10 - Ein Duett aus Rache und Schmerz
Als ich am Montagnachmittag vom College heimkomme, ist alles zu seiner alten Normalität zurückgekehrt.
Rider und Hutson sitzen mit einer Flasche Vodka auf dem Sofa, Granny liest ein Buch in ihrem Lesesessel und von Kaden fehlt jede Spur.
Auch Carry ist immer noch wütend auf mich, denn als ich ihr heute im College über den Weg gelaufen bin, hat sie mich bloß mit einem emotionslosen Blick gestraft, bevor sie an mir vorbeigegangen ist.
Ob sie mir wohl jemals vergeben wird? Meine Hoffnung schwindet immer mehr.
Zwar würde ich mein Leben aktuell nicht als normal bezeichnen, aber wenigstens bleibt mir das Chaos, das am Wochenende wie ein Wirbelsturm durch meinen Kopf gefegt ist, erspart.
Ständig muss ich daran denken, was Granny zu mir gesagt hat.
„Hutson ist ein Idiot, Schätzchen. Keine Ahnung, warum du immer noch an ihm festhältst, obwohl er dir nicht guttut."
Vor zwei Jahren, als ich Hutson kennengelernt habe, war er noch ganz anders. Ich war seine Prinzessin, die er stolz auf Händen getragen hat.
Er war ein perfekter Freund.
Hat alles für mich gemacht, mir zugehört, mich unterstützt und mich geliebt.
Erst seit dem Tod meiner Eltern verhält er sich so merkwürdig.
Dass Mum und Dad diese Erde viel zu früh verlassen mussten, hat uns alle geprägt.
Hoffentlich lassen das ungesunde Bedürfnis nach Alkohol und Sex bald wieder bei Hutson nach. Auch sein aggressives und gleichgültiges Verhalten mir gegenüber kann er gerne wieder ablegen.
Ich möchte endlich den Jungen zurückhaben, an den ich damals mein Herz verloren habe.
„Hey, Babe." Kaum denke ich an meinen Freund, setzt sich dieser zu mir an den Wohnzimmertisch. „Ich hatte echt einen miesen Tag. Bläst du mir einen, damit ich mich besser fühle?"
Wie ein unschuldiger Hundewelpe blinzelt mich Hutson aus seinen eisblauen Augen an. Nur leider wirkt er dabei nicht niedlich, sondern gruselig.
Mal wieder zeigt er mir, dass ihm meine Liebe egal ist. Für ihn zählt ausschließlich die sexuelle Befriedigung.
„Können wir vielleicht erst reden?" Es fällt mir schwer, diese Frage zu stellen, da ich Angst vor Hutsons Reaktion habe.
Wenn ich möchte, dass sich etwas in unserer Beziehung ändert und wir die Schmetterlinge von damals wieder aufleben lassen wollen, dann muss ich dafür kämpfen.
Ich werde Hutson nicht aufgeben! Das bin ich ihm, uns und unserer Beziehung schuldig.
„Muss das sein?" Hutson verdreht genervt seine Augen.
„Bitte!"
„Na schön. Aber wehe du bläst mir danach keinen." Begleitet von einem Seufzen gibt mein Freund nach, sodass wir gemeinsam in mein Zimmer gehen und uns dort auf das riesige Boxspringbett setzen.
Wie von selbst greife ich nach dem kleinen Froschstofftier, welches Hutson letztes Jahr auf einer Kirmes für mich gewonnen hat, und drücke dieses an mich. Für die nächsten Minuten brauche ich jede Kraft, die ich bekommen kann.
Es ist an der Zeit, für Veränderungen zu sorgen!
„Wenn du nicht redest, kannst du auch andere Dinge mit deinem hübschen Mund anstellen, Baby", drängelt Hutson ungeduldig, nachdem ich über eine Minute schweige.
Mir schießen gerade so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich sie nicht richtig ordnen kann. Außerdem fällt es mir von Natur aus unheimlich schwer, Sachen anzusprechen, die mir nicht gefallen.
Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb mein Herz viel zu schnell gegen meine Brust hämmert und sich ein dünner Schweißfilm auf meiner Stirn bildet.
Übelkeit kämpft sich meine Speiseröhre hinauf, doch ich schlucke sie tapfer hinunter.
Augen zu und durch!
„In letzter Zeit habe ich irgendwie das Gefühl, dass unsere Beziehung nicht mehr so ist, wie sie eigentlich sein sollte", beginne ich zögerlich. Dummerweise zittert meine Stimme, sodass ich mich noch unsicherer anhöre, als ich mich eigentlich fühle.
