Chapter Ten
Sometimes I just wanna drown out all of the thoughts in my mind
Too much going on at the same time
I wish it would stop and I've tried but
Life just sucks,
then we all die
"Jewel! Jewel!" Irgendetwas rüttelte mich an der Schulter und zwang mich, meine Augen zu öffnen. Das Gesicht meiner Mutter hing über mir, die braunen Augen vor Schreck geweitet. Die dunklen Ringe unter ihnen warfen lange Schatten auf das Gesicht, das schon langsam anfing, Falten zu bekommen, während ihre glatten Haare wirr und ungekämmt in alle Richtungen abstanden. Erst jetzt realisierte ich, dass mein Mund offen stand und meine Kehle sich staubtrocken anfühlte.
Ich schloss ihn wieder und der starke Griff um meine Schulter lößte sich. Mein Blick schweifte verwirrt im Zimmer herum. Es war nicht mehr ganz dunkel, die Sonne war gerade am Aufgehen, sodass das Zimmer nur im Halbdunklen lag. Dann fanden meine Augen wieder meine Mutter. Sie hatte sich inzwischen aufs Bett sinken lassen und sah mich fragend und gleichzeitig besorgt an.
"Was ist denn passiert? Ein Alptraum?" Ich nickte. Und nicht nur einer. "Du hast geschrien." Oh. "Uhm... sorry." Ich ließ meine Hand über das Bettlaken wandern. Sie zitterte. "Hab ich Oma geweckt?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, du kennst doch ihren tiefen Schlaf." Sie schwieg für eine Sekunde, ehe sie fortfuhr. "Vielleicht solltest du doch noch mal-"
"Nein! Es war nur ein Albtraum, kein Grund mich gleich in die Psychiatrie zu schicken!" Sie sah mich nur stumm an und ich konnte die aufsteigende Kälte zwischen uns deutlich fühlen. Also schluckte ich und versuchte es nochmal. "Tut mir leid. Ich meine, es war nur ein Albtraum und das hat jeder von Zeit zu Zeit."
"Aber du hast geschrien."
"Das machen viele Menschen." Es waren drei Albträume gewesen und in jedem war ich mir sicher gewesen, dass ich wach und die Situation echt war. Ich wusste nicht mal, ob ich jetzt wirklich wach war, oder ob ich in einer Endlosspirale gelandet war. War das normal? Hatte das jeder Mensch von Zeit zu Zeit? Ich schluckte erneut. Ich denke nicht. Aber trotzdem kein Grund gleich zum Therapeuten zu gehen.
"Sicher? Ich glaube, die Sache mit Ruben hat dich ziemlich mitgenommen." Ihre besorgten Augen musterten mich. "Albträume hat doch jeder Mal", antwortete ich genervt davon, dass sie aus einer Mücke einen Elefanten machte, nur um eine Sekunde später den schnippischen Unterton in meiner Stimme zu bereuen. Ich wollte nicht so undankbar klingen, wenn sie doch eigentlich nur mein bestes wollte. Wieso war ich so gereizt in letzter Zeit? Das war doch sonst nicht meine Art. Es sei denn...
Hastig sah ich auf meine Finger. Fünf. Zehn insgesamt. Die aufkeimende Panik in mir verflog wieder. "Ist irgendetwas?" Ich sah wieder auf. "Nein, nein... hör zu. Mir geht es gut. Nur ein ganz normaler Albtraum, nichts weiter. Aber danke für deine Sorge." Sie nickte verstehend. "Willst du mir erzählen, was du geträumt hast?" Ich schüttelte den Kopf. "Manche Dinge werden besser totgeschwiegen." Sie nickte und erhob sich. "Du hast dir einen Wecker gestellt? Die Beerdigung ist in ein paar Stunden."
"Ja, habe ich. Gute Nacht."
"Gute Nacht." Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich ließ mich in die Kissen zurück sinken und legte erschöpft beide Hände über meine Augen. Was war nur los mit mir? Ich hatte eigentlich immer einen guten Schlaf gehabt mit wenigen Albträumen. Schon als Baby hatte ich schon relativ früh durchgeschlafen und ich hatte nie Schlafstörungen gehabt. Und jetzt fand ich meinen toten Onkel und es war vorbei mit dem Frieden? Ernsthaft, ich hätte nicht gedacht, dass das so einen großen Einfluss auf mich hätte.
