Chapter Twelve
I know that I don't fit in
But I don't need your medicine
I know that I'm immature
All I feel is insecure
All I feel is all alone
Die darauffolgenden Tage bestanden daraus, irgendwie den Tag zu überstehen. Schlafen, Schule, Essen, Hausaufgaben, Schlafen. Vorausgesetzt, dass ich überhaupt schlafen konnte, denn die meiste Zeit starrte ich nur die Wand an. Obwohl ich müde war, zwang ich mich, die Augen aufzulassen und wenn ich Glück hatte, würde ich irgendwann einschlafen. Aber meistens hatte ich kein Glück.
Ich hatte Angst, dass es wieder passieren würde. Dass ich wieder Halluzination bekommen würde oder einen dieser Albträume. Außerdem war Rubens Gesicht noch immer in das Innere meiner Augenlieder eingebrannt. Es waren nicht die Albträume und Wahnvorstellungen an sich, die mir so Angst machten. Es war meine fehlende Fähigkeit, sie von der Realität zu unterscheiden. Ich wusste nicht mehr, ob ich träumte oder wach war.
Ich zählte meine Finger beinahe im Minutentakt. In der Schule erwischte ich mich dabei, wie ich in Tagträume abdriftete oder irgendetwas zeichnete, ohne, dass ich irgendetwas davon mitbekam. Die Motive waren nicht sehr beruhigend, meistens irgendwelche Männchen, die sich selbst am Galgen erhangen oder sich oder ein anderes Männchen auf verschiedene Weisen umbrachten. Bisher hatte niemand diese Zeichnungen gesehen und ich hatte auch nicht vor, sie irgendwem zu zeigen. Weder Aiden noch Genevieve. Den beiden vertraute ich zwar, aber es gab eine gewisse Grenze, die ich nicht übertreten wollte. Denn wenn ich das tun würde, könnte ich ja auch gleich durch die ganze Stadt rennen und "Ich-bin-verrückt!" rufen.
Es reichte, wenn ich das in meinem Kopf sagte.
Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Ich verlor meinen Verstand. Ich wurde verrückt, ich konnte mir selbst nicht mehr vertrauen. Ich halluzinierte Dinge und driftete manchmal einfach so vom Tagesgeschehen ab, um dann irgendwann später ohne jegliches Zeitgefühl wieder aufzuwachen. Es war wie eine Trance und ich konnte nichts dagegen machen.
Das einzige was ich wusste war, dass es etwas mit meinem Fund von Rubens Leiche zu tun haben musste. Seitdem ging es mir so schlecht, da hatte alles angefangen. Wahrscheinlich war es eine Art traumatische Reaktion oder so, aber dafür eine ziemlich heftige. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das so mitnehmen würde. Ich könnte zum Arzt gehen. Aber erstens würde sich das rumsprechen und mein Ruf war eh schon ruiniert, zweitens würde er mich vielleicht direkt in die Ahorn-Villa stecken und das wollte ich auf keinen Fall und drittens würde er mir eh nur weitere Tabletten verschreiben.
Und die nahm ich schon. Beruhigungs- und Schlaftabletten, die ich von dem Arzt bekommen hatte, der mich direkt nach jenem Vorfall untersucht hatte, waren zu meinem täglichen Begleiter geworden. Wenn ich abends ein oder zwei Schlaftabletten nahm, widersprach ich mir zwar selbst, da ich eh kein Auge zumachen wollte, aber sie beruhigten meine Nerven und erhöhten die Chance, dass ich doch einschlafen würde. Und die Beruhigungspillen entspannten mich, ohne mich müde zu machen. Denn neuerdings hatte ich öfters mal Unruhezustände, die über den Tag verteilt waren. Ich hatte den Drang, mich zu bewegen, mein Körper zitterte und ich konnte nicht stillhalten. Meine Muskeln waren angespannt und meine Sinne waren auf das höchste alarmiert. Da waren Tabletten schon ziemlich praktisch.
Vielleicht würde der Arzt auch nur reden wollen. Aber reden nutzte mir nichts, oder besser gesagt - ich hatte es oft genug versucht gehabt, aber es hatte nie funktioniert. Entweder glaubte man mir nicht und dachte, dass ich Aufmerksamkeit wollte, oder ich überdramatisierte und dass das vom Schlafmangel komme und dass ich mich doch einfach mal so richtig ausschlafen sollte. Ich wollte weder Aufmerksamkeit, ich überdramatisierte auch nicht und wenn ich ohne Hilfsmittel schlafen würde können, dann hätte ich es schon längst gemacht. Aber dieser Luxus blieb mir leider verwährt.
So vergingen drei Wochen, in denen ich so um mich her existierte. Es war inzwischen Mitte Oktober, die Bäume färbten langsam ihre Blätter und die Temperaturen sanken. Wir steuerten auf Halloween zu und die Schule traf schon eifrige Vorbereitungen für die Grusel-Party in der Turnhalle. Eigentlich hätte ich mich darauf gefreut und mitgeholfen. Eigentlich. Aber dieses Jahr brauchte ich kein weiteres Blut mehr und auch keine weiteren Leichen. Ich wollte einfach nur meine Ruhe.