Ich muss stark wirken, denn sonst nimmt mich Hutson nicht ernst.
„Ich kann dir sagen, woran das liegt, Baby", überrascht mich mein Freund mit seiner Antwort. „Wir haben zu wenig Sex!"
„Ernsthaft?" Ich schaue Hutson wütend an. Während ich versuche, ein ernstes Gespräch mit ihm zu führen, um unsere Beziehung zu retten, kann er wieder mal nur an Geschlechtsverkehr denken.
Der Hutson, in den ich mich vor zwei Jahren verliebt habe, hätte niemals mit solch einer dämlichen Aussage geantwortet. Er hätte mir zugehört und versucht, mich zu verstehen. Letztendlich hätten wir dann nach einer gemeinsamen Lösung gesucht, sodass unsere Liebe nur noch stärker geworden wäre.
Es macht mich traurig, dass ich diesen Hutson so gut wie gar nicht mehr zu Gesicht bekomme.
„Du denkst nur noch an Sex und zwingst mich ständig dazu, dir einen Blowjob zu geben!", traue ich mich endlich das auszusprechen, was mich schon seit mehreren Monaten belastet. „Du trinkst zu viel Alkohol, bist zu oft auf Partys und wirst viel zu schnell aggressiv. Außerdem verhältst du dich wie ein eifersüchtiger Kontrollfreak, der mir überhaupt nicht vertraut. So sollte ein Freund nicht sein, Hutson."
Außer Atem und mit rasendem Herzen starre ich meinen Gegenüber an.
Hutsons Mund ist leicht geöffnet, wohingegen seine blauen Augen von einem emotionslosen Schleier vernebelt werden.
Ich wünschte, ich könnte in seinen Kopf schauen, aber leider muss ich mit seinem verkniffenen Gesichtsausdruck vorliebnehmen.
Ob ihn meine Worte wohl wachrütteln?
Da ich spüre, wie der Mut langsam aus meinen Adern weicht, füge ich noch schnell hinzu: „Ich habe mich in dich verliebt, weil du witzig, charmant und abenteuerlustig warst, Hutson. Leider bist du gar nichts mehr davon."
Es ist das erste Mal, dass ich laut ausspreche, wie sehr sich Hutson verändert hat. Dadurch erscheint es mir plötzlich viel realer, dass ich die Person vor mir gar nicht mehr kenne und liebe.
Diese Erkenntnis schlägt wie eine Bombe in meinem Herzen ein.
Ich liebe Hutson nicht mehr.
Wenn ich ihn sehe, spüre ich keine Schmetterlinge mehr im Bauch.
Wenn ich ihn küsse, spüre ich kein Feuer mehr unter meiner Haut.
Und wenn ich mit ihm rede, spüre ich keine Verbundenheit mehr in unseren Herzen.
Eine Träne, die mit Kummer und Leid gefüllt ist, kullert über meine Wange.
Monatelang habe ich meine Augen vor Hutsons neuer Persönlichkeit verschlossen, weil ich ihn nicht verlieren wollte. Zwar möchte ich ihn immer noch nicht gehen lassen, weil ich mich vor dem Alleinsein fürchte, doch aktuell ist unsere Beziehung wie Gift für meine Seele.
Hutson tut mir nicht gut.
Er zwingt mich dazu, Dinge zu tun, die ich nicht möchte.
Er hört mir nicht zu und versteht mich nicht.
Während seine Bedürfnisse an oberster Stelle stehen, rücken meine komplett in den Hintergrund.
Auf dieser Basis kann eine Beziehung nicht funktionieren.
Ich bin Hutson sehr dankbar für die eineinhalb wunderschönen Jahre, die wir miteinander verbracht haben, doch jetzt ist die Zeit gekommen, um einen Schlussstrich hinter unser gemeinsames Kapitel zu setzen.
Nur ein einziges Mal in meinem Leben muss ich egoistisch sein und an mich selbst denken.
„Was redest du da für einen Schwachsinn?!", fährt mich Hutson plötzlich wütend an. Grob, fast schon gewalttätig, schubst er mich nach hinten, sodass ich mit dem Hinterkopf gegen das harte Kopfteil meines Bettes schlage.
Nicht nur Tränen sammeln sich daraufhin in meinen Augen, sondern auch Schwindel und Übelkeit fallen mit ihren langen Klauen über mich her.