Ich hatte von traumatisierten Leuten gehört und welche Folgen Traumata haben konnten, aber ich wusste nicht, dass Traumas so leicht entstehen konnten. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keins. Ich konnte keins haben. Das alles hatte mich nur ein bisschen aus der Bahn geworfen, mehr nicht.
Und jetzt musste ich versuchen, noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, indem sich nicht jeder meiner Träume wie die Realität anfühlte.
*
Und das taten sie auch nicht. Eigentlich träumte ich gar nichts und dafür war ich auch dankbar, da ich nicht sonderlich Lust auf eine zweite Runde von "Du-bist-wach-oh-doch-nicht" hatte.
Meinen Kleiderschrank hatte ich gecheckt. Das Kleid aus meinem Traum hatte ich dort nicht finden können, denn irgendwie hatte ich die irrationale Angst gehabt, dass es vielleicht doch dort sein könnte.
Ich sah grauenhaft aus. Blass, unausgeschlafen, verwirrt. Verängstigt. Kein Make-Up konnte das so wirklich verdecken. Aber ich war immerhin nicht die einzige, denn meine Mutter sah ähnlich gerädert aus, auch wenn ich der Grund dafür war. Die einzige, die frisch wie eh und je aussah, war meine Großmutter.
Ich hatte eigentlich das Gegenteil erwartet. Ihr Sohn war ermordet worden und heute war seine Beerdigung, aber sie sah so elegant aus wie immer mit ihrer weißen Perlenkette und den weniger auffälligen, klassischen silbernen Ohrringen. Die dezente Schminke betonte ihre Ausstrahlung von Klasse nur noch weiter. So sehr ich mit dieser Frau auch nicht klar kam, so sehr hatte ich auch Respekt vor ihr. Zumindest wenn sie im gleichen Raum war wie ich.
Meiner Mum ging es genauso wie mir, denn immer wenn ihre Stiefmutter sie besuchen kam, lief plötzliche alles nach ihren Regeln. Gottseidank waren diese Besuche selten geworden, da meine Großmutter väterlicherseits ihre Zeit lieber in Mexiko verbrachte als in Amerika. Die Eltern meiner Mutter waren vor ein paar Jahren an Altersschwäche gestorben und der Vater meines Vaters als ich klein war. Also war seine Frau die einzige Großmutter, die ich noch hatte. Und gemeinsam mit meiner Mutter und Schwester die einzige Familie, die noch übrig geblieben war.
Etwas nervös ließ ich meine Finger über die Holzbank gleiten. Wir waren in der Kirche und hörten dem Pfarrer zu, wie er irgendetwas aus der Bibel herunterbetete. Oder zumindest taten das die anderen, denn ich wechselte immer hin-und her zwischen Blicken mit Aiden, nervösem Umsehen und mich selbst kneifen. Ersteres weil er nur ein paar Reihen diagonal hinter mir saß, sodass ich einen perfekten Blick auf ihn hatte, wenn ich meinen Kopf ein wenig zur Seite neigte. Mittleres weil ich sicher stellen wollte, dass die anderen Leute nicht so teilnahmslos aussahen wie in meinem Traum, was sie zum Glück nicht taten. Es waren zwar falsche Tränen und die Traurigkeit war gespielt, weil niemand diesen Außenseiter wirklich gekannt oder gemocht hatte, aber besser als die Emotionslosigkeit, von der ich geträumt hatte. Und letzteres tat ich, da ich sicher gehen wollte, dass ich nicht träumte.
Alles sah genauso aus, wie in meinem Traum. Der Pfarrer und die Kulisse waren gleich. Wir saßen sogar wieder in der ersten Reihe in genau der Sitzordnung, die ich geträumt hatte. Lediglich Aiden und seine Familie waren hinzugekommen und Genevieve, die weiter hinten saß. Ich sah hinunter auf mein Kleid. Es war nicht dasselbe. Wie auch? Ich hatte das Kleid in meinem Traum vorher noch nie gesehen; also konnte ich es auch nicht gekauft haben. Dieses hier war ein wenig aufwendiger. Mehr Spitze an den Seiten, ein etwas tieferer Ausschnitt und ein wenig kürzer, dafür aber auch unbequemer, da die Spitze ein wenig kratzte. Dennoch mochte ich es lieber als das andere. Alles war besser als das in meinem Albtraum.
