Kapitel Achtzehn
Auch wenn die Unterhaltung mit Wanda genau das gewesen war, was ich in dem Moment gebraucht hatte und mir auch wirklich geholfen hatte, verbrachte ich dennoch den Rest des Tages damit, vor dem unausweichlichen Gespräch mit Pietro davonzulaufen, indem ich durch die Straßen von Novi Grad spazierte und mich irgendwann in einer kleinen Bar niederließ.
Am liebsten hätte ich mir dort einige Runden Alkohol bestellt, allerdings hielt mich irgendwas in meinem Inneren, das ich nicht ganz identifizieren konnte, mit aller Macht davon ab, also gab ich mich mit einigen Tassen Kaffee zufrieden, da mir sowieso klar war, dass es nicht das Koffein sein würde, dass mich heute Nacht wach halten würde.
Natürlich war mir klar, dass ich mich nicht tatsächlich vor Wanda mit ihrer mächtigen, gedankenlesenden Magie und Pietro mit seiner Superschnelligkeit verstecken konnte, genau aus diesem Grund schätzte ich, dass keiner der beiden mich den Tag über aufsuchte, sondern mir meine Ruhe gönnte, in der ich es schaffte, meine Gedanken etwas zu ordnen und mich tatsächlich ein kleines bisschen zu beruhigen.
Dennoch wusste ich, dass ich ihre Empathie nicht zu sehr ausreizen sollte, weshalb ich abends noch vor Anbruch der Dunkelheit zurück zur Unterkunft zurückkehrte, wo ich mir nicht mal die Mühe machte, nach oben ins Zimmer zu gehen, stattdessen ging ich zu unserer Trainingswiese, wo ich mich niederließ und meine Beine an meine Brust zog. Ich wusste, dass sie wissen würden, dass ich da war.
Und tatsächlich: nach wenigen Minuten hörte ich das mir mittlerweile gut bekannte Zischen, mit dem Pietro erschien. Einen Moment lang blieb alles noch still und unverändert, während ich seinen Blick auf mir spürte und mich doch nicht traute, den Kopf zu heben und ihn zu erwidern.
Schließlich ließ er sich neben mich fallen. "Hi."
Diese Anrede klang so viel zurückhaltender und zaghafter, als ich es von ihm gewohnt war, was mir noch einmal verdeutlichte, wie viel sich mit diesem einen Moment verändert hatte.
"Hi."
In meinem Hals hatte sich bereits ein Kloß gebildet, der sich nicht herunterschlucken ließ, egal wie sehr ich mich bemühte.
"Ich glaube, es wird Zeit, dass wir miteinander reden", fuhr Pietro fort, obwohl dies ziemlich offensichtlich sowieso auf der Hand lag.
Ich nickte nur, kaute dabei auf der Innenseite meiner Backe herum und wünschte mir, dieser Moment wäre bereits vergangen, was ein starker Kontrast dazu war, wie ich mich sonst in Pietros Nähe fühlte, wenn ich meistens eher noch viel länger alleine mit ihm sein und seine Nähe genießen wollte.
"Wie geht es dir?", probierte er es weiter, nachdem er lange genug auf eine verbale Antwort gewartet hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er seine Hand hob, als wolle er mich berühren und sie dann langsam wieder senkte, was mich mehr verletzte, als es normal wäre.
"Nicht sehr gut", brachte ich schließlich heraus und wie zur Bestätigung spürte ich, wie sich ein Schluchzen in meinem Hals anstaute, dass ich jedoch mit aller Macht unterdrückte, "Eigentlich gar nicht gut." Ich räusperte mich, um weniger armselig zu klingen. Es fiel mir zwar unheimlich schwer, so ehrlich zu ihm zu sein, aber das hatte er verdient. "Wie fühlst du dich?"
"Erschöpft", antwortete er sofort, "Und sehr schuldig."
"Wieso schuldig?"
"Weil es meine Schuld ist, dass du gerade so viel Schmerz empfindest."
