Kapitel 1: Opfergaben
»Glaubst du an das Schicksal?«
»Wenn es uns die Prüfung bestehen lässt: ja.«
Wir stehen im Tempel der Athene, um unsere Opfergaben und Gebete für morgen darzubringen. Dabei sind wir nicht die Einzigen, die auf diese Idee gekommen sind. Geschnatter füllt das Gewölbe und die Gerüche von ätherischen Ölen, Asche und Sonne auf nacktem Stein mischen sich mit Aromen von Schweiß und von der Mittagshitze durchweichtem Essen. Wenn ich ein Gott wäre, würde ich wohl kaum ein zermatschtes Stück Käsekuchen als Opfergabe annehmen. Zumindest vermute ich, dass es das ist, was der Typ vor mir trägt. Er muss es beim Frühstück in der Kaserne mitgehen lassen haben.
Mein Blick gleitet vorbei an all diesen jungen Erwachsenen in ihren schwarzen Uniformen, durch eine Arkade aus Säulen und geradewegs zum Ebenbild der Athene hin. Die Statue ist ziemlich groß. Vierzig Meter vielleicht? Ich recke den Hals. Im Schätzen war ich schon immer schlecht.
Die Schlange schiebt sich langsam vorwärts.
»Also mein Horoskop sagt, ich soll mit unerwarteten Wendungen rechnen«, plappert Cass neben mir weiter. »Delphi.net hat nie falsch gelegen.« Ich rolle mit den Augen. Die Faszination meiner besten Freundin mit dem Göttlichen kenne ich schon seit dem Kindergarten. Und mit Start unserer Ausbildung hat es sich nur verschlimmert. Jeden Morgen überprüft sie, wie ihre Sterne stehen. Aber nur, weil Apollo hinter dieser Website steckt, heißt das noch lange nicht, dass das keine riesige Abzocke ist.
»Dein Horoskop sagt, dass ... warte, ich muss noch mal nachschauen.« Cass kneift ihre Augen zusammen, klickt ungefähr ein halbes Dutzend Pop Ups weg und scrollt nach unten.
»Da, ich habs, ruft sie. »Du sollst dich vor neuen Bekanntschaften hüten. Was soll das denn heißen?«
Ihre Mundwinkel zucken, wie immer, wenn sie sich zwingt, nicht direkt breit zu grinsen. Aber es gelingt ihr nicht, wie immer. Schon bald kräuselt sich ihre obere Lippe und entblößt eine etwas schiefe, dafür aber schneeweiße, obere Reihe an Zähnen.
»Ob da wohl Romantik in der Luft liegt?«
Sie rückt näher. Ich knuffe sie in die Seite und schiebe sie weg.
»Was steht denn noch so da?«, frage ich. »Steht da was davon, dass ich die Prüfung bestehe?«
Es fällt mir schwer, an etwas anderes meine Gedanken zu verschwenden. Schließlich habe ich darauf vier lange Jahre hingearbeitet. Nein, länger sogar. Mein ganzes Leben habe ich auf diese Prüfung gewartet. Ich werde eine Soldatin werden. Koste es, was es wolle.
»Hier bei Geschäftlichem steht ... Erwarte das Unerwartete.«
Noch so ein Glückskeksspruch. Ich seufze. Die Schlange rückt voran und nach einer kleinen Ewigkeit erreichen wir den Altar zu Füßen der Statue. In dem Kohlebecken züngeln die Flammen gierig nach Opfergaben. Cass holt ein halbes Laib Brot und einige Trauben hervor. Bevor sie sie jedoch hineinwirft, löst sie noch die goldene Kette um ihren Hals.
»Bist du wahnsinnig?«, rufe ich und versuche, sie ihr wegzureißen.
Sie weicht mir aus. »Ich muss diese Prüfung bestehen.« Ihr Ton ist ernst, dabei hält sie die Kette noch immer fest.
»Denkst du ich nicht?«, zische ich.
Cass hat immerhin ihren Vater im Rücken, ein General der Akademie, der durchaus ein Wort für sie einlegen kann. Meiner kann das nicht mehr. Seit zwanzig Jahren nicht. Ich habe ihn nie kennengelernt und das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, ist das Vermächtnis. Mein Vater soll damals Jahrgangsbester gewesen sein. So wie ich. Und wenn ich dann noch die Prüfung mit perfekter Note bestehe, dann bin ich wie er. Dann weiß ich, dass er stolz wäre. Nur gibt es da ein Problem. Ein Problem, so gewaltig, dass ich es Cass bei genauerem Nachdenken doch nicht verübeln kann, dass sie ihren wertvollsten Besitz opfern würde.
