21) Existenzglück
Trotz der Dunkelheit erkannte ich Zayns roten Corsa schon von Weitem. Er kam mehr oder weniger direkt hinter dem Bus angetuckert, den Harry nehmen musste und auch sollte. Erstens, weil er ansonsten nochmal eine halbe Stunde hier herumsaß. Zweitens, weil ein Treffen zwischen ihm und Zayn ein Fiasko wäre. Ein Drittens war an dieser Stelle überflüssig, weil Erstens und Zweitens meines Erachtens nach schon schwer genug wogen.
„Da kommt meine Mitfahrgelegenheit." Eilig erhob ich mich, noch immer ein Taschentuch an meine Nase gepresst. „Und dein Bus auch."
„Gott sei Dank. Hier." Harry stand ebenfalls auf, drückte mir den Rest seiner Taschentuchpackung in die Hand. „Du kannst den Kram heute besser brauchen als ich. Und nein, du musst mir morgen nicht zum Austausch eine frische Packung mitbringen."
Trotz allem musste ich lachen. Es klang näselnd und einfach nur schlimm, und außerdem tropfte gleich nochmal Blut nach. Igitt. „Wie kommst du nur darauf, dass ich das machen könnte?"
„Weil ich dich mittlerweile kenne." Besorgt beobachtete er, wie ich mit zittrigen Fingern ein frisches Taschentuch zückte und das alte in den Mülleimer an der Bushaltestelle segeln ließ. Dann spähte er kritisch zu der Autoschlange hinter dem Bus. „Sicher, dass er das schon ist? Es ist ziemlich dunkel und du könntest dich täuschen."
„Ganz sicher, Harry. Wirklich." Ich schob ihn vorwärts, als sein Bus in die Haltebucht einfuhr und zischend die Türen öffnete. „Los, steig schon ein. Oder willst du eine halbe Stunde auf den nächsten warten?"
„Ich glaube, es wären nur zwanzig Minuten."
„Das macht es nicht besser." Freundschaftlich stieß ich ihn an. „Du hast lange genug mit mir herumgesessen und ich bin dir unendlich dankbar. Aber jetzt solltest du einsteigen und heimfahren. Das rote Auto da hinten ist Z-... er. Ähm. Kein Grund zur Sorge."
Am liebsten hätte ich mich hingeworfen, gestrampelt und geschrien, als Harry stur so lange bei mir stehenblieb, bis Zayns Corsa unmissverständlich hinter dem Bus in die Haltebucht steuerte, dann erst entschloss er sich dazu, meiner Aufforderung Folge zu leisten.
„Halt die Ohren steif, Nialler." Er drückte mich kurz an sich, dann hechtete er auf die – vermutlich nicht mehr lange – offenen Türen seines Busses zu. „Bis morgen! Versuch bitte, über Nacht nicht zu sterben!"
Kopfschüttelnd winkte ich ihm noch zu, ehe ich mich in Richtung Zayns Auto in Bewegung setzte, das blutige Taschentuch in meiner Faust zusammengeknüllt. Glücklicherweise war er klug genug, nicht auszusteigen, sondern wartete geduldig ab, bis ich seinen Wagen erreicht hatte.
„Hey." Ich schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln, als ich mich in den Beifahrersitz fallen ließ, und wandte mich sofort ab, um nach dem Gurt zu tasten. Zayn würde das blau-rote Kunstwerk in meinem Gesicht noch früh genug sehen, da musste ich ihm nicht gleich in der ersten Sekunde eine Darstellung liefern. „Danke, dass du gekommen bist. Wirklich."
„Kein Problem. Es klang dringend." Und er klang misstrauisch ohne Ende. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie er sich vorbeugte. „Sag mal, was ist das in deinem Gesicht?"
Ich unterdrückte ein Seufzen. So viel zum Thema keine Darstellung in der ersten Sekunde.
„Ähm." Zögerlich wandte ich mich wieder in seine Richtung, ließ den Gurt einrasten. „Es könnte sein, dass ..."
„Scheiße, hast du dich geprügelt?" Ehe ich reagieren konnte, griff Zayn alarmiert nach meinem Kinn und hob es an, drehte meine linke Gesichtshälfte ins Licht der Straßenlampe neben uns. „Niall, was zum Henker ist passiert? Wer war das?"
Peinlich berührt entzog ich ihm mein Kinn. Wie immer machte mich seine ungeteilte Aufmerksamkeit völlig kirre, von seiner Nähe und seiner Berührung ganz zu schweigen. Daran konnte auch ein Brummschädel nichts ändern.
„Kann ich mit zu dir?" Der beinahe flehentliche Unterton in meiner Stimme trieb mir das Blut in die Wangen, aber jetzt waren die Worte schon gesagt. „Bitte? Ich möchte jetzt nicht allein sein."
Zayn atmete tief durch. „Ja. Niall, natürlich kannst du mit zu mir. Allerdings erwarte ich eine Erklärung. Bist du betrunken?"
