm", stammele ich schließlich überfordert. „Natürlich gehe ich mit dir zu Mums Grab."
Auch wenn ich es nach außen nicht zeige, macht es mich unfassbar glücklich, dass Rider gemeinsam mit mir auf den Friedhof gehen möchte. Dadurch gibt er Granny und mir die Hoffnung, dass er den Kampf gegen die Drogen und den Alkohol doch noch gewinnen kann.
Rider ist stark – so viel stärker, als er es sich selbst zutraut.
Wenn jemand genug Kraft hat, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, dann ist es mein Bruder.
Eine halbe Stunde später finden sich Rider und ich auf dem Friedhof wieder. Den Weg hierher haben wir schweigend verbracht, doch jetzt, wo wir unseren Eltern plötzlich so nahe sind, keimt das Bedürfnis in mir auf, mit ihm zu sprechen.
Ich muss wissen, wie es in Riders Innerem aussieht.
Ist er genauso zerrissen wie ich?
„Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun möchtest?", frage ich ihn mit zittriger Stimme.
Um ehrlich zu sein habe ich ein bisschen Angst davor, dass ihm der Anblick des Grabsteins den letzten Tritt in den Abgrund verpassen könnte. Im Gegensatz zu mir hat Rider den Tod von Mum und Dad nie richtig verarbeitet.
Seine Emotionen werden überkochen und ich weiß nicht, ob er an diesem Tag dafür gewappnet ist.
„Was ist das denn für eine blöde Frage?", keift Rider und verdreht dabei seine braunen Augen. „Natürlich bin ich mir sicher."
So entschlossen wie in diesem Moment habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen.
Während wir also den Friedhof betreten und ich meinen Bruder zu dem Grab unserer Eltern lotse, klopft mir mein Herz viel zu schnell gegen die Brust. Mein Körper zittert und mir ist ein wenig schwindelig.
Anfangs war ich zwar jede Woche beim Grab, aber diese Regelmäßigkeit hat irgendwann nachgelassen. Das letzte Mal war ich vor zwei Monaten hier – an dem Tag, an dem Carry herausgefunden hat, dass ich ihr Geheimnis weitererzählt habe.
Ich hätte auch danach herkommen sollen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Eltern enttäuscht zu haben. Sie haben mir schließlich von klein auf beigebracht, wie wichtig die Freundschaft ist.
Dass ich Carry ein Messer in den Rücken gerammt habe, wird sie an ihrer Wertevermittlung zweifeln lassen haben.
„Alles okay, Helin?" Riders Zeigefinger, der vorsichtig über meine Wange streicht, erlöst mich aus meinen Schuldgefühlen. „Du weinst."
Tatsächlich bemerke ich erst jetzt, dass brennende Tränen über meine Haut tanzen. Jede einzelne Glasperle drückt angenehm auf die Splitter meines Herzens und führt mir erneut vor Augen, was ich verloren habe: Nicht nur meine Eltern, sondern auch meine beste Freundin.
Kurz überlege ich, ob ich Rider von meinen Schuldgefühlen erzählen soll, entscheide mich letztlich aber dagegen. Mein Bruder hat genug eigene Probleme, gegen die er ankämpfen muss. Wenn ich ihm jetzt noch zusätzlich meine Bürden auflaste, bricht er endgültig zusammen.
„Mi-Mir geht e-es gut", schaffe ich es irgendwie zwischen mehreren Schluchzern hervorzubringen.
Mit jedem Schritt, mit dem wir uns dem Grab unserer Eltern nähern, sackt mein Herz ein kleines bisschen mehr in sich zusammen.
Ich vermisse Mum und Dad mehr, als ich mir in den letzten Monaten eingestehen wollte.
Ich vermisse es, wie mir Mum jeden Morgen die Bettdecke wegreißen musste, um mich aus dem Bett zu scheuchen.
Ich vermisse es, wie Dad mir immer heimlich Süßigkeiten in mein Lunchpaket gelegt hat, um mir den Tag zu versüßen.
Und ich vermisse es, wie mich Mum und Dad abends in ihre Arme geschlossen haben, um mir schöne Träume zu wünschen.
All die Kleinigkeiten, die ich jahrelang als selbstverständlich empfunden habe, sind plötzlich weg.
Schweigend kommen Rider und ich vor dem Grab von Mum und Dad zum Stehen. Passend zu meiner aktuellen Gefühlslage prasseln die ersten Regentropfen auf mich nieder, die sich mit meinen Tränen zu einer Einheit aus Trauer und Schmerz vermengen.
Christian und Claudia Wright steht in schnörkeligen Buchstaben auf dem Grabstein geschrieben. Darunter sind ihre Lebzeiten und eine Rose abgebildet.
Dad war vierundfünfzig Jahre auf der Erde, Mum nur neunundvierzig.
Sie mussten viel zu schnell gehen – so viel steht fest.
