8) Sugardaddy
Mein Zug fiel aus. Nicht nur einer, sondern gleich zwei direkt hintereinander, und da meine Verbindung ohnehin nur stündlich fuhr, verdammte mich das zu knapp drei Stunden Wartezeit. Wenn der nächste und gleichzeitig letzte an diesem Abend um 23:44 Uhr auch noch ausfiel, hatte ich einfach Pech gehabt und musste hier übernachten.
Wohlwissend, dass sich am Hauptbahnhof um diese Zeit nur noch Dealer und Schläger herumtrieben, hatte ich beschlossen, so lange wie möglich an der Uni herumzulungern und mich warmzuhalten. Irgendwann war ich zur Hochschule hinübergepilgert, deren Cafeteria freitags länger offen hatte als die der Uni.
Demnach saß ich jetzt im Schneidersitz mit zwei Bechern heißer Schokolade auf meiner üblichen Bank und sah dem Personal miesepetrig dabei zu, wie sie die Schotten pünktlich um 20:30 Uhr dichtmachten. Dabei bedachten sie mich immer wieder mit mitleidigen Blicken, und als sie wenig später in Zivilklamotten wieder in die Aula kamen, drückten sie mir sogar noch einen Muffin in die Hand.
Den inhalierte ich in Sekundenschnelle und starrte dann sehnsüchtig auf den letzten Tropfen heiße Schokolade hinab, der sich noch in meinem zweiten Becher befand. Wie sollte ich die restlichen zwei Stunden überstehen? Vor allem, wenn um zehn der Schließdienst kam und mich hochkant rauswarf? Dann blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu den Dealern und Schlägern zum Hauptbahnhof zu gesellen. Normalerweise würde ich jetzt Harry in seiner Wohnung belästigen, aber der war heute ebenfalls unterwegs und wusste nichts von meinem Dilemma, und ich würde den Teufel tun und ihn mit einem Anruf belästigen.
Seufzend schloss ich die Augen, ließ meinen Kopf an das Fenster hinter mir zurücksinken. Vielleicht hatte der Schließdienst Gnade mit mir, wenn ich so tat, als würde mich schlafen? Allerdings wäre ich dann drin und könnte nicht mehr raus. Ungünstig. Andererseits ... ging raus nicht immer? Hm.
Prompt wurden Schritte laut.
Oh Gott. Menschen.
Auch das noch.
Erst wollte ich die Augen einfach geschlossen halten und so tun, als wäre ich nicht da, aber dann wurden die Schritte plötzlich verlangsamt, und sofort erwachte meine verdammte Neugierde. Verstohlen blinzelte ich mit einem Auge – und hätte dann fast meinen kostbaren Rest der heißen Schokolade verschüttet, als ich realisierte, wen ich vor mir hatte.
Zayn.
Er stand noch gut dreißig Meter von mir entfernt, offenbar auf dem Weg zum Ausgang, seine Ledertasche in einer Hand, sein Smartphone in der anderen. Er trug wieder diesen langen Wintermantel, diesmal kombiniert mit Schal und Handschuhen. Verständlicherweise, der Januar hatte mal wieder beschlossen, so richtig arschkalt zu werden.
Zayn starrte mich an. Obwohl mir die Schlitze meiner halbgeöffneten Augenlider nur ein schmales Sichtfeld boten, konnte ich in aller Pracht mitverfolgen, wie er mit sich haderte. Offensichtlich hatte er eigentlich schnurstracks an mir vorbeigehen wollen, ohne mich anzusprechen – doch dann seufzte er hörbar, setzte sich wieder in Bewegung, und steuerte selbstverständlich direkt auf mich zu.
Na toll.
Hastig riss ich die Augen komplett auf und setzte mich gerader an, die Finger so fest um meinen Becher geschlossen, dass ich ihn fast zerquetschte. Zum Glück war er schon so gut wie leer.
„Niall", begrüßte Zayn mich höflich, als er vor mir zum Stillstand kam. „Was treibst du um diese Uhrzeit noch hier? In eineinhalb Stunden kommt der Schließdienst und wirft dich raus."
„Ähm." Unschlüssig find ich seinen Blick auf, etwas irritiert davon, derartig zu ihm aufsehen zu müssen. Wahrscheinlich erweckte ich einen erbärmlichen Eindruck, wie ich so wie das letzte Häufchen Elend hier herumsaß und in meine fast leere, eiskalte Schokolade glotzte. „Meine Züge fallen aus. Ich sitze einfach die Zeit ab."
