26 - Alles aus und vorbei
Eine unheimliche Stille, die mir die Luft aus den Lungenflügeln presst, legt sich über uns.
Kaden starrt mich schockiert aus seinen giftgrünen Augen an. Tränen der Fassungslosigkeit rinnen über seine Wangen und sein Körper bebt.
Tausend Fragezeichen zeichnen sich in seinem schmerzverzerrten Gesicht ab.
Er versucht, zu verstehen, aber das kann er nicht.
Er kann es nicht, weil er nicht das erlebt hat, was ich erleben musste.
Er weiß nicht, wie es sich anfühlt.
Wie der Schmerz an meinem Herzen nagt.
Wie die Angst meine Seele zerfrisst.
Wie der Kummer meine Gefühle ausrottet.
All das weiß er nicht. Und ich hoffe, dass er es nie wissen wird.
Die Narben, die meine Vergangenheit hinterlassen hat, wünsche ich niemandem. Erst recht keinem Menschen, der ein goldenes Herz besitzt und nur das Beste verdient hat.
„Wie-Wie meinst du das?" Kadens Stimme klingt gebrochen. Sein Blick ist nicht länger mit meinem verankert, sondern ruht auf den Glasperlen, die von seinem Kinn tropfen. Wie geplatzte Träume zerspringen sie auf dem Boden. „Wa-Warum gehst du na-nach Eng-England? I-Ich verstehe d-d-das nicht."
Ich schlucke schwer, doch der Kloß in meinem Hals löst sich nicht. Auch der Knoten in meinem Herzen entwirrt sich nicht.
Ich bin Kaden ein paar Antworten schuldig.
Da ich allerdings befürchtet habe, dass mir meine Tränen den Atem rauben würden, habe ich bereits heute Nacht einen Brief an Kaden geschrieben.
Es ist feige von mir, auf ein Stück Papier auszuweichen, aber ich möchte und kann die Worte nicht laut aussprechen. Dann wären sie nämlich real und davor habe ich Angst: Etwas zu sagen, was ich nicht mehr zurücknehmen kann.
Meine Finger zittern wie Espenlaub, als ich nach dem Briefumschlag, der neben mir auf dem Tisch liegt, greife und diesen an Kaden überreiche.
Ich kann sehen, dass er zögert, aber letztendlich reißt er den Umschlag auf und faltet das Papier, das unsere gemeinsame Zukunft zerstört, auseinander.
Jedes einzelne Wort, das ich niedergeschrieben habe, brennt noch wie ein Feuer unter meiner Haut - fast so, als hätten sie sich auf meiner Seele eingebrannt.
Ich spüre den Schmerz, der mich in der vergangenen Nacht gefesselt hat, und ich sehe die Tränen, die ich geweint habe.
Zusammen mit Granny und Carry saß ich auf dem Sofa. Mehr als zwei Stunden hat es gedauert, den Brief zu schreiben.
Ich bereue jedes einzelne Wort, das auf dem tränendurchtränkten Papier steht, aber gleichzeitig hat jedes von ihnen ein Stück Freiheit und Erlösung für meinen Schmerz bedeutet.
Mit einem Strick um dem Hals, der sich jede Sekunde enger zieht, denke ich an die Worte zurück, die ich für Kaden niedergeschrieben habe.
Lieder Kaden,
ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich diesen Brief anfangen soll. Vielleicht mit einem „Lebe wohl"? Oder doch lieber mit einem „Bis bald"? Ich weiß es wirklich nicht.
Die letzten Wochen waren hart, aber gleichzeitig auch wunderschön. Du hast mir ein Leben abseits von Kummer und Schmerz gezeigt und dafür bin ich dir sehr dankbar.
Ich wünschte, ich könnte ewig mit dir in dieser rosaroten Seifenblase leben, allerdings hat mich die Realität wieder eingeholt.
Meine Eltern sind tot. Mein Bruder sitzt in einer Entzugsklinik. Und mein Ex Freund wollte mich erwürgen.
Es ist zu viel passiert, Kaden. Ich habe versucht, den Schmerz auszublenden, aber das war die falsche Entscheidung. Ich hätte ihn zulassen und dagegen ankämpfen müssen.
Ich habe es nicht getan, weil ich den Schmerz für dich verdrängt habe. Weil ich für dich nicht bloß das Mädchen mit dem gebrochenen Herzen sein wollte. Weil ich für dich ein neuer und vielleicht auch besserer Mensch werden wollte.
Aber das funktioniert nicht.
Der Schmerz hat mich wie schon gesagt eingeholt - stärker als je zuvor.
Ich kann diese Last nicht tragen. Ich breche darunter zusammen.
Alles hier in Beaufort erinnert mich an meinen Schmerz.