„Hier." Rider drückt mir eine weiße Rose in die Hand, die wir auf dem Weg zum Friedhof in einem kleinen Blumenladen gekauft haben.
Schon immer mochte unsere Mum weiße Rosen am liebsten. Rote Rosen waren ihr zu kitschig.
Gemeinsam legen Rider und ich die Rosen auf das Grab. Sofort wirkt es viel farbenfroher und lebendiger. Fast so, als hätten wir Mum wieder einen winzigen Funken Leben eingehaucht.
„Happy Birthday, Mum", murmele ich leise, während ich ihren Namen auf dem Grabstein fixiere. „Ich vermisse dich."
Immer mehr Tränen kullern über meine Wangen, bis ich in ein unkontrolliertes Schluchzen verfalle. Mein Körper zittert so stark, dass ich mich auf den Boden setzen muss, um nicht zusammenzubrechen.
Es ist grausam, diesen besonderen Tag im Regen auf einem Friedhof verbringen zu müssen.
Eigentlich würden wir jetzt mit Mum und Dad in einem netten Café sitzen und frühstücken, bevor wir alles für die große Party vorbereiten würden.
„Ich vermisse dich auch schrecklich, Mum", ertönt plötzlich Riders weinerliche Stimme neben mir. Er hat sich neben mich gehockt und einen Arm um mich gelegt. Wie auch bei mir selbst kullern brennende Tränen über seine Wangen.
„Ohne dich und Dad ergibt mein ganzes Leben keinen Sinn mehr", fährt mein Bruder leise fort. „So oft habe ich mir schon gewünscht, endlich wieder bei euch zu sein."
Diese Worte aus Riders Mund zu hören, schockiert mich.
Zwar war mir bewusst, dass ihm der Tod von Mum und Dad schwer zu schaffen macht, aber dass er von Selbstmordgedanken verfolgt wird, hätte ich niemals für möglich gehalten.
Rider ist für mich immer noch der kleine Sonnenschein, der er als Kind war. Ihn nun als gebrochene Seele mit düsteren Gedanken wahrnehmen zu müssen, verpasst mir einen unangenehmen Schlag in die Magengrube.
„Rider." Sein Name kommt wie Gift über meine Lippen. Es fällt mir unheimlich schwer, in seine haselnussbraunen Augen zu schauen, die denen von Dad so ähnlich sind, ohne dabei die Beherrschung zu verlieren. „Du-" Ich breche ab. Stattdessen lasse ich mich von einem Schwall Tränen umhüllen, der mir das Herz aus der Brust reißt.
Rider und Granny sind die einzige Familie, die mir noch geblieben ist. Ich würde es nicht verkraften, einen von beiden zu verlieren.
„Lass mich bitte kurz allein, Helin, ja?" Mein Bruder schaut mich so flehend an, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
Wenn er endlich bereit dazu ist, sich seinen Gefühlen hinzugeben, dann sollte ich ihm nicht im Weg stehen.
Mit klopfendem Herzen und Beinen aus Wackelpudding erhebe ich mich vom nasskalten Boden. Nur langsam entferne ich mich von Rider, um gegebenenfalls einschreiten zu können, falls er etwas Dummes machen sollte.
Dazu kommt es aber glücklicherweise nicht.
Mein Bruder kniet sich nämlich bloß vor das Grab und redet mit unserer Mutter. Dass dabei Unmengen an Tränen über seine Wangen strömen, kann ich auch aus der Entfernung erkennen.
Es tut weh, ihn so gebrochen zu sehen.
Ich möchte ihn heilen, doch wie soll ich jemandem helfen, wenn ich mich täglich an den Scherben meines eigenen Lebens schneide?
„Ich bin fertig", lässt mich Rider fünf Minuten später wissen. „Möchtest du auch nochmal mit Mum reden?"
Ich schüttele den Kopf.
Auch wenn sie heute fünfzig Jahre alt geworden wäre, kann ich mich jetzt nicht auf sie konzentrieren. Ich muss mich um meinen Bruder kümmern und dafür sorgen, dass er seine düsteren Gedanken bekämpft.
„Rider?" Während wir den Weg zu Grannys Haus antreten, wage ich es endlich, ihn anzusprechen. „Hast du das auf dem Friedhof ernst gemeint? Dass du dir wünschst, wieder mit Mum und Dad vereint zu sein?"
Kurz scheint es, als hätte ich Rider mit meiner Frage überrumpelt, denn er schluckt schwer. Dann nickt er jedoch langsam.
„Ja." Eine einzige Träne löst sich aus seinem rechten Augenwinkel. „Der Schmerz bringt mich noch um, Helin. Ich schieße mich ja nicht grundlos mit Alkohol oder Drogen ab. Ich möchte dem Schmerz entfliehen. Kannst du das verstehen?"
Dieses Mal liegt es an mir, zu nicken. Ich weiß ganz genau, was er meint.