"Das ist nicht wahr." Das war so viel weniger, als ich eigentlich ausdrücken wollte, denn auf keinen Fall wollte ich, dass er sich dafür die Schuld gab, doch es war das Einzige, wofür ich im Moment die Kraft hatte. Dennoch - oder vielleicht genau deswegen - spürte ich, wie die Wut auf mich wieder größer wurde, während ich ihm diese Worte sagte, aber es nicht mal über mich brachte, ihn zu umarmen oder gar anzusehen.
Ich hasste diese neue Distanz zwischen uns.
Und dennoch wusste ich, dass auch sie meine Schuld war.
"All das habe ich getan, du hast nichts falsch gemacht", fügte ich nach einigen wenigen Minuten noch hinzu, nachdem ich die angespannte Stille nicht mehr aushielt.
Statt ihm jedoch irgendeine Art von Erleichterung dadurch zu verschaffen, hörte ich nur, wie er tief seufzte, als würde seine Last dadurch nur noch größer werden, und wäre am Liebsten nur noch weggerannt.
Stattdessen blieb ich still und unbewegt sitzen, bis ich auf einmal die Wärme seiner Hand spürte, die sich auf meine Wange legte und behutsam mein Gesicht so drehte, dass ich in seine Richtung blickte. Instinktiv wollte ich aus Scham den Blick senken, doch als hätte er dies geahnt, ließ er seine Finger unter mein Kinn wandern und hielt es oben.
"Bitte sieh mich an, Alicia", wisperte er fast tonlos, wobei er mich so intensiv ansah und mir so nah war, dass ich kurz alles vergaß.
Ich konnte genau den Moment abfangen, indem er die Veränderung in meinem Gesicht bemerkte, und für den Bruchteil einer Sekunde senkte sich mein Blick auf meine Lippen, bevor er verwirrt blinzelte und wieder in meine Augen sah.
Obwohl es nur so ein kurzer Augenblick war, brachte er die Erinnerungen daran zurück, was Wanda mir bei unserem Streit gesagt hatte: dass Pietro Gefühle für mich haben sollte und sich nur deshalb in diese viel zu große Gefahr begeben hatte.
Bis jetzt hatte ich diesen Gedanken ans Ende meiner Überlegungen verlegt, damit ich mich damit nicht auch noch beschäftigen musste, doch nun konnte ich ihn nicht mehr abwenden.
Stimmte das wirklich?
Konnte es sein, dass Pietro Gefühle für mich hatten, die über das platonische herausgingen?
Selbst wenn das so war, hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich mich damit fühlte oder ob ich sein Empfinden vielleicht sogar erwiderte. Aber könnte ich das jetzt noch überhaupt, nach allem, was ich in den letzten Tagen über mich und über ihn und über uns erfahren hatte?
Pietro schien meinen inneren Konflikt zu bemerken, schien jedoch zu denken, dass es sich noch auf die vorherige Thematik bezog. "Was du getan hast, hat mein Leben gerettet. Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass dir das so viel Schmerz bereitet, aber eigentlich bin ich dir dafür einfach nur dankbar."
"Ich habe jemanden getötet", hielt ihn schwach dagegen, denn so nah an seinen tiefen, ehrlichen Augen fiel es mir viel schwerer, ihm zu widersprechen oder irgendeinen Widerstand gegen seine Worte zu leisten, "Dafür gibt es keine Rechtfertigung."
Wenn das überhaupt möglich war, wurde sein Blick noch weicher, während sein Zeigefinger ganz leicht über die Haut an meinem Kinn strich, was mir eine leichte Gänsehaut verpasste, obwohl ich doch eigentlich im Moment gar keinen Kopf dafür hatte.
"So wie ich das sehe, hätte die Situation auf zwei Arten enden können: entweder sie wären gestorben oder ich." Dieses Mal war er es, der schwer schluckte, während er mich jedoch weiterhin aufmerksam ansah. "Bereust du es, mich gerettet zu haben?"
"Nein!" Fast hätte ich mich an dem Wort verschluckt, so schnell stieß ich es heraus, denn bei dieser Tatsache war ich mir kein bisschen unsicher. "Ich könnte niemals zulassen, dass dir etwas passiert."
