Kapitel 4: Rattengift
Ich ziehe mich zurück, nachdem alles getan ist und setze mich auf mein Bett, wo ich das Päckchen aus der Tasche nehme und diese auf den Boden fallen lasse. Glücklich lache ich leise auf und freue mich auf diesen Zeitpunkt. Gegessen habe ich kaum etwas, damit meine Geschwister satt werden - doch für das hier lohnt es sich alle mal. Mein heutiger Griff ist Heroin. Ich habe in den letzten Monaten vieles ausprobiert, doch diese Droge teilt sich gemeinsam mit Kokain den Platz meines Favoriten.
Das verdammte Gefühl der Geborgenheit und der Ruhe! Ich bereite alles vor und streue ein wenig des Pulvers auf ein Blatt Papier. Mit einen selbst gebauten Röhrchen setze ich an und schniefe einfach alles Gestreute in meine Nase. Für kurze Zeit wird mir schwindelig, doch das verfliegt schnell wieder. Das Röhrchen mit den abgestumpften Rändern lege ich wieder mit dem Rest des Pulvers versteckt hinter das Gummi einer kaputten Haarbürste, welche wiederrum von mir in einer Schublade verstaut wird.
Auf dem Bett liegend drehe ich mich zufrieden auf den Bauch und kuschle mich in mein Kissen mit dem bereits eintretenden Gefühl davon, wie in Watte gepackt zu sein. Meine Atmung verlangsamt sich und all der Stress fällt von mir ab. All die Sorgen und Rückschläge werden wie nicht existent oder einfach irelevant, meine Ängste lösen sich auf und zurück bleibt ein Gefühl von tiefer Selbstzufriedenheit. Ich weiß, wenn ich Schmerzen gehabt habe sind sie spätestens jetzt einfach verschwunden ...
Einen Zustand, den ich nur mithilfe dieses Pulvers erlangen kann ...
Nur damit kann ich glücklich sein.
Nur damit kann ich mein Leben lieben.
Es ist 15:22 Uhr, als ich meine Augen öffne und komisch in meine Decke gewickelt bin. Außer ein leichtes Kribbeln in meiner Nase ist vom letzten Trip nichts mehr übrig geblieben und ich bin wieder in meiner Welt, der schrecklichen Wahrheit. Aus dem weichen Federbett ist eine verdreckte Matratze geworden und die Wände wirken genauso beengend wie am Tag zuvor, beinahe pressen sie mich noch ein Stück mehr zusammen. Mein Bauch zieht sich zusammen, für Sekunden bekomme ich das Gefühl, als würde sein einziger Inhalt, meine Magensäure, in meinen Hals gedrückt werden. Das Verlangen nach Erbrechen kommt in mir hoch, doch verfliegt nach wenigen Minuten, die ich innerlich angefressen auf der nicht bezogenen Matratze verweile.
Nachdem ich mich langsam aufgefangen habe und durch die durch Geschrei hallende Wohnung gehe, als wäre es das normalste der Welt - was es für mich auch ist - erkenne ich meine Mutter im Flur wieder, wie sie Maurice, den kleinsten von uns, gerade am Handgelenk herumreißt und trotz der vielen Tränen des Fünfjährigen den Zeigefinger vor seinem Gesicht in die Höhe streckt, und schreit: "Hast du dem Gerald wieder gesagt, dass er nicht dein Papa ist!?"
Ich bleibe vor der Küche stehen und beobachte in der Kleidung des gestrigen Tages kurz das Geschehen. Meine Erzeugerin zieht und zerrt grob an dem Kind herum, bis ich ein "Lass ihn" herausbringe und sie ihn vor Schreck aus den Fingern verliert. Maurice kommt sofort zu mir gelaufen und versteckt sich hinter meinem Rücken vor der Frau, welche wir Mutter nennen sollen. "Du!", zischt sie und deutet auf mich. Sie ist eine dicke Frau, die sich nicht viel bewegt und, wie bereits erwähnt, das Wohnzimmer zu ihrem Lebensraum erklärt hat. Dort sitzt sie bei Tag und Nacht gemeinsam mit Gerald vor dem Fernseher und ... das ist eigentlich schon alles. Alkoholflaschen, zum Teil leer, verschüttet oder noch geschlossen, überquellende Zigarettenbecher und Anti-Baby-Pillen, die mal mehr, mal weniger eingehalten werden liegen dort verstreut herum.
