Kapitel 3
Mein Kopf dröhnte noch immer, als ich mich in meine Vorlesung setzte. Es war allgemein bekannt, dass der Beginn eines neuen Semesters oft schwer war. Mein Kopfweh konnte ich mir allerdings sehr gut anders erklären. Die letzte Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Im hinteren Teil meines Kopfes meldete sich die Stimme meiner Mutter, wie sie mich daran erinnerte, dass Alkohol böse war. "Zu spät", murmelte ich in mich hinein, als könnte sie mich hören. Die Studentin vor mir drehte sich um und blickte mich irritiert an.
"Hast du zu mir was gesagt?"
"Ähm was?", ich schaute sie durch meine halb geschlossenen Augen an. "Nein, vergiss es."
Sie grinste und entblößte strahlend weiße Zähne. "Kurze Nacht?", fragte sie und ich bemerkte ihren leichten Aktzet, denn ich aber nicht deuten konnte.
Ich lachte kurz auf. "Ja, kann man so sagen."
"Ich bin Nora", sagte sie und hielt mir umständlich ihre Hand entgegen.
"Rachel."
Nora hatte hellblonde lange Haare, die ihr glatt über die Schultern fielen. Ihre Haut erschien mir perfekt, fast schon wie aus Porzellan und auch der Rest an ihr wirkte unnatürlich perfekt. Wie die Barbie, die ich nie besessen hatte, weil meine Mutter der Ansicht war, diese würden eine frauenverachtende Gesellschaft fördern. Aus dem selben Grund hatte ich Makeup auch erst auf dem College für mich entdeckt.
Nora öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, aber ich kam ihr zuvor. "Du hast einen Akzent. Woher kommst du?"
Sekunden nach dem ich die Frage gestellt hatte, kam ich mir plötzlich ziemlich blöd dabei vor. Ich kannte sie seit ein paar Minuten und schon fragte ich sie so etwas persönliches. Es gab viele Menschen, die einen Akzent hatten, aber trotzdem aus der selben Stadt kommen wie man selbst. In Gedanken schlug ich meinen Kopf gegen den Tisch.
Nora wurde ein bisschen rot, aber ihr Lächeln verriet mir, dass sie es mir nicht übel nahm. "Hört man meinen Aktzent so stark? Ich komme aus Schweden und mache hier ein Auslandsjahr. Erst vor ein paar Tagen bin ich angereist."
"Wenn du willst, dann kann ich dich ein bisschen rum führen. Ich bin schon ein ganzes Jahr hier", hörte ich mich sagen. Wow, so kontaktfreudig hatte ich mich selbst gar nicht in Erinnerung gehabt, aber für einen Rückzieher war es nun zu spät.
"Ja, das wäre super. Ich kenne mich hier noch nicht wirklich aus."
"Klar doch, dann schreib mir einfach mal." Schnell kritzelte ich meine Handynummer auf ein Stück Papier, riss es von meinem Block runter und reichte es ihr.
"Danke", Nora lächelte und ihre strahlenden Zähne kamen nochmal zum Vorschein. "Übrigens hoffe ich, dass sich der Schlafmangel für den Typen gelohnt hat." Mir schoss augenblicklich die gesamte Wärme meines Körpers in den Kopf und ich war froh, dass Nora das nicht mehr sehen konnte, da sie sich schon wieder nach vorne gedreht hatte. Allerdings nicht ohne mir noch einmal zugezwinkert zu haben.
Es ging an mir vorbei was Mr Walsh an diesem Morgen uns zu "Fotographie im Wandel der Zeiten" zu sagen hatte. Ich wollte fotographieren und nicht die Geschichte dazu hören. Ich schloss das Fenster auf meinem Laptop mit meinen Notizen und öffnete Google. Viel zu gerne hätte ich Tylers Namen eingegeben, jedoch konnte ich mich aus drei Gründen noch zurück halten.