Er wirkte ehrlich erleichtert und alleine die Vorstellung, dass er Zweifel daran hatte, ob ich ihn lieber hätte sterben lassen, jagte einen scharfen Stich durch mein Herz.
"Weil wir einander beschützen", führte er meine Aussage fort, "Ist das nicht das, was wir für einander tun?"
"Nicht so", protestierte ich, obwohl ich zugeben musste, dass seine Worte ein wenig von der Last auf meiner Seele nahmen, da sie wirklich Sinn ergaben.
Könnte ich diesen Moment noch einmal erleben, würde ich das, was ich getan hatte, immer wieder wiederholen, wenn ich sonst Pietro verlieren würde.
Doch was sagte das über mich aus?
Macht es dich zu einem besseren oder einem deutlich schlechteren Menschen, wenn du bereit bist, für jemanden zu töten, der dir so wichtig ist?
"Wenn ich in so einer Situation wäre...Was würdest du tun, wenn ich in Gefahr wäre?", hakte ich vorsichtig nach.
Seine Antwort folgte ohne jederlei Anzeichen von Zögern. "Alles."
Der Blick, den er mir dabei zuwarf, als wäre er sich niemals bei etwas so sicher gewesen, ließ mich sanft erschaudern.
"Alles?" Es kam fast lautlos heraus.
"Alles, was nötig ist."
Es fühlte sich an, als würde sich das Innere meines Gehirns in zwei Seiten teilen: die eine, die absolut verzaubert von diesem Satz war, der verdächtig wie ein Gedächtnis klang und die vollkommen eingenommen war, von den warmen Gefühlen, die diese Offenbarung in ihr auslöste und dann noch die andere Seite, die mich anschrie, dass genau das unser Problem war, dass wir uns immer für einander in Gefahr begeben würden, bis genau das einem von uns zum Verhängnis wird.
Für einen Moment lang war ich versucht, der ersten Seite nachzugeben und mich einfach nur in seine Umarmung voller Sicherheit fallen zu lassen und alle Verantwortung für meine düsteren Konflikte einfach abzuschieben, doch dann tauchten die erschreckendsten Bilder vor meinen Augen auf von all den Dingen, die Pietro meinetwegen passieren könnten, wenn wir so weitermachten. Er könnte verletzt werden. Er könnte von Hydra gefangen genommen werden. Er könnte sterben. Das durfte ich niemals zulassen. Nein, so weit durfte es auf keinen Fall kommen.
Aus diesem Grund sprach ich endlich das an, das ich schon den ganzen Tag lang eingeübt hatte. "Ich glaube, ich brauche etwas Zeit."
Für einen Moment tauchte eine winzige Falte zwischen seinen Augenbrauen auf, als würden ihn diese Aussage zu sehr verwirren, dann nickte er langsam. "Klar, kein Problem, soll ich dich etwas alleine lassen?"
Wieso konnte ich nicht einfach ja sagen und hier ein bisschen bleiben, bevor ich wieder zu ihm reingehen und bei ihm sein könnte? Wieso war ich nicht stark genug, um ihn vor dieser Unterhaltung zu bewahren?
"Nein, das ist nicht, was ich meine...ich brauche etwas länger Zeit für mich, um all das zu verarbeiten", flüsterte ich, da ich nicht die Kraft hatte, es lauter zu sagen, weil ich insgeheim hoffte, er würde es nicht hören und wir könnten all das ignorieren.
Aber er hörte es.
Und die Falte zwischen seinen Brauen wurde noch tiefer, zeichnete nun eine deutlich sichtbare Linie der Sorge in sein Gesicht.
"Was meinst du damit?"
Es dauerte einige Zeit, bis ich es schaffte, weiterzusprechen.
"Sowohl du wie auch Wanda habt mir so sehr geholfen, von Anfang an und auch jetzt, wo es mir so schlecht geht, aber wenn ich wirklich heilen will, dann kann ich das nur, wenn ich nicht rund um die Uhr hier bin und daran erinnert werde, was passiert ist", brachte ich dann schließlich heraus.