„In den ersten Wochen nach Mum und Dads Tod ging es mir genauso schlecht wie dir, Rider. Doktor Griffin hat mir dabei geholfen, ihren Tod zu verarbeiten. Der Schmerz ist zwar immer noch da, aber dafür ist er viel erträglicher geworden. Vielleicht solltest du auch mal in ihre Sprechstunde gehen. Sie kann dir helfen. Das weiß ich."
Meine Stimme klingt vorsichtig und zurückhaltend, da ich meinen Bruder nicht verschrecken möchte. Wann immer ich ihn in der Vergangenheit zu einer Therapie überreden wollte, hat er die Fassung verloren und mich beschimpft. Einmal hat er sogar ein Glas nach mir geworfen.
„Weißt du, was ich so beschissen an diesen Psychodocs finde? Sie wollen, dass wir vergessen und lernen, loszulassen. Das möchte ich aber nicht. Ich möchte Mum und Dad nicht vergessen!"
Riders angsterfüllter Blick trifft mich mit solch einer Intensität, dass mir kurz jegliche Luft aus den Lungenflügeln entweicht. Ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen, doch aktuell kann ich ihn nur in meine Arme schließen.
Wie zwei Ertrinkende klammern wir uns aneinander und versuchen uns gegenseitig Halt zu geben. Dass wir uns bloß noch tiefer in den Strudel aus Tränen und Herzsplittern stürzen, wird mir erst bewusst, als wir leise schluchzen.
Rider und ich sind zwei gebrochene Seelen.
Schuld daran ist irgendein geisteskranker Kerl, der sich selbst in die Luft gesprengt hat.
„Ich weiß, dass du das nicht verstehst, aber die Drogen und der Alkohol helfen mir dabei, den Schmerz in meiner Brust zu kompensieren", flüstert Rider unter Tränen in mein Ohr. „So muss ich wenigstens nicht vergessen."
„Du weißt, dass das falsch ist!", erwidere ich. „Du hast Drogen und Alkohol bis vor acht Monaten verabscheut, Rider! Doktor Griffin lässt dich nicht vergessen. Sie hilft dir, mit dem Schmerz umzugehen."
Verzweifelt schaue ich meinen Bruder an, doch er hört mir schon gar nicht mehr zu.
„Tja, manchmal ändern sich die Meinungen." Mit diesen Worten löst er sich aus meinen Armen, um mir noch besser aus seinen verweinten Augen entgegenblicken zu können. „Mum zuliebe bin ich nüchtern zu ihrem Grab gegangen. Jetzt muss ich mich aber wieder volllaufen lassen, bevor ich mir noch selbst etwas antue."
Riders Worte hinterlassen eine eisige Gänsehaut auf meinem Körper. Sie fühlen sich wie ein Schlag ins Gesicht an, nur härter und mitten ins Herz.
Rider ist gerade mal sechszehn Jahre alt. Er sollte nicht so denken.
Sein ganzes Leben wartet noch auf ihn. Es einfach so wegzuschmeißen, wäre dämlich.
„Tut mir leid, Helin." Langsam lässt er meine Hand los, ehe er mit großen Schritten aus meinem Blickfeld verschwindet.
Gleichzeitig erlischt damit auch der winzige Funke Hoffnung in mir, dass alles wieder normal werden könnte.
Rider braucht professionelle Hilfe. Nur leider ist er zu verletzt, um diese anzunehmen. Er kann nicht mehr klar denken, weil die Drogen sein Hirn vernebeln.
Ich bin auf dem besten Weg, meinen Bruder zu verlieren.
Es fällt mir unfassbar schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht mitten auf dem Bürgersteig zusammenzubrechen. Die heutigen Ereignisse haben mich so sehr erschüttert, dass ich am liebsten die Zeit zurückdrehen würde, um den Platz meiner Eltern einzunehmen.
Vielleicht hätte mein Tod Rider nicht so sehr aus der Bahn geworfen?!
Erschöpft und verweint erreiche ich Grannys Haus. Meine Hände zittern wie Espenlaub, als ich die Tür aufschließe und mich wenig später an der Wand hinabsinken lasse.
Immer mehr Tränen bahnen sich ihren Weg an die Freiheit, damit sie mir die Luft zum Atmen rauben können.
Ich habe das Gefühl, in Flammen zu stehen und bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Das soll aufhören! Der Schmerz in meiner Brust soll endlich nachlassen!
Kaum ist dieser verzweifelte Hilferuf vollendet, klingelt es an der Tür. „Rider", murmele ich hoffnungsvoll, während ich mich kraftlos auf die Beine ziehe.
Ist er womöglich doch wieder umgekehrt, weil er eingesehen hat, dass Alkohol und Drogen ihn nicht retten können?
Ich hoffe es.
Meine Hoffnung wird allerdings einen Wimpernschlag später zunichte gemacht, als ich in giftgrüne Augen starre.
„Kaden?"
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