Kapitel 2: Am Tag der Prüfung
Sonnenstrahlen brechen sich im Kristallglas der Fenster und zerstreuen ihr buntes Licht im Zimmer. Es ist simpel eingerichtet, wie alle Räumlichkeiten in der Kaserne für die Letztsemester. Um mich herum stehen ein Bett, das kaum mehr als ein Metallgestell mit einer Matratze und einer verwaschenen Decke ist, ein Nachttisch aus vergilbtem Plastik und daneben ein Schreibtisch auf dünnen, wackeligen Beinen.
Fünf Stunden bis zur Prüfung. Die Erkenntnis bohrt sich in mein Gewissen und lässt mir schlecht werden. Dank ihr stand ich schon vor dem Klingeln des Weckers kerzengerade im Bett. Nun stehe ich nicht im Bett, sondern vor dem Spiegel einer Kleiderschranktür und mustere mich darin. Besser gesagt: Ich mustere nicht mich, sondern die Uniform, die ich trage und wie sie sich mit jeder meiner Bewegungen an meine Muskeln schmiegt. Vor zwei Wochen haben wir die Uniformen für unsere praktische Abschlussprüfung bekommen und zwei Wochen hat dieses gute Stück in einer Schachtel unter meinem Bett geschlummert. Nicht länger. Ich will mich um Cass sorgen, ihr einen Besuch abstatten, ihr gut zu reden, aber es gelingt mir einfach nicht. Mein Blick verharrt auf meiner Spiegelung und ich fühle mich wie Narziss, hypnotisiert von meinem Selbst. Fünf Minuten, dann werde ich fertig sein. Dann werde ich auf den Flur hinaustreten, an ihrer Tür gegenüber klopfen und mit ihr plaudern, als wäre nie etwas geschehen. Aber jetzt in diesem Moment stehe ich hier und sehe mich an, in einer Uniform, auf die ich vier lange Jahre hingearbeitet habe. Ich habe noch nie jemanden getötet. Aber wenn ich eine Soldatin sein will, muss ich auch das können. Ich werde heute nicht sterben! Ich werde gewinnen!
Die Uniform riecht neu. Das Weiß bildet einen interessanten Kontrast zu meiner bronzenen Haut und auf eine gruselige Weise fühlt es sich so an, als würde ich Luft tragen. An den Schulterstücken sind weder Streifen noch Sterne befestigt. Noch nicht. Ich werde sie mir verdienen.
Ich atme tief durch, nicke mir zu und trete zur Tür hinaus. Auf den Gängen der Kaserne wimmelt nur so von Leben. Meine Mitschüler rufen aufgeregt durcheinander, bewundern ihre neuen Uniformen, suchen nach Spangen, Haargel und allem möglichen Krimskrams. Die Stimmung ist eine angespannte, aufgeregte aber auch freudige. Schließlich sind sie so nah dran, ihren Abschluss zu machen. Es versetzt meinem Herz einen Stich, wenn ich daran denke, was sie erwartet. Ein Duell bis zum Tod. Oh Athene, bitte lass es nicht wahr sein. Bitte lass es ein Trick sein! Ich kenne die meisten von ihnen nur oberflächlich, habe noch viel weniger mögen gelernt, aber daran zu denken, dass nur die Hälfte von ihnen überlebt und die andere Hälfte als Mörder zurückbleibt...
Wir sind in der Ausbildung zu Soldaten. Natürlich hat es irgendwann so weit sein müssen. Ich wünsche mir nur, es hätte länger gedauert. Bis zur ersten Schlacht. Die meisten der Rekruten hier wollen nicht einmal in das Heer!
Ich schaue auf die Uhr im Treppenhaus.
Noch vier Stunden.
Dann trete ich an die Tür mir gegenüber und klopfe einmal. Langsam öffnet sie sich. Cass steht dort, im Nachthemd, das Gesicht eingefallen und die Augen von blauschwarzen Ringen umrahmt. Sie sieht schrecklich aus!
»Bei Athene«, stoße ich aus. »Hast du nicht geschlafen?«
Sie lächelt gequält. »Ich konnte nicht.«
Ich packe sie an der Hand. »Wir müssen in einer Stunde am Festivalplatz sein!«
Langsam, wie im Zeitraffer, werden ihre Augen groß. »Eine Stunde?«
Ich lasse die Tür hinter uns ins Schloss knallen und stapfe auf ihr Bett zu. »Eine Stunde!«
Schon bald habe ich ihre Uniform herausgeholt. Ich helfe Cass dabei, ihre hellbraunen Locken zu frisieren, während sie allmählich zu sich kommt.