„Oh." Zayns Stirn lag in tiefen Falten. „Wann fährt der nächste?"
„23:44 Uhr."
„Das ist in drei Stunden." Jetzt klang er alarmiert. „Wo wartest du, wenn sie hier dichtmachen?"
Seine besorgte Fragerei rührte mich einerseits, andererseits wollte ich einfach nur, dass er verschwand und mich mit meinem Selbstmitleid in Ruhe ließ. Außerdem erinnerte mich seine Anwesenheit nur daran, wie peinlich die gestrige Musikpsychologie-Stunde geendet hatte. Großer Gott, er hatte mir nur einen kleinen Tipp zum Klavierspielen gegeben, und ich hatte mir gleich in allen Facetten ausgemalt, wie es wohl wäre, wenn er mich stattdessen über das Instrument beugte und ...
„Niall?"
Ich schrak zusammen. „Hm? Oh. Ähm. Am Hauptbahnhof, denke ich. Wird mich schon keiner vergewaltigen oder umbringen."
Wieder starrte er mich an, die Lippen zu einer verkniffenen Linie zusammengepresst. Das übliche Gesicht, das er zog, wenn er kurz vorm Austicken war, sich aber mit all seiner Pädagogen-Macht davon abhielt. „Das ist nicht lustig. Du musst nach Kensburgh, oder?"
Mein Augenlid zuckte. Als ob er das nicht wüsste. „Richtig."
„Ah." Ich konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf ratterte, ehe er erneut seufzte, diesmal umso tiefer. „Da fahre ich jetzt auch hin. Ich kann dich mitnehmen."
Moment, was?
„W-was?" Diese Info musste ich kurz verdauen. „Was willst du denn in Kensburg?"
Zayns Miene blieb ausdruckslos. „Privates."
Privates? Bei seinem letzten Mal in Kensburgh hatte er dann sicherlich auch Privates zu tun gehabt. Unter anderem, mich mit seinem Geschlechtsorgan in andere Sphären zu befördern, und gleich danach wieder abzuhauen, weil er in die Arbeit musste.
Natürlich konnte Zayn mir meine Gedanken an der Nasenspitze ablesen, denn er gab ein ernüchtertes Ächzen von sich. „Niall, dieses Angebot beruht rein auf meinem persönlichen Helfersyndrom, ohne irgendwelche Hintergedanken. Ich lasse dich doch nicht stundenlang erst hier und dann allein am Hauptbahnhof herumsitzen, wenn ich jetzt mit dem Auto genau dorthin fahre, wo du auch hinmusst. Es liegt an dir, dieses Angebot anzunehmen."
Reflexartig wollte ich ablehnen, denn was war denn dann mit meiner Strategie? Zu ihm ins Auto zu steigen und eine Stunde lang auf engstem Raum neben ihm zu sitzen und mit ihm zu quatschen, zählte definitiv nicht zur Rubrik Vermeidung.
Andererseits war ich völlig fertig und wollte einfach nur nach Hause.
„Okay. Angebot angenommen." Schwerfällig hievte ich mich von der Bank. „Vielen Dank."
„Nichts zu danken." Zayn musterte mich argwöhnisch, als ich meine Sachen zusammenpackte. „Mit dieser dünnen Jacke wolltest du zwei Stunden am Gleis absitzen?"
Ich bedachte ihn mit einem schrägen Blick. „Willst du mich jetzt wirklich bemuttern? Das könnte ich auch falsch verstehen."
„Niall." Zayn biss so fest die Zähne zusammen, dass sein Kiefer zu beben begann. „Ich würde dich sehr darum bitten, solche Kommentare steckenzulassen."
„Was denn?" Jetzt konnte ich mir trotz allem ein kleines Grinsen nicht verkneifen. „Du hast doch mit der Altersunterschied-Geschichte angefangen. Vielleicht habe ich ja Interesse an seinem Sugard-..."
„Sprich das bloß nicht zu Ende."
„Tut mir leid." Angesichts seiner mörderischen Miene biss ich mir auf die Unterlippe. Eigentlich hatte ich gedacht, sein Lächeln wäre schon unübertreffbar attraktiv, aber sein drei-Tage-Regenwetter-Gesicht übertraf dieses tatsächlich noch um Meilen. Trotzdem hatte ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Anscheinend kaute er immer noch auf der Tatsache herum, dass mit jemandem geschlafen hatte, der knapp zehn Jahre jünger war, und ich hatte nichts Besseres zu tun, als gezielt in der Wunde zu stochern. Nicht gerade cool. „Zayn, ich mach doch nur Spaß."