Ich warf wieder einen Blick nach hinten zu Aiden. Nur das der gerade seiner Mutter zuhörte, die ihm irgendetwas zuflüsterte. Dafür fing Kyle meinen Blick auf und sein Mund verzog sich zu diesem Grinsen, das ich so sehr hasste. Was tat er überhaupt hier? Er hatte Ruben nicht einmal gesehen gehabt und hatte nicht einmal gewusst, dass er überhaupt existiert hatte. So viel zum Thema Respekt. Sich aus Langeweile auf einer Beerdigung herumtreiben...
"Jewel!" Schnell drehte ich meinen Kopf wieder um und zu meiner Mutter, die ich mich verurteilend ansah. "Könntest du wenigstens so viel Respekt haben und dem Pfarrer zuhören?" Ich und fehlender Respekt? Kyle war doch derjenige, der... Egal. Ich nickte und schluckte meine Wut runter. Es brachte ja eh nichts.
Also hörte ich für die restliche halbe Stunde irgendwelchen Gebeten zu, von denen ich noch nie etwas gehört hatte und von denen ich auch nie etwas hören wollte. Ich war zwar katholisch erzogen worden, da in Mexiko das Christentum eine große Bedeutung hatte, aber interessiert hatte es mich nie so richtig. Ich war einfach nicht der Typ, der jeden Tag beten und streng nach Gottes Regeln leben wollte. Die mexikanischen Feiertage hielt ich ein, aber die christlichen? Nicht wirklich.
Meine Mutter hatte das auch nie wirklich gestört. Sie war selber mit vierzehn aus der Kirche ausgetreten, nur mein Vater hatte das ernst genommen. Jedoch hatte er uns nie zu irgendetwas gezwungen, wofür ich ihm wirklich dankbar war, da ich mir nicht hätte vorstellen können, so zu tun, als wäre ich gläubig. Meine Oma war da das Gegenteil. Streng gläubig, der Katholizismus und die mexikanischen Feiertage waren das wichtigste bei ihr. Deswegen bekamen meine Mutter und ich auch so viele verurteilende Blicke ab. Das war ihre Art, auszudrücken, dass sie mit unserer Lebensweise nicht einverstanden war. Ziemlich nervig auf Dauer.
Sie hatte uns beide gestern dazu gezwungen, für Ruben zu beten. Nach typisch mexikanischer Art eben, da die Mexikaner so ihre eigene Vorstellung von Beerdigungen hatten. Und ich war verdammt froh, dass wir nicht alle Rituale eingehalten hatten. Denn die Mexikaner wuschen den Toten gerne selber, kleideten ihn neu ein und bewahrten ihn in einem Sarg in ihrem eigenem Haus auf. Ich glaube, das hätte ich nicht durchgehalten. Meine Oma hatte das ursprünglich auch vorgehabt, aber meine Mutter hatte sie Gottseidank von dieser wahnsinnigen Idee abhalten können. Es war ja schlimm genug, dass die eine Hälfte des Sarges aus Glas bestand, sodass man direkt auf den Leichnam schauen konnte.
Ich hatte noch nicht gewagt, einen Blick hineinzuwerfen und das hatte ich auch nicht vor, nur würde ich es früher oder später leider tun müssen. Denn wie auch bei einer klassisch christlichen Beerdigung würden wir noch Erde in das Loch hineinwerfen, in das der Sarg herabgelassen wurde. Spätestens da würde ich ihn aufgrund des Glases noch einmal sehen. Aber in Mexiko wurde jedoch der Sargdeckel vor der Herablassung noch einmal geöffnet, damit Angehörige noch einen letzten Blick auf den Verstorbenen werfen konnten. Und ich hatte keine Hoffnung, dass das hier nicht gemacht werden würde, weil es hier nicht üblich war. Meine Großmutter war sehr bestimmerisch, ich war mir sicher, dass es hier genauso gemacht werden würde, wie in Mexiko.
Ich war auf wenigen Beerdigungen dabei gewesen und an die meisten konnte ich mich nicht wirklich erinnern. Die von meinem Großvater, vielleicht auf welchen von ein oder zwei Freunden meiner Eltern. Die von meinem Vater.
Ich schluckte schwer. Ich war neun gewesen, fast zehn, aber ich konnte mich an alles erinnern. An die vielen weinenden Menschen, an meine Mutter, die am Boden zerstört gewesen war, an Amaia, die mich tröstend im Arm gehalten hatte. An meine Großmutter, die ihre kühle Fassade abgelegt hatte. Heute weinte sie nicht. Ich hatte immer geahnt, dass sie meinen Dad immer lieber gemocht hatte als Ruben.