»Wir müssen uns beeilen«, erkläre ich, während ich ihre Haare flechte. »Unten kannst du einen Schluck Kaffee trinken. Dann gehts dir besser.«
Verdammt, im Zweikampf wird sie, wie sie jetzt gerade dasitzt, zerstückelt werden! Cass nickt. Auf ihre Bitte hin reiche ich ihr ihr Handy vom Nachttisch. Es hat gerade einmal drei Prozent Akku.
»Horoskop?«, frage ich sie.
Ihre Lebensgeister kehren zurück. Nur um kurz darauf wieder zum Fenster herauszufliegen, denn ihr Handy schaltet sich ab. Der Akku ist leer. Ich gebe ihr meines. Über ihre Schulter gebeugt lese ich mit, als die Meldung auf der Website aufpoppt.
»Um Fairness zu gewährleisten, sind die Prophezeiungen für heute eingestellt. Wir wünschen allen Rekruten der Akademie erfolgreiche Prüfungen!«
»Diese Mistkerle«, zische ich.
Cass ist indes noch bleicher geworden, auch wenn ich das wenige Minuten zuvor nicht für möglich gehalten habe. Ihre Augen werden feucht. Im selben Moment bin ich damit fertig, ihre Haare zu flechten und hochzustecken. Ich packe sie an den Schultern, drehe sie um und umarme sie. »Du weinst jetzt nicht«, murmele ich. »Denk an unser Training, daran was ich dir gezeigt habe.«
»Hast du denn gar keine Angst?« Sie löst sich und blickt mich an.
Das Blaugrau ihrer Augen hat durch die Tränen eine beinahe smaragdene Färbung angenommen.
»Ich bin nicht bereit, jemanden zu töten«, sagt sie.
Ich schweige. Ich bin es auch nicht. Aber ich muss es sein.
»Vielleicht ist es eine Prüfung des Verstandes. Vielleicht lässt sich dieses bis zum Tod übergehen. Vielleicht ist es auch kein Duell. Dein Vater könnte sich geirrt haben.«
»Er hat sich seit Beginn der Ausbildung nicht bei mir gemeldet«, gesteht sie. »Ich denke nicht, dass er mich anruft, um mir Lügen zu erzählen.«
»Es müssen ja keine Lügen sein ...«
»Er ist sich sicher. Und ich glaube ihm.«
Dann glaube ich ihm auch. Zumindest will ich das sagen. Es fällt mir schwer, diese Worte auszusprechen. Es ist, als wenn sie nur dadurch zur Wahrheit werden.
»Musst du diese Prüfung machen?«, platzt es aus mir hervor.
Cass blinzelt verwirrt. »Wenn ich sie nicht mache, wird mein Vater mir das niemals verzeihen.«
»Aber du kannst sterben!« Wieder so ein Satz, der die Angst zur Realität macht. Mir wird schlecht.
»Du auch!«, ruft sie. »Wenn du heute dein Leben aufs Spiel setzt, dann werde ich das auch tun!«
Mir ist zum Heulen zumute. Ich stehe auf und deute auf die Tür.
»Holen wir uns einen Kaffee. Dann reden wir weiter.«
***
Zwei Stunden bis zur Prüfung. Ich höre Fanfaren, rieche Feuerwerk und sehe Konfetti. Der Festivalplatz ist randvoll gefüllt mit Schaulustigen und Angehörigen. Wir sind auf einer Bühne vor dem Hauptverwaltungsgebäude der Schule platziert. Es ist ein hübsches Bauwerk, ansehnlich genug, um Eindruck zu schinden. Dass wir unsere Unterrichts- und Trainingseinheiten in nicht ganz so pompösen Mauerwerken verbracht hatten, wird gerne verschwiegen. Dabei kann ich nicht leugnen, dass ich selbst es mir gerne verschweige. In so einem Haus zu lernen und zu arbeiten, das muss ein tolles Gefühl sein. Vielleicht kann ich an meine Ausbildung doch ein Studium dranhängen, an der Militäruniversität Venaris.
Ich stehe in der ersten Reihe und blicke in die Menge. Der Festivalplatz ist riesig. Umrahmt wird er von weiteren Verwaltungsgebäuden, wie alles hier nach altem nivelianischen Stil gebaut, aus rotem Sandstein und mit viel zu vielen Säulen.
Kameras klicken, Blitzlicht regnet auf uns nieder. Über den Köpfen der Zuschauer sirren Fotodrohnen durch die Luft. Ich versuche, die Augen offen zu halten. Durch einen Lautsprecher ertönt, dass ein Gruppenbild ansteht und wir uns enger zusammenstellen sollen. Meine Mitschüler rücken näher an mich heran. Ich spüre Cass neben mir. Es klickt, blitzt und wir lösen uns wieder voneinander, doch Cass und ich bleiben dicht, Schulter an Schulter. Ich spüre, wie sie zittert. Meine Idee für eine Flucht vor der Prüfung, oder besser gesagt ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Vater, hat sie vehement abgelehnt. Verdammt, das war eine meiner besten Ideen seit langem gewesen. Ich habe sogar schon daran gedacht, wie sie fliehen kann. Mit einem Schiff. In Richtung Oropos. Ich habe Verwandte auf dem Planeten Hestias. Zumindest hatte meine Mutter mir das mal erzählt. Vielleicht könnte ich sie bitten, Cass aufzunehmen. Aber nein. Sie will unbedingt kämpfen. War sie schon immer so stur? Oder hat sich das erst in den letzten Jahren so entwickelt? Ich kenne Cass so lange wie ihren Vater. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie –
Stille überschwemmt den Platz und reißt mich aus den Gedanken. Athene betritt die Bühne und ich hebe den Kopf, um sie zu anzustarren. Es kommt nicht oft vor, dass einfache Rekruten wie wir einer Göttin gegenüberstehen. Sie ist schön, wenn auch nicht auf die Weise wie eines dieser Models aus Social Media oder von den Covern der Magazine, die ich Cass immer habe lesen sehen. Ihrer Schönheit haftet eher etwas Erwachsenes, Ernsthaftes, Geerdetes an. Sie sieht aus wie ihre Statue, nur nicht ganz so monumental. Dennoch überragt Athene uns alle. Sie muss mindestens zwei Meter groß sein. Sie trägt einen langen, weißen Hosenanzug und silberne Fäden in ihr ebenholzfarbenes Haar gewebt. Trotz ihrer wichtigen Stellung in der Akademie hat sie noch nie eine Uniform getragen, was ich irgendwie komisch finde. Ihre Haut ist olivfarben und ihre Augen grau wie Sturmwolken. Gestern noch habe ich zu ihr gebetet. Heute steht sie vor mir, so nah, dass ich die Wärme, die sie ausstrahlt, spüren kann. Die Luft knistert, wie aufgeladen, kurz vor einem Sommergewitter. Pure Macht.
Wir senken unser Haupt vor ihr und richten uns erst wieder auf, als sie es uns mit der Hand bedeutet. Athene ist das Oberhaupt der Akademie, aber sie teilt sich diese Aufgabe mit einem Rat und einem ihrer Apostel. Apostel sind Sterblicher, deren Schicksal an die einer bestimmten Gottheit geknüpft ist. Athene hat zwei Apostel. Einer von ihnen, Ratsmitglied der Akademie, steht neben ihr. Ich habe gar nicht gemerkt, wann er die Bühne betreten hat. Die Präsenz der Göttin hat alles eingenommen. Nun, da ich ihn jedoch bemerkt habe, mustere ihn. Er ist wenige Jahre älter als ich, mit aschgrauen Haaren und einem eisklaren Blick. Viele meiner Mitschüler, auch Cass, fliegen auf ihn, was ich irgendwie verstehen kann. Andererseits kann ich nicht die Gedanken an die Male abschütteln, die er uns im Militärtaktik-Unterricht mit Fragen zu Schlachten von vor fünfhundert Jahren malträtiert hat. Obwohl er in diesem Leben noch jung ist, bringt er die Erfahrung vergangener mit sich. Apostel werden wiedergeboren. So auch er. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, von Kindsbeinen an zu wissen, dass du nur für diesen einen Gott existierst. Es muss erdrückend sein. Dann ist da noch Athenes anderer Apostel. Ebenfalls ein junger Mann, der mit der Akademie allerdings nicht allzu viel am Hut zu haben scheint. Ich habe ihn ein paar Male gesehen, lange nicht oft genug, um mir sein Gesicht einzuprägen. Es heißt, er sei viel auf Reisen. Und es heißt, dass er für Athene die nicht ganz so sauberen Geschäfte erledigt.
»Meine klugen Absolventen«, beginnt Pallas Athene dann ihre Rede.
Ihre Stimme erinnert mich an das schneidende Rauschen von Wind.