Die praktischen Abschlussprüfungen sind berüchtigt. Unmöglich, sie vorherzusagen. Es heißt, Athene und ihr Konzil selbst arbeiten diese aus. In einem Jahr hatten die Rekruten eine Bombe entschärfen müssen, die Hälfte von ihnen starb. Ein anderes Jahr ging es um das nackte Überleben im Dschungel Nivelias, wobei wieder die Hälfte der Rekruten ihr Leben ließ. Das Mal darauf bemannten alle Prüflinge einen Raumkreuzer und verteidigten ihn gegen einen gespielten Piratenangriff. Um das Muster zu verdeutlichen: Die.Hälfte.Starb.
Es ging um Stärke, um Intelligenz und darum, im Notfall die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wie hatte Athene es irgendwann mal gesagt? Lieber wenige scharfe als viele stumpfe Klingen. Mir wäre es wichtiger, überhaupt Klingen zu haben. Aber naja, ich bin keine Göttin, was kann ich da schon wissen.
Ich blicke zur Statue hinauf. Was für eine Ironie, dass der Grande General der Akademie diejenige ist, zu der wir auch unsere Gebete richten. Als wenn sie uns nicht diesen gewaltigen Felsbrocken in den Weg gelegt hat!
Ich blinzele und fokussiere meinen Blick wieder auf die Realität. Cass steht noch immer dort, die Kette umklammert. Sie ist das letzte Andenken an ihre Mutter.
Cass hat sie, wie ich meinen Vater, nie kennengelernt. Halbwaise sein, das liegt wohl in der Familie. Mein Vater starb, um ihren zu retten, durch einen Anschlag, der eigentlich Athene hätte treffen sollen. Lange Geschichte kurz: Mein Vater ist ein Held und Cass' Vater, sein Bruder, wurde Jahre später einer. Cass will ihren Vater stolz machen, was ich verstehe, aber ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie die letzte Erinnerung an ihre Mutter in die Flammen wirft. Es ist mehr als ich von meinem Vater besitze. Nachdem er starb, hat meine Mutter alle seine Besitztümer weggeworfen, verbrannt oder im Meer ertränkt. Wie egoistisch ... hat sie jemals daran gedacht, dass ich etwas davon haben will? Etwas, was über geistiges Gut hinaus geht? Sie hätte es ja nicht sehen müssen. Sie hätte es wegschließen können, für mich aufbewahren können, irgendwas tun können. Allein der Gedanke daran lässt alte Wunden aufreißen.
»Willst du es wirklich tun?«
»J-ja ...« Ihr Blick trifft meinen. Sie lässt den herzförmigen Anhänger an einer feingliedrigen Kette von ihren Fingern hängen. Er schwingt sanft hin und her, wie ein Pendel.
»Hey!«, ruft jemand hinter uns. »Macht schneller!«
Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, der ihn augenblicklich zum Verstummen bringt. Respekteinflößen konnte ich schon immer. Niemand will sich einen Faustkampf mit der besten Duellantin des Jahrgangs leisten. Und sie wissen, dass ich nicht davor zurückschrecke, sie herauszufordern. Ich würde nur versuchen müssen, kein Blut auf heiligem Boden zu vergießen ... Das wird schwierig. Besser, ich lasse das.
Ich lege Cass eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie wichtig dir die Kette ist.«
»Deswegen muss ich das machen.«
Ihr Blick ist entschlossen und ich weiß, dass sie ihren Entschluss gefasst hat. Cass' Sturheit ist schon immer einzigartig gewesen. Ich muss es akzeptieren. Zumindest vorerst. Ich weiß ganz genau, dass ich ihr die nächsten Wochen lang einen Vortrag nach dem Anderen darüber halten werde. Doch jetzt trete ich zurück, um ihr ihre Zeit zu geben. Cass murmelt ein paar Worte und wirft ihre Opfergaben den Flammen zum Fraß vor. Innerhalb von Sekunden verschlingen sie die Materie. Auch Metall. Das ist mir beinahe unheimlich. Was wohl, passiert, wenn ich den Finger ...
»Jetzt du!« Cass strahlt. Sie wirkt wie ausgewechselt, irgendwie erleichtert, beinahe glücklich.
Hat sie vielleicht doch das Richtige getan?
Ich nicke. »Geh du schon mal vor. Wir treffen uns draußen.«
Dann trete ich an den Altar. Ich hole die andere Hälfte des Brotes, das Cass bereits in den Flammen versenkt hat, und einen geschnitzten Anhänger in Form einer Eule hervor. Ich habe ihn auf dem Wochenmarkt erstanden, das letzte Mal, als wir das Schulgelände hatten verlassen dürfen. Ich warte einige Sekunden, gehe in Gedanken meine Gründe durch, weshalb ich die Prüfung morgen bestehen muss, und gestatte schließlich auch meinen Ängsten und Hoffnungen, Form anzunehmen. Doch je länger ich denke, desto größer wird auch meine Angst. Was, wenn ich bestehe, Cass aber nicht? Was, wenn wir beide nicht bestehen? Was, wenn eine von uns stirbt? Was, wenn ... Nein. Ich werde das schaffen. Cass wird das schaffen. Ich atme tief durch und werfe Brot und Anhänger ins Feuer.