In Momenten wie diesen vermisste ich meine große Schwester. Sie hatte Ruben, genau wie wir, nicht wirklich gekannt und hatte es nicht eingesehen, extra von Mexiko hierher zu kommen. Sie studierte und war mit ihren vielen kleinen Nebenjobs beschäftigt. Sie hatte nicht die Zeit gefunden und auch nicht die Lust. Was ihr natürlich größte Missbilligung seitens meiner Großmutter eingebracht hatte, aber das interessierte sie nicht.
Wir waren immer verschieden gewesen. Sie war die Frohnatur, die nicht auf die Meinung anderer Menschen geachtet hatte. Nie. Sie war die beliebte, die, die man auf Anhieb mochte. Ich war eher die Stille. Klar konnte ich auch auf mich aufmerksam machen und laut werden, nur tat ich das eher selten. Trotzdem wusste ich, dass sie es nicht leicht gehabt hatte. Die Sache mit meinem Vater hatte sie stark mitgenommen, so wie jeden von uns, und das Studium war auch nicht gerade leicht, geschweige denn von den ganzen Jobs, die sie nebenbei hatte, um sich über Wasser zu halten, auch wenn meine Mutter ihr monatlich ein bisschen Geld zukommen ließ. Wir kamen dennoch gut miteinander aus. Eigentlich hatten wir die Art von Freundschaft, die man sich mit seiner Schwester nur wünschen konnte.
Sie brachte mich zum Lachen, war beschützerisch, behandelte mich aber nicht wie ihr fünf Jahre jüngeres Geschwisterchen, sondern wie ihre beste Freundin. Und dennoch war das verbindende Gefühl von Familie da. Wir telefonierten viel, schrieben häufig SMS und ich plante, sie zu besuchen. Bisher war mir das nicht möglich gewesen, da meine Mutter Mexiko strikt gemieden hatte, aber ich wollte zu ihr kommen, wenn die Schule vorbei war. Dann würde ich auch genug Geld haben, da ich momentan sparte. Ein kleines Lächeln schlich sich mir auf die Lippen bei der Vorstellung, wie wir gemeinsam im Bikini am Strand liegen und die Sonne genießen würden.
Nach der gefühlt stundenlangen Predigt folgte die Prozession. Ein paar Männer, engagiert von der Kirche, trugen den Sarg zu seinem Platz auf dem Friedhof, der ein paar hundert Meter weiter im anliegenden Wald lag und wir anderen folgten ihm. Als wir schließlich angekommen waren, wurde der Sargdeckel hochgehoben und meine Mutter, meine Großmutter und ich schauten ein letztes Mal in den Sarg, bevor er in ein schon vorbereitetes Loch hinab gelassen wurde.
Ich biss dabei die Zähne zusammen und bemühte mich um einen gleichmäßigen Atem. Das Blut war ihm zum Glück abgewaschen worden und nur ein paar Kratzer auf seinem Gesicht waren geblieben, aber alles, was ich sehen konnte, war das Bild von meinem Traum. Mich, wie ich friedlich da lag mit makelloser Haut, die von der einen Sekunde auf die andere mit dunklem Blut bedeckt war. Meine Finger strichen über meine nackten Arme. Die Kratzer waren immer noch deutlich zu spüren und auch wenn inzwischen gut drei Wochen vergangen waren, waren sie noch immer nicht verheilt.
Der Sarg berührte schließlich die Erde und man gab meiner Großmutter eine Schaufel. Sie schaufelte ein wenig Erde ins Grab und warf noch eine Blume hinein, ehe sie sie meiner Mutter in die Hand drückte, die das gleiche tat, nur ohne Blume. Dann kam ich an die Reihe und machte es ihr nach. Noch ein paar andere Leute bekamen die Schaufel, ehe der Pfarrer noch einmal für ein paar Minuten betete und wir das Grab dann alleine ließen, damit die Bestatter es in Ruhe zubuddeln und eine Grabplatte darüber mauern konnten.
Ich sah zu meiner Oma. Ihr Blick verriet nicht viel, aber ich war mir sicher, dass sie ihn lieber neben seinem Bruder und Vater begraben hätte, so wie es für unsere Kultur eigentlich üblich war.
Ich atmete einmal tief ein und aus. Jetzt würde es zum Leichenschmaus gehen.
Und auf die Tradition, die die Tage darauf folgte, freute ich mich absolut nicht.
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