An meine Eltern. An meinen Bruder. An meinen Ex Freund.
Ich habe sehr lange mit dieser Entscheidung gehadert - um genauer zu sein, die ganze Nacht lang. Letztendlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich einen Neuanfang brauche.
Weit weg von hier.
An einem Ort, an dem sich meine Eltern damals kennen und lieben gelernt haben: In England.
Es tut mir leid, aber ich kann keinen anderen Menschen lieben, wenn ich nicht einmal mich selbst lieben kann.
Ich muss fortgehen, um zurück zu mir selbst zu finden. Um mich mit meinem Schmerz auseinanderzusetzen. Um irgendwann zurückkehren zu können.
Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, aber bitte respektiere meine Entscheidung.
Warte nicht auf mich, Kaden!
Vielleicht komme ich in drei Monaten, vielleicht aber erst in drei Jahren zurück.
Vielleicht auch gar nicht.
Ich weiß nicht, was mir die Zukunft bringt. Ich hoffe nur, dass sie mir das gibt, wonach ich suche: Seelenfrieden.
Ich werde die Worte nicht laut aussprechen, weil ich nicht möchte, dass du noch mehr leidest. Aber wenigstens auf Papier sollst du sie einmal gelesen haben.
Ich liebe dich, Kaden.
Pass auf dich auf!
Deine Helin
Während Kaden meinen Brief liest, zittert seine Hand. Sein Körper wird von einem Erdbeben heimgesucht und die Schluchzer verlassen unkontrolliert seine Lippen.
Genauso habe ich mich vergangene Nacht gefühlt. Einsam, verzweifelt und hintergangen.
Ich kann förmlich sehen, wie Kadens Herz entzweigeht - und das tut verdammt weh.
Ich wollte nie diejenige sein, die ihm wehtut. Erst recht nicht, nachdem ich ihm gestern versprochen habe, immer ehrlich zu ihm zu sein.
Ich wollte ihn vor dem Schmerz beschützen, der mir in den letzten neun Monaten widerfahren ist. Nur leider habe ich das nicht geschafft.
Ich habe zu spät bemerkt, dass ich Kaden am meisten wehtue, wenn ich ihm meinen Schmerz und meine Vergangenheit aufbürde. Er selbst hat seine eigenen Dämonen, mit denen er fertigwerden muss.
Ich würde uns beide zerstören und das möchte ich nicht. Dafür ist mir Kaden zu wichtig geworden.
Lieber breche ich jetzt sein Herz, statt in ein paar Monaten, wenn wir uns bereits viel zu tief in den Fängen der Liebe verstrickt haben.
Manchmal muss man jemanden loslassen, damit diese Person glücklich werden kann, richtig?
In diesem Fall geht es darum, dass sowohl Kaden als auch ich selbst glücklich werden. Nur eben nicht miteinander.
„Du läufst also einfach davon? Verstehe ich das richtig?" Kadens brüchige Stimme schneidet sich scharf durch meine Haut. „Du haust ab, weil dir alles zu viel wird? Statt dir helfen zu lassen, ziehst du den Kopf ein? Gott, Helin, das bist doch nicht du."
Von Schmerzen zerfressen schaue ich Kaden an. Die Tränen sind versiegt. Sein Körper zittert nicht mehr. Er wirkt gefasster als jemals zuvor.
„Die Frau, die ich kennengelernt habe, ist nicht feige. Sie würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen, sondern kämpfen. Sag mir bitte nicht, dass ich mich in dir getäuscht habe."
Ich ziehe scharf die Luft ein. Nach England zu gehen, ist die einzig richtige Entscheidung. Ich mache das schließlich nicht nur für mich selbst, sondern für uns beide.
Ist Kaden so blind vor Liebe, dass er nicht sieht, wie kaputt ich bin?
Während er nur seine Mutter verloren hat, habe ich meine Eltern, meinen Bruder und meinen Ex Freund verloren.
Ich bin ein Mensch und keine Maschine. Ich halte nicht unendlich viel Schmerz aus.
Jetzt habe ich meine Grenze erreicht.
„Ich kann verstehen, dass du eine verdammt harte Vergangenheit hinter dir hast. Mit dem Tod deiner Eltern hast du auch gleichzeitig deinen Bruder und deinen Freund verloren. Das ist Scheiße, keine Frage, aber das ist noch lange kein Grund, um einfach wegzulaufen."
„Ich laufe nicht weg", erwidere ich leise.
Bisher hatte ich immer das Gefühl, Kaden würde mich verstehen, doch ausgerechnet jetzt, wo ich die wohl wichtigste Entscheidung in meinem Leben treffen muss, versteht er mich nicht.