„Nein." Ernüchtert zückte ich wieder das Taschentuch, als meine Nase wie auf Kommando erneut zu bluten begann. „Fuck."
Ohne Vorwarnung schnappte Zayn sich meine Hände, begutachtete prüfend meine Fingerknöchel. Ich war viel zu überrumpelt, um zu protestieren.
„Du hast nicht zugeschlagen", schlussfolgerte er nach einigen Momenten. „Aber jemand hat dir eine geballert. Wer? Warum?"
Ich starrte ihn an. Wieso klang das jetzt so, als stünde er kurz davor, auszusteigen und die Bar zu stürmen?
„Nur so ein homophobes Arschloch", nuschelte ich unter dem Taschentuch hervor. Langsam begann mein Kopf wieder zu schmerzen. „Können wir los?"
„Was? Niall, du s-..."
„Zayn! Irgendein blöder Wichser hat mir eben eine reingehauen und mich wüst wegen meiner Sexualität beschimpft, weil ich es gewagt habe, eine Freundin zu verteidigen. Offen gesagt tut mir gerade alles weh und verarbeiten muss ich das Ganze auch noch. Können wir später genauer darüber reden?"
Einige Sekunden lang herrschte Stille.
„Scheiße. Tut mir leid." Ich schloss die Augen, atmete tief durch. Es war unfair und falsch, ausgerechnet Zayn gegenüber aus der Haut zu fahren. „Tut mir leid, Z. Wirklich. Ich bin dir so verdammt dankbar, dass du extra hergekommen bist, und will dich eigentlich nicht blöd anmachen, aber jetzt gerade reicht es mir so dermaßen, dass ich mich nicht mehr normal unterhalten kann."
„In Ordnung." Zayn nickte knapp, erweckte jedoch keinen eingeschnappten oder gar wütenden Eindruck. Er nahm meine Entschuldigung genauso an, wie er zuvor meinen kleinen Ausraster geschluckt hatte. Ich blieb bei meiner Meinung: Zayn war nicht real. „Ist dir schwindelig? Übel?"
„Nein, nein." Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande, obwohl mir eher zum Heulen zumute war. Ich hatte Zayn nicht verdient. Was mich umso mehr daran erinnerte, dass ich Zayn sowieso nicht wirklich hatte, weil unser Deal ein solches Haben nicht beinhaltete. „So schlimm ist es nicht."
Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich, und kurz befürchtete ich, dass er nochmal nachhakte, doch letzten Endes seufzte er resigniert.
„Gut." Er startete den Motor. „Wenn du noch Taschentücher brauchst, sollten im Handschuhfach welche sein."
Ich nickte mit einem kleinlauten „Okay" und rutschte tiefer in den Sitz, während Zayn das Auto aus der Haltebucht lenkte. Das Radio dudelte nur ganz leise im Hintergrund, wurde fast von den Motorgeräuschen übertönt. Und von meinen Gedanken. Je länger Stille zwischen uns herrschte und niemand mehr mit irgendwelchen Fragen auf mich eindrang, desto mehr Zeit blieb mir, zu rekapitulieren, was da vorhin passiert war.
Unzählige Male hatte ich davon gehört oder gelesen, wie homophobe Anfeindungen in einer blutigen Schlägerei endeten, hin und wieder auch von Leuten aus dem Freundeskreis. Einem CSD-Bekannten von mir war das mal passiert, nachdem er in der Öffentlichkeit seinen Freund geküsst hatte. Er war mit einer Stichwunde im Krankenhaus gelandet. Unbegreiflich, welch abscheulicher Hass in manchen Köpfen aufblühte, nur weil ein Mensch einen anderen Menschen liebte.
Dass ich nun selbst Adressat von derartigem Hass geworden war, verstörte mich mehr, als ich im ersten Moment angenommen hatte. Fast so, als wäre mir zuvor nicht bewusst gewesen, dass ich mir eine Zielscheibe an den Rücken heftete, wenn ich mich offen als queer zeigte. Natürlich waren in der Diskussion mit diesem Wichser auch andere Themen involviert gewesen, aber neben der Sache mit Maren schien meine Queerness, die ich nicht abgestritten hatte, die primäre Motivation für den Schlag gewesen zu sein. Natürlich hätte ich ihn nicht unnötig damit provozieren müssen, klar, aber sollte ich derartige Anfeindungen einfach auf mir sitzen lassen und klein beigeben? Auf mir herumtrampeln lassen und ihm somit zeigen, dass er sich alles erlauben konnte? Das kam nicht in die Tüte.
Angesichts dessen stand es mir wohl nicht zu, jetzt so herumzuheulen, aber gegen meine Gefühle kam ich leider nicht an.