„Ich weiß." Er wartete, bis ich alles beisammenhatte und die leeren Becher einen Platz im Mülleimer gefunden hatten, dann setzte er sich in Bewegung. „Scheint so, als hätten wir recht unterschiedliche Strategien, diese Situation in den Griff zu kriegen."
Ich erwiderte nichts. Mir war bewusst, dass er mitbekommen hatte, wie emsig ich ihm aus dem Weg gegangen war. Und meine theatralische Flucht gestern nach seiner Hilfestellung am Flügel dürfte auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein. Verdammt, hoffentlich sprach er mich nicht darauf an.
Schweigend folgte ich ihm über den dunklen Hochschulcampus zu den Parkplätzen, bis er an einem roten Opel Corsa zum Stehen kam.
„Ah." Frech grinste ich ihm zu. „Irgendwie hätte ich ein größeres Auto erwartet."
Ein weiterer Sugardaddy-Witz lag mir auf der Zunge, den ich im aller-allerletzten Moment hinunterschluckte, doch selbstverständlich hatte Zayn schon begriffen, worauf ich hinauswollte. Statt jedoch wieder seine Axtmördermiene von vorhin zu ziehen, schüttelte er nur den Kopf, und ich bildete mir ein, sogar den Anflug eines Grinsens auf seinen Lippen zu sehen.
„Tu mir den Gefallen und steig einfach ein."
Triumphierend kletterte ich auf den Beifahrersitz. Ich hatte Zayns professionelle Fassade zum Schmelzen gebracht. Eigentlich sollte ich das nicht als Erfolg sehen, aber ich tat es trotzdem. Es gefiel mir, ihn aus der Reserve zu locken und – seiner Meinung nach – unangemessene Reaktionen aus ihm herauszukitzeln.
Zayn stieg neben mir ein. Seinen Wintermantel hatte er abgelegt und die Ärmel seines dunkelblauen Pullovers zurückgeschoben, womit er mir freie Sicht auf seine tätowierten Arme bot und mich in Versuchung brachte, ungeniert zu gaffen.
Hastig wandte ich den Blick ab, ehe er mich womöglich dabei erwischen konnte. Warum gefiel mir dieser Typ so? Warum konnte er nicht wie jeder andere One-Night-Stand sein und nach dieser einen Nacht sofort wieder aus meinem Hirn verschwinden? Stattdessen kreisten meine Gedanken umso mehr um ihn, malten sich Szenarien aus, die tatsächlich absolut unangemessen waren. Ich musste dringend meinen Kopf aus dem Klo ziehen.
Die ersten Minuten der Fahrt verstrichen unter Schweigen. Es war nicht ganz so unangenehm, wie ich es insgeheim befürchtet hatte, aber trotzdem standen mir die Haare zu Berge. Gerne hätte ich irgendetwas gesagt, ihn etwas gefragt, einfach, um die Stille zu füllen, aber ich wusste nicht, zu welchem Thema. Er war mein Dozent, noch dazu einer, bei dem es jetzt umso wichtiger war, Distanz zu wahren. Ihn über sein Privatleben auszuquetschen, erschien mir unpassend. Noch unpassender als meine dummen Witze von vorhin, versteht sich.
Unpassend erschien es mir außerdem, ihn die ganze Zeit heimlich von der Seite her zu mustern, aber ich konnte es nicht abstellen. Er faszinierte mich. Sein dunkles Haar war nach der kleinen Wanderung über den Campus vom Winde verweht und glänzte leicht feucht, zog meinen Blick magnetisch an. Er war heiß, wenn er Auto fuhr. Die Lässigkeit, mit der seine eine Hand auf dem Ganghebel lag, während die andere geschickt das Lenkrad umherdrehte. Die Art und Weise, wie er leicht breitbeinig in seinem Sitz saß und immer wieder mit der Schalthand auf seinem Oberschenkel herumklopfte, wenn sie gerade nichts anders zu tun hatte. Und dann waren da natürlich noch die Lichter, die über sein Gesicht tanzten, seinen dunklen Teint in Gold verwandelten, und ihm einen engelhaften Touch verliehen.
Fuck.