Ich hasse diese Frau, diese Männer, diesen nach dem Gemisch aus Alkohol, Rauch, Schweiß und Sex stinkenden Raum.
"Du, halt dein Maul!", zischt sie und schwabbelt wie gewöhnlich, wenn sie wütend ist, mit ihren Armen herum. Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der ich wie Maurice jetzt im Moment Angst vor ihr hatte, doch heute ist es höchstens noch der Geruch ihrer stinkenden Atemwege, verursacht durch faulige und verrottende Zähne, die mir den Magen umdrehen.
Selbst ein "Aha" ist mir zu kostbar für dieses Wesen vor mir, weshalb ich Maurice in die Küche schiebe und aus den Augenwinkel das Gegenstück zu meiner Mutter sehe - Gerald.
"Verpeste nicht meine Luft", zischt sie weiter und dreht sich zu ihrem Freund um, "und sag deinen Geschwistern, dass sie endlich die Fresse halten sollen!" Dabei wendet die aggressive Frau sich noch einmal zu mir und schreit ihre Worte plötzlich - dabei treten sogar leicht ihre braunen Augen hervor und zwischen schimmligen Wänden und milchigen Licht fliegen ihre fauligen Speicheltropfen auf den Boden, welcher langsam seine Farbe verliert.
Ich zucke kurz zusammen und winke ab, bevor ich schnell in der Küche verschwinde.
Hier erwarten mich zwei streitende Schwestern, welche sich gegenseitig an den Haaren zerren und grob von mir auseinander gezogen werden. "Mann, lasst es doch einmal!", knurre ich von dem Anblick meiner Erzeugerin gereitzt und drücke beide alles andere als sanft auf zwei verschiedene Stühle. "Die Hure hat meine Schminke benutzt!", kreischt Annika, die etwas ältere der beiden, doch ich antworte nicht darauf und setze Maurice ebenso auf einen Stuhl am Tisch, gleich neben meinen anderen Bruder Danny.
Eigentlich heißt er Daniele und ja, unsere Namen passen nicht zusammen.
Chen, der Älteste von uns, und ich sind beide vom selben Vater, welcher von asiatischer Herkunft war. Ich weiß nicht, ob koreanisch oder chinesisch ... Es ist mir auch egal.
Daniele, Annika, Vanessa und Maurice teilen sich keinen Vater und unsere Mutter hat ihnen wohl irgendwelche Namen gegeben. Ich weiß, ich habe viele Geschwister und keine Hilfen, doch wenn ich nichts tue, dann werden sie alle untergehen und niemals die Chance auf ein normales Leben bekommen.
Gegen sieben Uhr verschwinde ich wieder im Park, um etwas frische Luft zu schnappen und begutachte die wahrscheinlich von aufgenommenen Rattengift verstorbenen Tauben in den Ecken der Straßen. Einfach nur zur Seite gekehrt, wie Menschen wie mich, als unwichtig abgetan ...
Erst, als ich dort meine Bekanntschaft von Gestern auf einer Bank sitzen sehe, fällt mir die Verabredung seinerseits ein. Der Junge, dessen Namen ich mir nicht merken konnte, spielt an seinem Handy und ist ganz alleine. Unter dem Baum sieht er beinahe einsam aus. Ob er wohl auf mich gewartet hat? Die ganze Zeit? Warum sollte er das tun? Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht kommen werde - zumindest versuche ich damit mein sich langsam anbahnendes Gewissen zu unterdrücken und mich zu rechtfertigen ...
Ich schlucke und gehe den Weg zu dem Jungen entlang. Er hat sicherlich nicht seit zwei Uhr auf mich gewartet, nein, er sitzt einfach seit einer Viertelstunde dort und spielt mit dem Smartphone ...
"H-hallo", lächle ich ihn von der Seite an. Seine grünen Augen blitzen wie gestern zu mir auf und grinst sofort. "Da bist du ja endlich. Ich dachte, du kommst nicht mehr."
Er ... er hat tatsächlich auf mich gewartet.
Fünf Stunden lang.
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