"Also wie war nochmal die Übersetzung für Verfassung? Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?" Genevieve schnipste leicht genervt mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum. Meine Augen wanderten erst ein paar Sekunden verwirrt auf dem Schulhof herum, ehe sie ihr Gesicht fanden. Hatte sie etwa mit mir geredet? "Ich hab dich was gefragt. Ich dachte du wärst auch daran interessiert, wenn wir uns gegenseitig in Französisch helfen. La souffrance partagée est à moitié souffrante."
"Also wenn du den Satz in Französisch kannst, dann brauch ich dir auch nicht mehr dabei helfen", versuchte ich zu überspielen, dass ich ihr die letzten paar Minuten nicht zugehört hatte. Ich war mal wieder abgedriftet. Sie legte den Kopf schief und sah mich mit diesem Blick an, von dem ich wusste, dass er Ärger bedeutete. "Jewel..."
"Genevieve?", fragte ich gespielt unwissend und fuhr mir währenddessen durch die Haare, unzufrieden mit mir selbst. "Weißt du, ich denke immer noch, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt."
"Mir gehts gut, wirklich. Ich bin nur gestresst von der Schule."
"Und das erklärt, dass du...."
"Hey!", unterbrach ich sie ein wenig zu harsch. "Hey." Ich versuchte es ein wenig sanfter. "Es ist zwar schön, dass du dir Sorgen um mich machst und das zeigt, dass du eine gute Freundin bist, aber es ist wirklich nichts. Zumindest nichts redenswertes. Also könnten wir einfach über irgendetwas anderes reden?" Sie sah mich noch ein paar Sekunden lang mit verengten Augen an, bis sie einmal tief seufzte und ihre Mine sich aufhellte. "Okay, schön. Wenn du es so willst. Ich mein ja nur." Sie ließ ihren Kugelschreiber klicken. "Hast du eigentlich schon eine Idee, als was du zu Halloween gehen willst?"
"Keine einzige."
"Dann müssen wir dir zusammen was besorgen! Du kannst ja schließlich nicht als du selbst gehen, auch wenn das als Horror-Kostüm vollkommen ausreichen würde, so tiefe Augenringe wie du hast. Zombie wäre doch eine gute Idee." Ich konnte ihr anmerken, dass sie noch immer misstrauisch war und ich sie ganz und gar nicht beruhigt hatte, aber sie gab sich Mühe, es vor mir zu verstecken. Und umso mehr tat es mir Leid, dass ich das Licht in ihren braun-grünlichen Augen ausschalten musste. "Uhm, Gennevieve... ich will dieses Jahr nicht gehen."
Erneut legte sie den Kopf schief und musterte mich einige Sekunden lang, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. "Einfach weil du keine Lust hast oder weil...?"
"Wegen Ruben. Ich hab genug Blut gesehen für dieses Jahr." Sie blieb ein paar Sekunden lang still und suchte in meinem Gesicht nach Hinweisen, dass es noch einen anderen Grund gab oder ich nur Scherze machte, aber sie hatte keinen Erfolg. Dann sah sie einmal nach unten auf ihre Französischblätter und räusperte sich. "Okay... okay. Dann muss ich mir irgendwen anders suchen. Vielleicht Sarah?" Sie sah wieder auf. "Sarah wäre doch super, du weißt doch, wie sehr sie Gruselzeug liebt. Oder Connor, der geht doch auf alle Partys", antwortete ich und scheiterte dabei, motiviert zu klingen. "Dann ist es wohl Sarah."
"Was ist mit Sarah?", fragte eine Stimme von hinten. Ich brauchte mich jedoch nicht umzudrehen, um sie zu erkennen, als sich die Person auch schon neben mich setzte. "Sarah wird mich - höchstwahrscheinlich - zur Hallowen-Party begleiten, weil deine Freundin nicht hingeht", übernahm mein Gegenüber das Reden für mich, als sie Aiden begrüßte. "Wieso willst du nicht dahin? Du bist doch jedes Jahr gegangen", wollte er wissen, nachdem er mir einen kurzen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, weil ich meinen Kopf nicht zu ihm gedreht hatte. "Ja, aber ich hab nicht wirklich Lust dieses Jahr." Meine Hand wanderte wieder zu meinem Haar, als sich mein Ellbogen auf der Tischplatte abstützte.
"Das sagst du jetzt. Du wirst bestimmt deine Meinung ändern, wenn du mich in meinem sexy Teufelskostüm siehst. Oder soll ich mich lieber als Darth Vader von Starwars verkleiden?"
"Starwars ist was für zwölf Jährige."
"Das hast du aber letztes Jahr nicht so gesehen."
"Letztes Jahr musste ich auch nicht meinen Onkel beerdigen."
Ich hatte es eigentlich nicht sagen wollen, aber irgendwie waren die Worte einfach aus meinem Mund gekommen, ehe ich sie aufhalten konnte. Aber Aidens gute Laune nervte mich und ich bekam gerade massive Kopfschmerzen, also war das letzte, um was ich mich sorgte, eine Party, zu der ich eh nicht gehen würde. "Tut mir Leid. Ich dachte nur..."