Am liebsten würde ich schreiend aus dem fahrenden Auto springen. Die andere Option wäre, über die Mittelkonsole in seinen Schoß zu klettern und meinen Hintern an ihm zu reiben, aber da nun mal keine der beiden Möglichkeiten in Frage kam, begnügte ich mich damit, stocksteif dazusitzen und meine Finger ineinander zu verknoten.
Ich wiederhole: Ich hatte eindeutig ein Problem.
„Niall, ich möchte noch eine Sache ansprechen."
Das Herz rutschte mir in die Hose.
„Klar", quiekte ich, als wäre alles in bester Ordnung. „Schieß los."
„Okay. Danke." Zayn warf mir einen schnellen Blick zu. „Es geht um die Praxisstunde gestern. Es tut mir leid, falls es von meiner Seite her zu viel war. Normalerweise versuche ich, ein freundliches, kumpelhaftes Verhältnis zu meinen Studierenden zu pflegen, weil starre Distanz im künstlerisch Bereich nichts zu suchen hat, jedenfalls meiner Meinung nach. Wie die Dinge mit dir aktuell laufen, tut mir weh. Du kannst mir während des Kurses nicht einmal in die Augen sehen, und das ist das Letzte, was ich erreichen wollte. In dem Versuch, das irgendwie auszubügeln, bin ich gestern wohl über das Ziel hinausgeschossen. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass du dich unwohl oder gar bedrängt fühlst."
Ich rang um Worte. Was sollte ich darauf denn entgegnen? Dass er sich keine Sorgen machen sollte, weil ich mich nicht bedrängt oder unwohl gefühlt hatte, sondern im positivsten Sinne angemacht? Das wollte er sicherlich noch weniger hören. Noch dazu war es außerordentlich peinlich für mich, fast einen Steifen zu kriegen, nur weil er neben mir stand und sich unsere Schultern berührten.
Aber andererseits ... müsste er es nicht auch spüren? Genau jetzt brutzelte doch auch wieder diese Spannung zwischen uns, dieses siedend heiße Flimmern, das unstillbare, beinahe schmerzhafte Verlangen, zu berühren. Wenn ich mich konzentrierte, glaubte ich sogar, es summen zu hören, fast so, als könnte sich jeden Moment etwas entladen. Oder bildete ich mir das alles nur ein, weil ich so auf ihn abfuhr?
„Schon in Ordnung", antwortete ich schließlich mit einem kleinen, fürchterlichen Lachen. „Ich habe mich einfach blöd angestellt."
„Nein, hast du nicht." Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er die Stirn runzelte. „Wenn du etwas empfindest, ist das valide. Egal, worum es geht."
„Kannst du deinem Psycho-Sozpäd eigentlich auch mal den Stecker ziehen?"
„Meinem Psycho-Sozpäd?" Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, als er schallend zu lachen begann, und sofort fühlte ich mich um ein Vielfaches besser. „Das ist dein Eindruck von mir?"
Grinsend zuckte ich die Schultern. „Du bist immer sehr verständnisvoll, sozial und fachlich."
„Soll das ein Kompliment sein?"
Das war es in der Tat, und er klang so ehrlich überrascht und so gerührt, dass mir schlagartig die Hitze in die Wangen stieg.
Verlegen rutschte ich tiefer in den Sitz. „Nimm es einfach als eines an."
„Ist notiert."
Die Stille, die sich daraufhin über uns senkte, war schon deutlich angenehmer. Mein Bedürfnis, mich kurzerhand auf ihn zu stürzen, ihn zu küssen und jene Freitagnacht vor einigen Wochen zu wiederholen, existierte zwar immer noch, aber jetzt hatte ich mich – und meine Fantasien – besser unter Kontrolle.
Zayn hatte seine Grenzen klargemacht. Mehrmals.
Ich sollte sie respektieren, statt darauf herumzureiten.
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Wie diese Heimfahrt wohl ausgeht?😌👀
Eigentlich sollte das Update morgen kommen, aber da ich das WE über nonstop unterwegs bin (und am Montag auch nicht diesen freien Tag bekomme, wie ich es eigentlich geplant hatte, im f***cking Gegenteil🙄🤦🏻♀️) ... voilà🎉
Lasst mir gerne eure Gedanken da🥰 Bei den Kommis im letzten Kapitel stehen noch meine Antworten aus, die hole ich morgen nach!🥺🙏
Danki & liebe Grüße
Andi🌈
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