„Das Arschloch hat Maren belästigt." Ich sprach die Worte aus, ohne Zayn anzusehen. Der war ohnehin gerade damit beschäftigt, den Corsa in der engen Tiefgarage des Miethauses zu parken, und das kam mir gerade recht. Dann musste ich wenigstens nicht dem intensiven Blick seiner tiefbraunen Augen standhalten. „Irgendwann hab ich mich eingeschaltet und ihm meine Meinung gegeigt. Und als er Harry und mich danach draußen an der Haltestelle gesehen hat, musste er die Gelegenheit wohl für eine kleine Racheaktion nutzen." Ich schnaubte, als ich an das wenig aufschlussreiche Gespräch zurückdachte. „Eine blondierte Schwuchtel im Wolfspelz hat er mich genannt. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, was ich darauf geantwortet habe, aber dann hat er mir auf jeden Fall eine geballert. Bin auf dem Boden wieder zu mir gekommen, da waren er und seine Kumpels natürlich schon weg."
Zayn hatte den Motor unterdessen abgestellt und schweigend gelauscht, doch jetzt sog er einen tiefen Atemzug ein. „Wie geht es dir jetzt damit?"
An sich hätte ich die Worte wie eine typische, klischeehafte Psychologenfrage auffassen können, aber sein Tonfall verriet mir, dass er sich nicht um eine pseudoprofessionelle Reaktion bemühte. Er war hier nicht in der Arbeit, ich war kein Betreuter, der seine berufliche Unterstützung brauchte.
„Irgendwie schlecht", gab ich wahrheitsgemäß zurück. Verlegen zupfte ich an meinem Taschentuch herum, zog die Lagen auseinander. „Ich meine, ich wurde schon öfter beschimpft, weißt du? Ich halte mich mit meiner Sexualität nicht hinterm Berg, da ist es klar, dass man sich den einen oder anderen blöden Kommentar abholt, wenn man im Club einen Typen küsst. Aber körperlich angegriffen wurde ich noch nie. Irgendwie ist das nochmal eine andere Liga von Homophobie."
„Das ist eine andere Liga", gab Zayn scharf zurück. Die Hände hielt er noch immer um das Lenkrad geschlossen, obwohl der Wagen längst sicher in seiner Parklücke stand. „Verbaler Hass ist die eine Sache, aber körperliche Gewalt überschreitet endgültig jede Grenze. Du solltest Anzeige erstatten."
Müde schüttelte ich den Kopf. „Bringt doch nichts. Ein Bekannter von mir lag nach einer Messerstecherei mal im Krankenhaus, und obwohl er die Täter haargenau beschreiben konnte, wurden sie nie gefunden. Das ist verschwendete Energie. Außerdem hab ich den Kerl bewusst provoziert. Ich hätte wahrscheinlich die Klappe halten sollen, aber das konnte und wollte ich nicht."
„Stopp." Plötzlich klang Zayn noch viel ernster als zuvor. „Niall, stopp. Fang bitte gar nicht erst damit an, auch nur einen Funken der Schuld bei dir zu suchen. Der Kerl hat erst Maren sexuell belästigt und hat dann auch noch beschlossen, dich wegen deiner Sexualität zu diskriminieren und körperlich zu verletzen. In diesem Sachverhalt gibt es exakt einen Schuldigen, und das ist der Schläger. Klar?"
„Ja, klar." Ich nickte langsam, nicht vollständig überzeugt. „Deeskalierend haben meine Kommentare aber auch nicht gewirkt."
„Was hast du ihm denn gesagt?"
Hilflos zog ich die Schultern hoch. „Ich weiß es wirklich nicht mehr genau. Vielleicht war etwas mit einem schwulen Wolf mit pseudodominantem Schafsego dabei?"
Mehrere Sekunden lang starrte Zayn mich nur an, dann begann er urplötzlich zu lachen. „Irgendetwas mit ... was? Davon war er garantiert nicht begeistert."
Sein Lachen brachte mich trotz allem zum Grinsen. „Nope. Direkt danach hat er mir eine geknallt."
„Meine Güte." Kopfschüttelnd löste Zayn die Finger vom Lenkrad, betätigte stattdessen den Türgriff. „Komm. Willst du nachher einen Tee? Oder heiße Schokolade? Oder was essen?"
Ich kletterte aus dem Auto, bevor Zayn es umrunden und mir die Tür aufhalten konnte, griff mir ächzend an die Stirn. „Ganz ehrlich? Ich glaube, ich will mich einfach nur hinlegen und vergessen, dass ich existiere."
Zayn hob die Augenbrauen, während er mich zum Aufzug geleitete. „Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf. Ich persönlich bin jedenfalls sehr glücklich über deine Existenz."
Mit diesen Worten eilte er voran, um den Knopf zu betätigen, und ich dackelte bedröppelt und mit aufgeklappter Kinnlade hinter ihm her, während mein zermatschtes Gehirn versuchte, sich einen Reim aus dieser Aussage zu machen.
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Zayn ist also glücklich über seine Existenz😌😌😌😌
Krasse Sache.
Dann also bis nächste Woche - sofern unser Flieger nach Irland (oder der zurück) nicht abstürzt😂💀
Dankeschön & liebe Grüße!
Andi❤
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