„Du bist ganz schön undankbar, Helin!" Hutson beugt sich über mich und fixiert meine Handgelenke, damit ich mich nicht mehr bewegen kann.
Ganz langsam nähert er sich meinen bebenden Lippen. „Sei froh, dass ich mich überhaupt noch mit dir abgebe", zischt er leise. Jedes Wort, das über seine Lippen kommt, spuckt er wie Gift aus.
„Seit dem Tod deiner Eltern reden alle hinter deinem Rücken über dich. Ich wurde deshalb auch schon oft mit komischen Blicken gestraft. Ich bin ja schließlich der Freund des Mädchens, das sich nach dem Tod ihrer Eltern für ganze zwei Monate in dem Haus ihrer alten Großmutter eingesperrt hat. Die Menschen denken, dass du psychisch angeknackst bist. Mit mir hingegen haben sie Mitleid, weil du mich so kaltherzig aus deinem Leben gestoßen hast. Ich bin der Einzige, den du noch hast. Sei also verdammt nochmal etwas dankbarer!"
Mit jedem Satz, den Hutson wie einen Pfahl in meine Seele bohrt, sammeln sich mehr Tränen in meinen Augen. Mein Herz zerbricht und meine graue Welt fällt in sich zusammen.
Hutson lenkt das Thema extra auf meine Eltern, um mich verwundbar zu machen.
Ich weiß, dass die Menschen über mich reden. Ich weiß, dass die meisten denken, ich müsste in einer Klinik behandelt werden. Und ich weiß auch, dass mir viele mit Absicht aus dem Weg gehen.
Was Hutson bei seinen Anschuldigungen vergessen hat? Dass jeder einzelne Mensch dort draußen meinen Schmerz nachvollziehen kann. Niemand verurteilt mich dafür, dass ich Tag für Tag leide.
Außerdem hat Hutson gelogen. Er ist nicht der Einzige, der noch bei mir ist. Er ist lediglich der Einzige, der meine Trauer ausgenutzt hat.
„Du kannst froh sein, dass ich dich immer noch ficke! Andere Kerle hätten schon längst das Weite gesucht, nachdem du sie für zwei Monate hast sitzen lassen!"
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Meine Tränen versiegen, mein Herz zersplittert und meine Welt bleibt stehen.
Ich weiß jetzt, warum sich Hutson verändert hat.
Nachdem meine Eltern gestorben sind, ist für mich eine ganze Welt zusammengebrochen. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen und nicht mehr reden.
Alles, was ich getan habe, hat mich an Mum und Dad erinnert.
Da ich mir damals ebenso wenig wie Rider helfen lassen wollte, habe ich mich in Grannys Haus zurückgezogen, um den Schmerz in meiner Brust mit mir selbst auszufechten. Zwei Monate lang habe ich niemanden an mich herangelassen - mit Ausnahme von meiner Granny.
Ich wollte einfach allein sein und nicht von allen Seiten bemitleidet werden. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
Während Carry meine Entscheidung akzeptiert und mir meinen Freiraum gegeben hat, scheint Hutson sich davon persönlich angegriffen gefühlt zu haben.
Indem ich ihn von mir gestoßen und ihn aus meinem Leben ausgeschlossen habe, habe ich ihn verletzt.
Das Resultat? Ein emotionsloser Hutson, der sich nicht mehr um mich sorgt und nur noch für seine eigenen Zwecke missbraucht.
Das ist seine Strafe für mich. Er tut mir das an, was ich ihm damals angetan habe.
„H-Hutson." Meine Stimme zittert gefährlich, als ich seinen Namen sage. Noch immer hat sich mein Freund über mich gebeugt, sodass sich unsere Lippen beim Reden ganz leicht berühren. „Es tut mir leid. Ich hätte dich damals nicht von mir stoßen dürfen und deine Hilfe annehmen sollen. Du hast es nur gut gemeint, aber das habe ich nicht gesehen."
Tatsächlich schimmert für den Bruchteil einer Sekunde der alte Hutson in seinen eisblauen Augen durch. Der emotionslose Schleier lichtet sich und weicht einem Wirbelsturm aus Trauer, Reue und Sehnsucht.
Zu wissen, dass ich diesen gefühlskalten Mann aus ihm gemacht habe, tut unheimlich weh.
„Bitte verzeih mir!" Tränen kullern über meine Wangen, als ich den Abstand zwischen unseren Lippen überbrücke. Voller Verzweiflung versuche ich Leidenschaft in unserem Kuss zu entflammen, doch etwas, das bereits vor mehreren Monaten zu Asche verbrannt ist, kann nicht wieder brennen.