Ich bin noch gar nicht ganz fertig, da drängeln sich schon die nächsten Rekruten an den Altar. Meine Lust, eine Rauferei anzuzetteln, ist jedoch vergangen. Im Moment will ich einfach nur Cass finden.
Ich verlasse den Tempel und finde sie etwas abseits. Sie ist kreidebleich und erst, als ich an ihr rüttele, kehrt sie in die Gegenwart zurück.
»Die Prüfung morgen ...« Sie spricht die Worte so leise, ich muss mich näher beugen, um sie durch den Lärm hindurch zu verstehen.
Der Andrang vor Athenes Tempel ist einfach zu viel. Ich ziehe Cass an die Seite. Denn obwohl der Tempeldistrikt Venaris, der Hauptstadt Nivelias, imposant ist, hat auch er seine kleinen, dunklen Gassen. In einer solchen verschwinden wir und sobald sie einen Schritt aus dem Licht der zwei Sonnen in den Schatten setzt, sackt Cass zusammen.
»Vater hat mich angerufen.«
Es fühlt sich an, als würde mein Magen mir in die Knie rutschen. Wenn er anruft, kann das nur eines heißen.
»Hat er dir etwas zu morgen gesagt?« Meine Stimme bebt.
Cass nickt.
Ich packe sie an den Schultern. »Was hat er gesagt?«
Dann treten Tränen über ihren unteren Wimpernkranz, benetzen ihre Wangen und tropfen wie Regen auf ihre Uniform. Der schwarze Stoff saugt sie auf, als wären sie nie dagewesen. Dabei röten sich Cass' Augen immer mehr.
Ich wiederhole meine Frage. Als Cass nicht antwortet, setze ich mich neben sie.
»Es wird ein Duell sein«, höre ich sie sagen.
Zunächst will ich jubeln. Ein Duell als Abschlussprüfung! Unmöglich, dass ich das nicht bestehe. Dann fällt mir jedoch ein, wie Cass' Chancen stehen. Dabei scheint sie noch nicht fertig zu sein. Ihre untere Lippe zittert. Sie schafft es kaum, den Worten Form zu verleihen.
»Ein Duell bis ...« Sie schluckt und schnieft. Und allmählich wird mir klar, warum sie so weint.
»Anara!« Sie rauft sich die Haare. »Es ist ein Duell bis zum Tod.«
Mein Blick schnellt zur Seite. Ich merke, wie ich meine Augen aufreiße und sich mir die Kehle zuschnürt. Bis zum ... Tod.
»Nein, unmöglich«, hauche ich.
Aus ihrem Weinen wird ein Heulen und schließlich kreischt sie. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überschwemmt mich. Wenn das wahr ist ... ich kann sterben. Sie wird sterben. Niemals überlebt sie in einem Duell. Cass ist keine Kämpferin. Sie ist eine Strategin, sie kann rennen, sich verstecken. Sie ist flink. Nicht stark.
»Vielleicht wollte er dir Angst machen«, schlage ich vor, doch nicht einmal ich kann meinen Worten Glauben schenken. Mein Onkel ist niemand, der seiner Tochter so einen Schreck einjagen würde.
Betreten schaue ich zu Boden, warte, bis Cass sich beruhigt hat, und stehe dann auf.
»Du wirst nicht sterben«, sage ich und reiche ihr die Hand. »Das verspreche ich dir.«
»Und was ist mit dir?« Sie mustert mich aus großen, von Tränen geröteten Augen. »Hast du keine Angst um dein Leben?«
»Ich ...« Um ehrlich zu sein habe ich mehr Angst davor, ein Leben zu nehmen. »Was hat dein Vater noch gesagt?«
»Es sind geloste Gegner«, sagt sie. »Die Paare stehen schon fest.«
Panisch fügt sie an: »Was, wenn wir gegeneinander antreten müssen?«
Dann lasse ich dich gewinnen, will ich erst sagen, aber stoppe mich, noch bevor das erste Wort ganz meine Lippen verlässt.
Stimmt das? Werde ich sie gewinnen lassen? Sie hat mehr Gründe, das heißt aber nicht, dass ich nicht genauso sehr bestehen will. Nur bei einer Sache bin ich mir sicher.
»Ich werde dich nicht töten«, sage ich.
»Ich dich auch nicht«, sagt sie.
»Schwur?«
»Schwur!«
Wir schwören es uns mit unseren kleinen Fingern. Dann deute ich auf das lichtdurchflutete Ende der Gasse. »Wollen wir noch etwas trainieren?«
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