»Vier Jahre habt ihr auf diesen Moment hingearbeitet. Doch ich bin nicht hier, um euch Glück zu wünschen. Das braucht ihr nicht. Wenn ihr die letzten achtundvierzig Monate tatsächlich gelernt und trainiert habt und meinen Lehren gefolgt seid, dann werden weder die praktische noch die theoretische Prüfung euch schwerfallen.«
Sie wendet sich vom Publikum ab, uns zu und ein Lächeln ziert ihre sonst so stoische Fassade.
»Der Krieg gegen die Titanen ist seit Äonen vorbei«, erklärt sie, »aber das heißt nicht, dass andere Mächte unsere Republik nicht in Gefahr bringen. Und dabei habe ich immer das Ziel verfolgt, Qualität über Quantität auszubilden. Lieber wenige scharfe Klingen als hunderte stumpfe. Dafür steht die Kaderschmiede Nivelias.«
Es fühlt sich an, als hätte sie ihre Faust um meinen Magen geschlossen. Cass zittert immer heftiger neben mir. Ich sehe im Augenwinkel, wie sie die Augen aufreißt, die Lippen zum stummen Protest geöffnet.
Und dann spricht Athene die Worte, die die Welt untergehen lassen. »Die praktische Prüfung dieses Jahr hat die Form eines Duells. Nur der Gewinner darf den Ring verlassen.«
Cass neben mir verliert den Halt. Ich packe sie am Ellbogen und reiße sie zurück auf die Beine.
»Wir müssen hier weg«, raune ich ihr zu.
Ich bezweifele, dass sie mich über den Sturm an Stimmen hört, der sich um uns herum aufbaut. Dennoch scheint Cass eine Ahnung zu haben, was ich meine. Ich unterstelle es ihr einfach und ziehe sie weg.
Scheiß auf Athene! Das hier ist meine beste Freundin und es geht ihr miserabel. Einen Hades werde ich tun, jetzt noch diesen leeren Worten zu lauschen, wenn Cass zusammenbricht.
Über die Unruhe, die Bühne und Zuschauerreihen ergriffen hat, schaffen wir es unauffällig zur Seite hin zu verschwinden. Und als wieder Stille einkehrt und Athene ihre Rede fortführt, sind wir längst weg.
Ich ziehe Cass hinter mir her, hinter die nächstbeste Ecke des Hauptgebäudes und wir gehen so lange, bis wir am Rand des Übungsplatzes stehen. Cass lässt sich auf eine der Tribünen fallen. Erst jetzt sehe ich, dass sie wütend ist.
»Was sollte das?«
Was sollte was? Ich blinzele mehrmals und lege den Kopf schief.
»Es ging dir nicht gut«, erkläre ich langsam. »Ich habe dir nur helfen wollen.«
»Aber wenn sie unser Fehlen bemerken!« Tränen tropfen auf ihre Hände, die sie sogleich im Schoß zu Fäusten ballt. »Was, wenn sie uns der Prüfung verweisen! Was, wenn ...Vater stand dort in der Menge.«
Hat er das? Ich habe ihn nicht gesehen.
»Er hat gelächelt. Er war so stolz. Zum ersten Mal seit Mutters Tod hat er gelächelt!« Ihre Stimme bebt. »Ich muss daran teilnehmen.«
Und mit einmal packt mich die Wut. »Willst du wirklich jemanden glücklich machen, der dich in ein Duell auf Leben und Tod schickt?«
Sie schweigt.
»Ich muss unsere Familie reparieren.«
»Das ist nicht deine Aufgabe!«, werde ich laut. »Du wirst sterben!«
Ich halte inne. Verdammt! Da waren sie, die Worte, die seit gestern Mittag zwischen uns standen. Die Gewissheit, die ich mich nur getraut hatte, auszusprechen. Cass kann nicht nur sterben, wenn sie in den Ring tritt. Sie wird sterben. Keine Möglichkeit. Eine Tatsache.
Der Ausdruck in Cass' Augen verdunkelt sich. »Denkst du, du wirst überleben?«
»Naja, ich –«
»Ich bin schnell!«
»Das weiß ich doch!«
»Und schlau!«
»Ja, aber –«
»Ich werde nicht sterben«, presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Nein, natürlich nicht!« Ich will sie an der Schulter berühren, aber sie rutscht weg.
»Ich muss zurück.« Sie steht auf. Schwankend vor Aufregung und Müdigkeit. Sie ist meine beste Freundin und ich hasse es, sie so zu sehen.
»Bitte glaub mir, Anara. Ich werde es schaffen.«
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