Genauso wenig werde ich unsere Beziehung retten können. Dafür ist schon zu viel kaputt gegangen.
Mein Herz bricht lautlos auseinander, sobald ich mich von Hutson gelöst habe.
In seinen eisblauen Augen schwimmen Tränen.
Tränen, die mir zeigen, dass er mir nicht verzeihen kann. Ich habe ihn zutiefst verletzt und das tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, um unsere Beziehung unter einen besseren Stern zu rücken, aber das kann ich leider nicht.
Ich allein bin schuld daran, dass ich meine erste Liebe verloren habe.
„W-Wir-" Meine Stimme bricht ab und wird stattdessen von einem kläglichen Schluchzer davongetragen.
Ich weiß, dass ich es laut aussprechen muss, aber ich kann nicht. Dann ist es nämlich real und nicht mehr nur in meinem Kopf zu Ende.
„Sag es", wispert Hutson so leise gegen meine Lippen, dass sein Atem kaum kräftiger als der Flügelschlag eines Schmetterlings zu spüren ist. „Sag es, Helin."
Ich schlucke schwer.
„I-Ich kann nicht."
„Sag es!", schreit mich Hutson wütend an. Dabei schneiden sich seine Fingernägel so schmerzhaft in meine Haut, dass mir ein leiser Schrei entflieht.
„Sag es verdammt nochmal, Helin!"
Mein ganzer Körper zittert und ich habe Angst. Ich kenne Hutson nicht mehr. Deshalb kann ich auch nicht einschätzen, wie weit er gehen würde.
Da mir also keine andere Wahl bleibt, lasse ich meine Augenlider zu flattern und murmele dann leise: „Wir sollten Schluss machen, Hutson. Unsere Beziehung ist zu kaputt, als dass wir sie noch retten könnten."
Statt Erleichterung zu verspüren, wird das Loch in meiner Brust bloß größer.
„Was?!" Hutson schaut mich so entsetzt an, dass es mir eiskalt den Rücken hinabläuft.
Seine Fingernägel bohren sich erneut in meine Haut und zwingen mich somit dazu, die Augen zu öffnen.
Hutsons Gesicht schwebt nur wenige Millimeter über meinem und ist vor Wut ganz verzerrt. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie gepresst und in seinen Augen tobt ein Sturm.
Wieder einmal merke ich, dass ich mich vor meinem eigenen Freund fürchte.
Vor einem Menschen, den ich einst geliebt habe, jetzt aber nicht mehr kenne.
„Hör mir gut zu, Helin. Wir werden jetzt Versöhnungssex haben und danach nie wieder auch nur ein einziges Wort über dieses Gespräch verlieren, ist das klar?!" Blitze schießen aus Hutsons Augen und bohren sich geradewegs in mein Herz.
Ich dachte, er würde einsehen, wie giftig unsere Beziehung ist, doch scheinbar habe ich mich geirrt.
Meine Worte und meine Gefühle sind ihm vollkommen egal. Anstatt mich einfach gehen zu lassen, möchte er mich durch die Hölle schicken.
„Ich bin noch nicht fertig mit dir, Helin", bestätigt Hutson meine Gedanken. „Du sollst genauso leiden, wie ich deinetwegen leiden musste."
Kaum sind diese Worte verklungen, schlingt Hutson seine großen Hände um meinen Hals und drückt mit all seiner Kraft zu.
In Sekundenschnelle weicht die Luft aus meinen Lungenflügeln.
Panisch versuche ich um mich zu schlagen oder Hutson in den Bauch zu treten, aber ich bin zu schwach.
Ich spüre regelrecht, wie jedes noch so kleine Fünkchen Leben aus meinem Körper weicht und die Dunkelheit ihre Arme nach mir ausstreckt.
Schwarze Punkte säumen mein Blickfeld, bis ich die Augen nicht länger offenhalten kann.
Meine Hände, die über Hutsons Arme kratzen, fallen kraftlos neben meinen Körper.
Ich bin kurz davor, die Schwelle zur Ohnmacht zu überschreiten, als Hutson seine Hände von meinem Hals entfernt. Seine kalten Lippen presst er gegen meine Schläfe, bevor er mir droht: „Solltest du noch einmal auf die Idee kommen, mich zu verlassen, dann wirst du das bereuen, Helin!"
Mit diesen Worten übergibt er mich an einen traumlosen Schlaf.
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