1. Hinter mir saß noch eine Reihe mit Studenten, die das ganz sicher nicht mitbekommen sollten.
2. Wenn die einzige Information über eine Person der Vorname ist und wie sich seine Lippen anfühlen, dann kommt man im Internet nicht weit. Ich konnte schlecht "Tyler, verdammt heiß, guter Küsser" eingeben...
3. Tyler und ich hatten gestern zusammen getanzt, rumgeknutscht und als er uns nach zwei Stunden was zu trinken holen wollte hatte ich mich aus dem Staub gemacht...ich hatte keinen plausiblen Grund ihn jetzt zu stalken. Ich war also selber Schuld an der Situation.
Normalerweise war es nicht meine Art gleich abzuhauen. Ich wartete meistens bis zum Morgen, um mich dann aus dem Zimmer eines Typen raus zu schleichen, aber nicht diesmal. Es hatte sich so gut angefühlt ihn zu küssen. So richtig. In meinem Hinterkopf meldete sich eine kleine Stimme: "Nichts Verbindliches. Du weißt, wie das endet!"
Als die Vorlesung endlich vorbei war, lächelte ich Nora noch einmal zu und stolperte so schnell wie möglich mit meinen Sachen unter dem Arm aus dem Raum. Ungeschickt versuchte ich die Haupttür des Gebäudes zu öffnen und ließ dabei einige Bücher fallen. Das hatte mir noch gefehlt. So schnell wie möglich sammelte ich meine Sachen auf. Wäre ich jetzt in einem Film, dann würde Tyler jetzt wie aus dem Nichts auftauchen und mir beim Aufsammeln helfen. Dabei würden sich natürlich ganz zufällig unsere Hände berühren und - BÄHM - Blitzmoment. Zwei Seelen, dir sich gefunden haben. Zwei Herzen, die miteinander verbunden sind. Liebe für immer und ewig oder auch bis das der Tod uns scheidet. Mit meinem Glück würde er wahrscheinlich innerhalb von einem Jahren gestorben sein und ich müsste für immer mit einem gebrochenen Herzen durch das Leben laufen. Nach seinem Tod müsste ich mich voll in die Arbeit stürtzen, um mich abzulenken und würde mir schließlich im Alter von 42 Jahren während meiner unvermeidbaren Midlife Crisis eine Kugel in den Kopf jagen. Nur mit dem Wunsch endlich wieder im Jehnseits mit ihm vereint zu sein. Mit ein bisschen Hintergrundmusik von Celin Dion würde das wahrscheinlich sogar noch als Happy End durchgehen.
Die Realität sah anders aus. Hier gab es keine Liebe und schon gar kein Happy End. Ich musste meine Bücher selbst aufsammeln und der Typ, der mir in meinen Gedanken so gentleman like geholfen hatte, verfluchte mich wahrscheinlich gerade, weil ich ihn gestern hatte stehen lassen. Wahrscheinlich war selbst das zu naiv gedacht. Als ob er sich jetzt noch an mich erinnern würde. Mit großer Sicherheit hatte er sich nur kurz verwirrt umgesehen und sich dann irgendeine Blondine von der Bar geangelt, die ihn ohne zu zögern mit sich nach Hause genommen hatte.
Mit den Büchern unterm Arm rannte ich die letzten Meter bis zur Haltestelle und schaffte es gerade noch so meinen Bus zu erreichen. In der vorletzten Reihe setzte ich mich hin und schob alle meine Sachen zurück in die Tasche, während sich jemand neben mich auf dem Sitz niederließ. Ein vertrauter Duft zog zu mir rüber und schaute geschockt auf. Ein Paar grüne Augen blickten mich an und ein perfekt geformter Mund verzog sich zu einem Schmunzeln.
"Hi Rachel", sagte Tyler. "Du hast mir gestern gar keinen Abschiedskuss mehr gegeben."
-------------------------------------------
Fortsetzung folgt:)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro