
30. Kapitel: "Leben passiert, während wir Pläne schmieden."
„Hey ..." Dag gesellte sich zu meinem einsamen Spiegelbild mit der Zahnbürste im Mund.
„Morgen", brummte ich undeutlich. Er stützte die Hände auf dem Waschbeckenrand links und rechts von mir ab. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, war so angenehm, dass ich mich automatisch gegen ihn lehnte. Er küsste mich am Hals und ich kicherte, weil es angenehm kitzelte. Energisch spuckte ich den weißen Schaum aus und schnappte mir das Handtuch vom Haken.
„Magst du 'nen Kaffee haben?", fragte Dag und rieb sich gähnend den Schlaf aus seinen schönen Augen.
„Gern", nickte ich und huschte an ihm vorbei, zurück ans Bett, wo ich sein mir viel zu großes T-Shirt und die Boxer gegen die gemusterte Strumpfhose, den Skaterrock und die gecroppte Rüschenbluse von gestern eintauschte.
In der Zwischenzeit hörte ich, wie die Kaffeemaschine anging. Als ich mich mit der Haarbürste in der Hand umdrehte, erblickte ich Dag, der selig grinsend an die Küchenzeile gelehnt dastand und mich einfach nur beobachtete.
„Was ist?", fragte ich und versuchte mit den Fingern hektisch mein Haar zu glätten. Ich musste aussehen, als hätte ich ein Vogelnest auf dem Kopf.
„Nichts", feixte er. Zwei Tassen aus dem Schrank fanden ihren Weg in seine Hände. Ich fuhr geistesabwesend durch meine dunklen Wellen, bis sich alles wieder so weich anfühlte, wie ich es gewohnt war. „Musst du gleich los?", fragte Dag.
„Nein", antwortete ich. „Ich stehe nur gern zeitig auf. Wenn ich mich nicht fertigmache, fällt's mir schwer, überhaupt aus dem Bett zu kommen und irgendwie produktiv zu sein."
„Du bist ja ekelhaft gewissenhaft", lachte er.
„Sag das bloß nicht zu laut, umso fauler sieht jedes Wochenende bei mir aus", murmelte ich. Dag war aus dem Nichts neben mir aufgetaucht, schlang einen Arm um meine Taille und riss mich mit sich runter aufs Bett. Ich quietschte erschrocken, als ich auf ihn fiel. „Aber mein Kaffee", waren die ersten Worte, die danach aus meinem Mund purzelten.
„Du bist viel zu süß für diese Welt", schmunzelte er und wechselte die Position, sodass er über mir lag.
„Und du hast so 'nen Schaden, Dag-Alexis", schnurrte ich.
„Meiner zeigt sich bloß so krass, weil du dir solche Mühe gibst, deinen vor mir zu verstecken", erklärte er.
Seine Hand fuhr unter meine Bluse und ich biss mir in die Unterlippe. Vielleicht wäre ich standhaft geblieben, wäre er nicht auch gleich noch unter meinen BH gefahren. Ein wohliges Seufzen rollte über meine Lippen und ich vergrub die Finger in seinen zerzausten Haaren. Dag küsste mich eine Weile am Hals, was mich fast wahnsinnig werden ließ. Ich sog seinen Duft ein, küsste ihn fordernd und ließ es geschehen, dass er mir den Stretch-Stoff des Skaterrocks wieder über den Po nach unten zog. Seine Hände umfassten meinen Hintern und er massierte mich dort. Ich biss in seine Unterlippe, um mein Stöhnen zu mildern, doch er wollte mich hören und er wusste genau, wie er es anstellen musste. Er drückte meine Beine auseinander und ließ mich spüren, was gleich mit mir geschehen würde. Scharf atmete ich ein und hielt die Luft an, als er am Bund meiner Strumpfhose entlangstrich. Ich zitterte unter ihm, aber nicht vor Kälte. Im Gegenteil, wärmer hätte mir gar nicht sein können. Ich wollte wieder raus aus den lästigen Klamotten, die ich eben erst angezogen hatte. Dag presste auf meine Mitte und ich stöhnte auf. Wo wäre ich wohl an diesem Samstag, wenn der Sex mit ihm nicht so gut wäre? Egal, zum Glück war ich hier, ich war nirgendwo besser aufgehoben. Mit den Fingerspitzen strich ich über die bunten Tattoos auf seinem Arm. Der Anblick gefiel mir von Mal zu Mal mehr. Ich entdeckte immer etwas Neues, das mir vorher noch nicht aufgefallen war, wenn mir lang genug Zeit blieb, um ihn zu mustern. Er nahm jedoch mein Kinn zwischen seine Finger und hob es an, bis ich ihm in die Augen sah, ehe er seine Lippen wieder auf meine senkte. Seufzend schlang ich beide Arme um seinen Körper und tastete über seine Rückseite. Er fühlte sich genau richtig an.