Er hält so sehr an seiner Liebe zu mir fest, dass er nicht sieht, dass ich mich selbst verloren habe.
„Bullshit!" Kaden donnert seine Faust auf den Küchentisch, sodass ich zusammenzucke. „Du läufst sehr wohl weg. Du hast Angst und das ist okay. Lass mich dir helfen, Helin. Zusammen können wir das schaffen. Ich mache alles, was du willst, nur bitte verlass mich nicht."
Hoffnung und Liebe kämpfen sich in seine grünen Augen zurück. Vorsichtig nimmt er meine Hand in seine und drückt diese sanft.
Wie erwartet macht mein Herz einen freudigen Hüpfer.
Natürlich möchte ich bei Kaden bleiben. Ich möchte ihn lieben und mir eine gemeinsame Zukunft mit ihm aufbauen. Ich möchte endlich ein normales Leben führen.
Aber es geht nicht.
„Ich kann nicht, Kaden."
Der Schmerz in meiner Brust rottet mich aus.
Ich muss weg von hier. Den Ort verlassen, an dem mein Schmerz entstanden ist.
Das ist meine einzige Möglichkeit, um zurück zu mir selbst zu finden. Zu der Frau, die ich vor all diesen grausamen Schicksalsschlägen war.
Gemeinsam mit Kaden vor der Realität zu flüchten, war schön. Es hat sich gut und richtig angefühlt. Allerdings möchte ich nicht nach jedem Tag, an dem ich Spaß hatte, mit meinem Kummer konfrontiert werden.
Ich muss mich meinen Dämonen stellen.
„Eigentlich dachte ich, dass du mich verstehen würdest, Kaden", murmele ich leise. Tatsächlich zittert meine Stimme nicht mehr. Ich schaffe es sogar, in Kadens Augen zu schauen, ohne dabei in Tränen zu zerfließen. „Ich werde nach England gehen. Für eine unbestimmte Zeit. Dort setze ich mich mit meiner Vergangenheit auseinander und finde zu mir selbst zurück. Das klingt hart, aber du würdest mich bloß ablenken."
Es ist die richtige Entscheidung, zu gehen.
Schon letzte Nacht, als ich mit Carry und Granny darüber gesprochen habe, hat es sich richtig angefühlt.
Ich brauche diese Auszeit von meinem Leben, um mir über Einiges klar zu werden. So grausam sich das auch anhören mag: Wenn ich Kaden dafür zurücklassen muss, dann werde ich das tun.
Mein Glück hängt nicht von einem Mann ab, sondern von mir ganz allein.
„Das kannst du mir nicht antun, Helin! Du hast versprochen, mir nicht weh zu tun. Du hast geschrieben, dass du mich liebst. Bedeutet dir das etwa gar nichts?" Mit Tränen in den Augen schaut Kaden mich an.
Das Gefühlschaos in seinem Inneren ist ihm deutlich anzusehen. Wut, Trauer, Hass, Sehnsucht, Liebe: Da sind so viele Emotionen in seinem Gesicht, dass mir beinahe schwindelig wird.
„Natürlich bedeutet mir all das etwas! Stell mich jetzt nicht als gefühlskaltes Monster dar, denn das bin ich nicht. Meine Versprechen und meine Liebe zu dir bedeuten mir sogar so viel, dass ich dich freiwillig gehen lasse. Einfach nur, damit du endlich glücklich wirst, Kaden. Ohne mich."
„So ein Schwachsinn!" Wieder kracht Kadens Faust mit der Tischplatte zusammen. „Nur du kannst mich glücklich machen, Helin. Verstehst du das denn nicht?"
Die Tränen laufen wie eine Horde Ameisen über seine Wangen.
Am liebsten würde ich ihn in meine Arme schließen und ihm sagen, dass alles wieder gut werden wird. Leider kann ich das aber nicht tun, da ich nicht weiß, ob das eine Lüge wäre.
„Du solltest jetzt gehen, Kaden", wispere ich beinahe tonlos. „Ich muss noch meine Tasche zu Ende packen, mir das Erbe meiner Eltern auszahlen lassen und nach einem geeigneten Hostel suchen. Ich werde gehen. Niemand kann mich daran hindern. Auch du nicht."
Erstaunlicherweise klinge ich selbstbewusst.
Innerlich gleiche ich allerdings einem Wrack. Ich bin tot. Ich möchte nur noch, dass dieses Chaos ein Ende nimmt.
„Und was ist mit deiner Granny?", startet Kaden einen weiteren Versuch, mir meine Idee aus dem Kopf zu schlagen. „Und Rider? Und Carry? Und deinen Eltern? Sie alle sind hier in Beaufort, Helin. Nicht in England."