"Nein, tut mir leid." Ich fühlte Schuldgefühle in mir aufkommen bei dem verletzten Ausdruck auf seinem Gesicht. Er hatte nur nett sein wollen und ich hatte ihn quasi dafür ins Gesicht gespuckt. "Geh du ruhig als Darth Vader oder sexy Teufel oder als was auch immer. Ich hab nur keine Lust dieses Jahr, es ist... momentan alles ein bisschen viel." Ich nahm meinen Block und meine Stifte und stand auf. "Und Genevieve, geh du ruhig mit Sarah oder ihr beide geht gemeinsam, keine Ahnung", schlug ich vor. "Ich muss nur noch was erledigen gehen. Also bis später?"
*
Es war dunkel und kalt. Und still. Ich lag auf irgendetwas hartem, unbequemen. Mein Körper fühlte sich taub an und ich musste meine Haut nicht einmal sehen, um zu wissen, dass ich Gänsehaut hatte. Warte. Hatte ich nicht eben noch von einem seltsamen Thanksgiving-Essen geträumt? Wie konnten Träume so schnell wechseln? Und die 100-Punkte-Frage: Wieso wusste ich überhaupt, dass ich träumte?
Oh nein. Es passierte schon wieder. Die Träume, die sich anfühlten, wie Realität. Nur dass ich dieses Mal wusste, dass es ein Traum war.
Langsam bewegte ich einen Finger meiner linken Hand. Sie verursachte ein Rascheln, das mir einen sofortigen Schauer über den Rücken sandte. Aber es war nur meine Hand, die es verursacht hatte und nicht mein noch immer mysteriöser Angreifer von jener Nacht. Vorsichtig richtete ich mich auf und stützte mich dabei auf dem harten Boden auf. Meine Finger krallten sich in etwas wie... Erde? Und trockene Blätter?
Ich öffnete die Augen und blinzelte ein paar Mal, um die Müdigkeit weg zubekommen, ehe ich richtig etwas erkennen konnte und sah mich um. Ich befand mich in einem Wald und das, auf dem ich lag, waren tote Blätter, die von den Bäumen abgefallen waren. Aber wieso führte mein Traum mich diesmal in einen Wald? Normalerweise waren es immer Orte gewesen, an denen ich oft war. Der Wald gehörte nicht dazu, auch wenn Aidens Haus inmitten von Bäumen lag. Da nahm ich jedoch mit meinem Auto meistens die Landstraße, die dort hinführte. Was sollte ich also hier?
Vorsichtig stand ich auf und bereute die Bewegung sofort, als ich Sterne um mich herum tanzen sah. Nach ein paar Sekunden lichteten sie sich und ich stellte mich aufrecht hin, als mein Blick über meinen Körper wanderte. Ich hatte nur meine kurze Pyjamahose an und ein dünnes Top, genau die Sachen, mit denen ich gestern ins Bett gegangen war. Meine nackten Füße spürten jeden Stein und zwischen meinen Zehen befand sich Erde.
Zu meinem Glück war es nicht komplett dunkel, das würde nämlich die Chancen drastisch senken, dass ich es aus diesem Traum schaffte, ohne einen Herzinfakt zu haben. Aber ich glaube, aus diesen Träumen sollte man auch nur fast tot kommen, dafür wurden sie vom lieben Gott oder was-weiß-ich-wem schließlich erfunden.
Nach dem Stand der Sonne nach, die ich durch die fast kahlen Baumkronen gut erkennen konnte, durfte es früher Morgen sein. War es in der realen Welt jetzt auch so früh? Ich fröstelte und der Wind machte das alles nicht viel besser. Ich schlang die Arme um meinen fröstelnden Körper und fuhr mit mit den Händen meine beiden Arme auf und ab, um sie wenigstens ein wenig aufzuwärmen.
Ich ging ein paar Schritte vorwärts, das Zwitschern der Vögel im Ohr. Es passierte nichts. Eigentlich hätte jetzt irgendetwas passieren müssen, das war sonst immer so in dieser Art von Traum gewesen. Ich wartete ein paar Minuten und lief im Kreis, um meinen ausgekühlten Körper in Bewegung zu halten. Es fühlte sich an, als ob ich schon Stunden hier draußen war und nicht erst seit ein paar Minuten. Abgesehen davon, dass das hier nicht einmal real war.
Oder?
Nach einigen weiteren Momenten, in denen nichts passierte, beschlich mich ein schlechtes Gefühl. Es lag eine morgendliche Ruhe über dem Wald, so als könnte hier gar nichts passieren und ich wäre nur ein Frühsportler, der seine Runden joggen würde. Nur eben in Schlafanzug. Kein Rascheln, kein plötzliches Auftauchen von Rubens Leiche, nichts. Irgendetwas war hier faul.
Ich löste meine zitternden Hände von meinen Armen, um einen besseren Blick auf sie zu haben. Was wenn ich mich dieses Mal irrte? Was wenn ich nicht träumte? Beunruhigt zählte ich nach. Fünf Finger. Ich träumte nicht.
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