Sobald die Wörter meine Lippen verlassen hatte, verschwand seine Hand von meinen Kinn, während er sich wie in einem abwehrenden Reflex von mir weglehnte, als hätte ich ihn geschlagen.
Ich sah an seinem Blick, dass er verstanden hatte, was ich dachte: dass seine Nähe mich immer daran erinnerte, was ich für ihn getan hatte.
"Wohin...?"
Die Tatsache, dass er nicht mal einen ganzen Satz herauszubringen schien, tat noch mehr weh, als sein Schweigen zuvor.
"Ich war heute Morgen bei Alek, er hat angeboten, dass ich bei ihm bleiben kann." Diesen Satz auszusprechen, davor hatte ich am meisten Angst gehabt, denn ich wusste, dass er von dieser Idee nicht begeistert sein würde.
Und tatsächlich konnte ich beobachten, wie eine Vielzahl an Emotionen nacheinander deutlich sichtbar über sein Gesicht wanderten: Verwirrung, Zorn, Sorge, Trauer, Verrat, Bedauern und schließlich eine Art grimmige Akzeptanz, als er mich wieder ansah. "Wenn es das ist, was du willst."
Das war es nicht.
Was ich wollte, war bei ihm zu bleiben und alle negativen Gefühle aus seinem Leben zu vertreiben.
Aber was ich brauchte, war tatsächlich einfach Zeit für mich.
"Es tut mir leid."
"Du musst dich für nichts entschuldigen. Ich will nur, dass es dir gut geht." Noch vor wenigen Wochen wäre er vermutlich wieder wütend geworden, doch nun zwang er sich sogar zu einem Lächeln, während er sich erhob und mir seine Hand engegen hielt, um mir ebenfalls aufzuhelfen.
Viel mehr sagte er nicht mehr, während er mich zu Wanda begleitete, der ich ebenfalls von meinem Plan erzählte. Obwohl ich auch bei ihr merkte, dass sie nicht sehr glücklich damit war, schien es sie deutlich weniger zu belasten und nachdem ich versprochen hatte, dass das nicht hieß, dass wir uns nicht sehen könnten, hatte sie mich mit einer festen, warmen Umarmung gehen lassen.
Zu meinem Überraschen hatte Pietro jedoch darauf bestanden mich zu begleiten und meine Tasche zu tragen, die ich achtlos mit einigen Klamotten und sonstigen Notwendigkeiten bepackt hatte. Den ganzen Weg über hüllte er sich in Schweigen, aber irgendwann gegen Ende griff er vorsichtig nach meiner Hand, um sie wortlos mit meiner zu verschränken. Ich wehrte mich nicht dagegen und wollte es auch gar nicht, auch wenn ich wusste, dass es mir den Abschied nicht gerade leichter machen würde.
Als wir dann schließlich vor Aleks Haustür zum Stehen kamen, sah er mich zum ersten Mal auf dem ganzen Weg an und ich erwiderte den Blick, wobei ich mich unbewusst leicht auf Zehnspitzen stellte, um ein Stück der Distanz zwischen uns zu überwinden.
"Komm bald wieder nachhause" war das letzte und einzige, was er zu mir sagte, bevor er einen Schritt zurücktrat, aber noch einige Sekunden brauchte, um endlich meine Hand loslassen zu können.
"Versprochen", brachte ich noch heraus, dann war er schon verschwunden, ohne dass ich ihm wenigstens noch hätte hinterher sehen können und ich stand alleine hier, mit der Reisetasche zu meinen Füßen.
//Wattpad löscht gerade jedes Gif, das ich hochlade, deswegen fehlt bei diesem Kapitel eins. Ich füge es aber ein, sobald das bei mir wieder geht!
Frage 1: Denkt ihr, Alicia hat die richtige Entscheidung getroffen und dass ihr der Aufenthalt tatsächlich helfen wird?
Frage 2: Denkt ihr, Alicia erwidert Pietros Gefühle (schon)?//
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