Dag war wieder eingeschlafen. Gegen Mittag war das erlaubt, ich hing ja selbst durch. An ihn gekuschelt lag ich da und betrachtete unsere Körper, die von der Bettdecke bedeckt waren. Eigentlich sollte ich in der Bibliothek sein, etwas für die Uni tun. Aber ich war nicht rausgegangen, um zu lernen gestern Abend. Erst war ich mit Iara im Park gewesen, dann von dort aus direkt zur Arbeit gelaufen, um – anstatt völlig fertig nach Hause zu fahren und in mein eigenes weiches Bett zu fallen – schließlich herauszufinden, dass Dag noch wach war, als ich ihn anschrieb. Ich hatte ihn extra nicht angerufen, um ihn nicht zu wecken, falls er schon schlief, aber er hatte nur Sekunden später geantwortet und mir angeboten, vorbeizukommen. Dankbar hatte ich seinen Vorschlag angenommen und jetzt lagen wir hier, in seiner gemütlichen Einzimmerwohnung und mir wurde klar, dass ich bloß versuchte, meinen Pflichten aus dem Weg zu gehen.
Dag war eine so wunderschöne, bittersüße Ablenkung. Er ließ mich vergessen, dass mir noch immer ein Teil der Miete fehlte, dass ich in Epochen durchfallen würde und wahrscheinlich das gesamte Modul wiederholen musste, dass ich mich mit meinen Eltern und meinen Freunden aus der Uni verkracht hatte und dass ich ein ernstes, mental-gesundheitliches Problem hatte. Gestern war ich fast während meiner Schicht von einer Panikattacke überrollt worden. Nachdem ich mich einen Moment hingesetzt hatte, ging es mir bald besser. Thea hatte mir ein Glas Wasser gebracht, das ich so langsam austrank, dass ich beinah fünf Minuten dafür brauchte, was wiederum dafür sorgte, dass meine Kollegin kurz davorstand, auf die Barrikaden zu gehen.
Ich überlegte, was ich zuerst angehen sollte: das Gespräch mit meinen Eltern, den Besuch beim Hausarzt, mit dem ich über Therapiemöglichkeiten sprechen wollte, die Suche nach einem zweiten Nebenjob ...
Letzten Endes landete ich auf der Internetseite meiner Uni, in der Beschreibung meines Studiengangs. Damals hatte ich angefangen Archäologie zu studieren, weil ich mir nicht vorstellen konnte, je unglücklich dazustehen mit dieser Wahl. Aber das war schiefgegangen. Jetzt war ich unzufrieden und ich konnte diesen Zustand entweder aussitzen, oder ich musste etwas daran ändern. Da das mit dem Aussitzen in den letzten Monaten nicht wirklich gut geklappt hatte, insbesondere nach dem Bruch mit meiner Lerngruppe nicht mehr, war etwas daran ändern die einzige echte Option, die mir blieb.
„Was zur Hölle ist das?"
Erschrocken drehte ich mich zu Dag um, der gerade gähnte, danach die Augen aber wieder auf mein Handy und den Modulkatalog richtete, den ich darauf durchblätterte. "Latein II?", fragte er müde.
„Ich breche vielleicht mein Studium ab", platzte ich mit der Wahrheit heraus und realisierte erst in genau diesem Augenblick, dass ich ernsthaft darüber nachdachte.
„Und dann?" Neugierig sah Dag mich aus seinen blauen Augen an und fuhr sich dabei mit den Fingern durch das verwuschelte Haar.
„Keine Ahnung", antwortete ich leise. „Ich habe meinen Nebenjob in der Bar, dort kann ich arbeiten, bis ich etwas Neues gefunden habe."
„Das ist ein Nebenjob, du müsstest das Vollzeit machen, wenn du dein Studium abbrichst."
„Na und? An Zeit mangelt's mir dann ja nicht", gab ich mürrisch zurück.
„Wechsle doch einfach."
„Was?"
„Wechsle. Du interessierst dich für Geschichte, das ist cool. Nicht nur Archäologie befasst sich damit, du kannst auch andere Sachen studieren, die 'nen anderen Hauptfokus haben. Ich habe mich an der Uni durch fast alles durchstudiert, was auch nur ansatzweise mit Sprache zu tun hatte. Guck doch, welche Sachen du jetzt machst, die dir wirklich Spaß machen."
„Du hast studiert?", fragte ich ihn schmunzelnd. Dag feuerte mir ein Kissen ins Gesicht.
„Klar hab ich studiert." Er kitzelte mich, bis ich lachend um Gnade winselte. Halb auf mir blieb er liegen und wir knutschten eine Weile, bevor er sich von mir löste. „Hast du mal in Betracht gezogen, dass studieren an sich für dich vielleicht nichts ist?"
„Ach, bin ich jetzt zu blöd für die Uni?", kicherte ich.
„Bleib doch mal ernst , es geht hier um deine Zukunft", ermahnte er mich. „Wieso machst du keine Ausbildung?"
„Wozu denn?" Ich verdrehte die Augen.
„Was weiß denn ich", atmete er aus und drehte sich wieder auf den Rücken. „Ich bin nur der Idiot, mit dem du gerade schläfst", murmelte er.