„Ich weiß", murmele ich.
Gerade weil sie alle hier sind, muss ich gehen. Ich brauche Abstand, um mich mit meinen Gefühlen auseinandersetzen zu können.
Kaden versteht das nicht. Er versteht mich nicht.
„Im Gegensatz zu dir unterstützen Granny und Carry mich. Sie helfen mir nachher bei den letzten Vorbereitungen. Ein bisschen mehr Rückhalt von dir wäre auch ganz nett."
Dass meine Worte wie ein Schlag ins Gesicht sind, erkenne ich daran, dass Kaden zusammenzuckt. Schmerzverzerrt verzieht er sein Gesicht zu einer leidenden Miene.
„Wann wirst du wiederkommen, Helin?"
Es ist das erste Mal, dass ich so etwas wie Akzeptanz in seinen Augen sehe. Zwar ist dieser Funken nur klitzeklein, aber zumindest ist er da.
Endlich begreift Kaden, dass er mich nicht umstimmen kann. Dass er mich gehen lassen muss. Dass er nur ohne mich glücklich werden kann.
„Ich weiß es nicht", antworte ich Kaden ehrlich.
Ich werde so lange wegbleiben, bis ich zurück zu mir selbst gefunden habe. Bis ich mit dem Schmerz in meiner Brust leben kann. Bis ich meine Vergangenheit bewältigt habe.
„Vielleicht werden es nur ein paar Wochen sein, vielleicht aber auch mehrere Jahre."
„Okay." Kaden nickt. Er wischt sich die Tränen von den Wangen und erhebt sich dann vom Boden. „Ich werde auf dich warten, Helin. Tag und Nacht. Jede einzige Sekunde. So lange, bis du wieder bei mir bist."
Außer Atem schaue ich ihn an.
Seine Augen glänzen und seine Lippen lächeln. Kaden wirkt felsenfest entschlossen.
„Sobald du dann wieder bei mir bist, werde ich dich nie wieder gehen lassen. Ich werde dich heiraten, damit du für immer an meiner Seite bist. Du gehörst zu mir, das spüre ich."
Mit diesen Worten kramt Kaden eine Schmuckschatulle aus seiner Jackentasche und stellt diese auf den Tisch.
„Das ist übrigens keine Warnung", wispert er. „Das ist ein Versprechen."
Ohne noch einen weiteren Laut von sich zu geben, verlässt er die Küche.
Kein letzter Blick.
Keine letzte Umarmung.
Nichts.
Nur das Knallen der Haustür, welches mir verrät, dass er gegangen ist.
Wie von selbst sammeln sich Tränen in meinen Augen, die wenig später über meine Wangen kullern. Mein Körper zittert und mir ist schwindelig.
Kaden zu verlieren ist das Beste, aber gleichzeitig auch das Schlimmste, was mir passieren kann.
Ich weiß, dass ich das Richtige tue.
Eines Tages wird Kaden das auch verstehen.
Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass er seine Worte nicht ernst gemeint hat, denn ich möchte nicht, dass er auf mich wartet. Kaden soll sein Leben leben und nicht jeden Tag damit verschwenden, auf meine Rückkehr zu warten.
„Helin?" Granny und Carry erscheinen im Türrahmen. Mitleidige Blicke zieren ihre Gesichter. Vermutlich haben sie im Wohnzimmer jedes einzelne Wort, das wie Gift über unsere Lippen gekommen ist, gehört. „Wie geht es dir? Alles okay?"
Da meine Tränen eigentlich für sich sprechen sollten, verzichte ich auf eine Antwort. Stattdessen öffne ich das Schmuckkästchen, welches Kaden zurückgelassen hat.
In der Schachtel befindet sich ein silbernes Armband mit einem Herzanhänger.
Für immer ist dort eingraviert.
Ich kann nicht verhindern, dass bei diesen zwei Worten alle Staudämme brechen. Unkontrollierte Schluchzer verlassen meine Lippen und nagen an meinem Herzen.
Es tut so weh. Der Schmerz frisst mich auf!
Das soll aufhören!
„Helin!"
Wie in Trance nehme ich wahr, dass mich Granny und Carry in eine Gruppenumarmung verwickeln. Ihre Nähe verleiht mir in diesem besonderen Moment unheimlich viel Kraft und Stärke.
Sie sind der Anker in meinem Leben. Bald schon werde ich aber meinen eigenen Anker haben.
„Bist du dir wirklich sicher, dass das mit England die richtige Entscheidung ist?"
Mein Kopf schreit: „Nein!"
Mein Bauch schreit: „Nein!"
Mein Herz schreit: „Nein!"
Alles in mir schreit: „Nein!"
Doch meine Lippen sagen: „Ja!"
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