„Hey." Empört zwickte ich ihn in die Seite. „Was soll das? Hör auf, Trübsal zu blasen", forderte ich ihn auf und kletterte auf ihn, sodass ich ihn von oben herab streng mustern konnte. „Du sagst interessante Sachen. Wo siehst du mich, in welchem Berufsfeld?" Dags Hände umfassten meine Taille.
„Du kannst backen."
„Pff", grinste ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich steh doch nicht jeden Morgen um drei auf." Er überlegte.
„Hast du nicht auch schon selbst Pralinen und solchen Kram gemacht?" Ich nickte.
„Dann liegt Konditorin nah, oder?" Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich zurück, bis ich auf seinen Beinen lag. Dag setzte sich auf. Mein Körper ruckelte von der Bewegung. Konditorin ... Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. „Schlechte Idee?", fragte Dag vorsichtig. Ich blinzelte ihn an.
„Was sollen meine Eltern denn dazu sagen? Erst finanzieren sie mir mein wildes Studentenleben, damit ich meiner Akademikerfamilie wenigstens auf die Art Ehre erweisen kann und nach dem Streit, den wir deswegen hatten, eröffne ich ihnen, dass ich eine Ausbildung zur Konditorin anfange?"
„Erstens sind wir nicht bei Mulan. Willkommen im 21. Jahrhundert, hier musst du niemandem Ehre erweisen. Zweitens – Was sollen die schon dagegen haben? Konditorin ist ja wohl ein ehrbarer Beruf, oder nicht?"
„Akademikerfamilie", wiederholte ich. „Meine Mutter kollabiert doch, wenn die hört, dass ich, statt Ausgrabungen zu leiten wie sie, lieber Törtchen dekorieren möchte."
„Willst du das Leben deiner Mutter kopieren und eins zu eins wiederholen, oder was?" Ich schauderte bei dem Gedanken daran, wie meine Mutter vor der Unterdrückung im Iran mit meinem Vater geflohen war.
„Nein, auf keinen Fall", meinte ich.
„Dann verstehe ich nicht, warum du das überhaupt in deine Überlegungen miteinbeziehst. Du bist deinen Eltern nichts schuldig."
Mit einem Ruck streckte ich mich durch, saß wieder aufrecht vor ihm und rutschte zusätzlich näher an ihn heran.
„Es ist nicht, wie du denkst. Ich will das Leben meiner Mutter nicht kopieren, weil sie viel durchlitten hat, was ich mir selbst gern ersparen würde. Ihr Erfolg ist aber für mich vorbildlich und ich fand es schon als Kind erstrebenswert, eines Tages ein Leben zu führen wie Darya Nikkah. Sie hat einen Ehemann, der genau der Richtige für sie ist, zwei Töchter, die ihr Leben bereichern und einen Job, der sie strahlen lässt, und das jeden Tag." Dag nahm meine Hände in seine.
„Ist es dein Traum oder ihrer?", fragte er. „Als ich angefangen habe, Germanistik zu studieren, war mein Vater begeistert. Er hat einen Doktor in Deutscher Literatur und mein Interesse für Sprachen immer gefördert. Ich kann dir nicht sagen, wie enttäuscht er war, als er erfahren hat, dass ich das Studium abgebrochen habe und zu Linguistik gewechselt bin."
„Hast du es ihm erst im Nachhinein gesagt?", versuchte ich mir einen Überblick zu verschaffen.
„Ich hätte es ihm ganz verschwiegen. Er wohnt in der Schweiz, mit seiner neuen Freundin, wir sehen uns einmal im Jahr; er hätte es nie erfahren, wenn's nach mir gegangen wäre. Meine Mutter hat es ihm gesagt, sie fand es schrecklich, dass ich meinen Vater anlüge."
„Warum hast du ein Geheimnis draus gemacht?"
„Ich wusste, er würde es nicht verstehen. Zu dem Zeitpunkt habe ich seinen Traum gelebt, ich hätte meine Kohle ja als Lehrer oder so verdienen können, oder als Professor, wie er. Er hat es nicht ertragen, dass ich diese Chance aufgegeben habe. Das wirkt sich bis heute auf unser Verhältnis aus. Er hatte immer Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ich mich für die Musik entschieden habe." Ich zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
„Aber solange du glücklich bist, ist das doch egal. Du bist sein Sohn. Für deinen Vater sollte Priorität haben, wie zufrieden du mit deinem Leben bist."
„Für deine Mutter gilt das Gleiche, trotzdem zierst du dich", argumentierte er.
Ich legte den Kopf leicht schief.
„Wie ist dein Verhältnis sonst so zu deinem Vater?" Dag lächelte melancholisch.
„Es heilt", antwortete er knapp. „Aber das geht dich auch gar nichts an." Er sagte es spielerisch, aber ich wusste, dass er es ernst meinte, ganz gleich, ob er mich aufs Bett drückte und einen Kuss auf meine Lippen hauchte.
Da fehlte ein Stück Vertrauen, ein Stück Intimität, das so nur in einer Beziehung die Lücken zwischen uns hätte schließen können. Wir standen wieder an einem der Abgründe, die wir nie überqueren würden, weil ich mich nicht traute zu springen.
Zeit verschwenden
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