2) Uni
„Niall!" Heftiges Winken am Rande meines Blickfelds erregte meine Aufmerksamkeit. „Hierher!"
Erleichtert setzte ich mich in Bewegung. Es gab nichts Schlimmeres, als am allerersten Vorlesungstag zu spät zu kommen, wenn noch alle Studierenden eifrig zur Uni rannten und man um einen Platz kämpfen musste. Mit fortlaufendem Semester nahm die Anzahl der freien Plätze natürlich wieder zu, aber das hieß nicht, dass ich ausgerechnet am ersten Tag stehen oder auf der Treppe gammeln wollte. Ich konnte ja auch nichts dafür, dass mein Zug aus Kensburgh mit genug Verspätung unterwegs gewesen war, dass ich in Dublin meinen Bus zur Uni verpasst hatte. Pendeln war einfach beschissen, aber trotzdem konnte ich nicht dazu durchringen, umzuziehen.
Erstens aus finanziellen Gründen. Ausbildungsförderung hatte ich zwar beantragt, jedoch ohne Erfolg. Laut Amt hatten meine Eltern genug Geld, um mich durchzufüttern. Klar, auf dem Papier würde das eventuell funktionieren. Praktisch allerdings nicht, wenn man sich die Wohnungspreise so ansah. Einzig ein Zimmer im Studentenwohnheim wäre drin gewesen, aber die nahmen bevorzugt Studierende, die wirklich auf eine Wohnung direkt im Studienort angewiesen waren und nicht jeden Tag pendeln konnten. Zu denen gehörte ich leider nicht. Von Kensburgh aus nach Dublin waren es mit dem Zug knapp eineinviertel Stunden. Eine Fahrtzeit von drei Stunden jeden Tag war zwar anstrengend, aber machbar, zumal es mich mit dem Semesterticket der Universität auch nichts zusätzlich kostete.
Zweitens hing ich zugegebenermaßen sehr an meiner Heimatstadt, den hiesigen Vereinen und meinem Schulfreund Louis, der noch in Kensburgh wohnte und mittlerweile auch dort arbeitete. Im Gegensatz zu mir hatte er nach der Schule eine Ausbildung gestartet und diese inzwischen auch abgeschlossen.
Ich selbst war absolut planlos gewesen. Das BWL-Studium, das ich begonnen hatte, damit ich auch irgendetwas tat, war schon nach zwei Semestern wieder dem Untergang geweiht gewesen. Danach hatte ich eine Weile in verschiedensten Clubs und Cafés gejobbt, ehe ich mich für Psychologie eingeschrieben hatte. Das war jetzt eineinhalb Jahre her und ich mittlerweile im dritten Semester. Bisher lief es gut. Zumindest verspürte ich noch nicht das Bedürfnis, das Handtuch zu werfen.
Und drittens – um auf die Gründe meines Nicht-Umzugs zurückzukommen – hatten mir meine Eltern angeboten, in die Kellerwohnung ihres Eigentumshäuschens zu ziehen. Ein Angebot, das ich in meiner damaligen Situation absolut nicht abschlagen hatte können. Miete wollten meine Eltern natürlich keine von mir, also begnügte ich mich damit, ihnen immer wieder Lebensmittel mitzubringen oder den Koch fürs gemeinsame Sonntagsmittagessen zu spielen.
Alles wunderbar. Mal abgesehen von der nervtötenden, kräftezehrenden Pendelei, aber die musste ich einfach in Kauf nehmen.
„Hey, Harry." Eilig quetschte ich mich neben ihm auf den klappbaren Stuhl in der hintersten Reihe des Stufensaals. „Danke fürs Freihalten. Ich sag's dir, irgendwann muss ich dem Bahnunternehmen einen Beschwerdebrief schreiben."
Harry verfolgte mitleidig, wie ich mir den Kaffee aus der Uni-Cafeteria in den Rachen stürzte. Seine chaotischen, braunen Locken umgaben seinen Kopf wie ein Heiligenschein, ließen ihn mit seinen gleichmäßigen, geschwungenen Gesichtszügen, den beidseitigen Grübchen und den strahlend grünen Augen wie Erzengel Gabriel höchstpersönlich wirken. Ich persönlich würde nie verstehen, wie ein Mensch mit solchen Genen auf die Welt kommen konnte. Unfair.
„Kein Problem, Nialler." Auch seine Stimme klang beschwingt und melodisch, und passte somit wunderbar zu seinem Äußeren. „Ich weiß mittlerweile, dass die Züge nicht immer so fahren, wie du es bräuchtest. Und es macht mir nichts aus, dir einen Platz zu reservieren. Ich wohne ja direkt an der Uni und habe buchstäblich nur drei Minuten Fußweg, also ist das kein Stress für mich."
„Trotzdem danke." Bedauernd starrte ich in meinen schon wieder leeren Kaffeebecher. „Ich hätte gleich zwei mitnehmen sollen."
„Bloß nicht." Harry bedachte mich mit einem kritischen Blick. „Ich stehe nicht wieder dreimal hintereinander auf, weil du zum Pissen rausmusst."
Ich grinste. „Tut mir leid."
„Tut es nicht."
„Stimmt." Langsam stieg meine Laune wieder. Ein positiver Effekt von Harry mit seiner Gutmütigkeit und seinem trockenen Humor. Wir hatten einander im vergangenen Semester kennengelernt und waren seitdem auf bestem Wege, enge Freunde zu werden. Harry hatte sich damals dermaßen anhänglich auf mich gestürzt, dass ich erst befürchtet hatte, er wollte etwas von mir, aber das hatte sich schnell erübrigt. Harry war aromantisch und somit nicht im Geringsten an einer Beziehung interessiert. Das vereinfachte die Dinge enorm. Es gab, meiner Meinung nach, nichts Schlimmeres als unerwiderte Gefühle zwischen Freunden. „Na? Bereit für Psychologische Grundlagen Teil III?"
„Nein. Ich verstehe immer noch nicht, warum zwei Teile nicht reichen. An anderen Unis haben sie auch nur zwei." Harry kramte eine Mappe aus seinem Rucksack und förderte ein paar Blätter daraus zutage. Natürlich hatte er sich den Seminar- und Verlaufsplan ausgedruckt und mithilfe von Textmarker und Klebezetteln durchgearbeitet. „Und ich könnte mich immer noch schwarzärgern wegen dieses Wahlpflichtmoduls. Du hattest echt Glück, dass du in Musikpsychologie reingekommen bist. Ich habe nicht mal meine Zweitwahl mit tiergestützter Therapie bekommen. Die theoretischen Forschungsfelder sind zwar bestimmt auch interessant, aber Musik oder Tiere wären so viel besser gewesen."
„Mann, das tut mir echt leid." Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich kann dir gerne meine Unterlagen schicken, wenn du möchtest? Klar, das ersetzt die Praxis-Gruppenstunden zwar nicht, aber es wäre wohl besser als nichts."
Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Gerne. Mal sehen. Vielleicht darf ich ja mal hospitieren, wenn der Dozent nichts dagegen hat. Weißt du schon, wer den Kurs macht? Beim Kurswahlverfahren vor ein paar Wochen haben sie nur geschrieben, dass es ein Lehrbeauftragter von Extern übernehmen wird. Anscheinend hatten sie da noch keinen. Schon etwas kurzfristig."
„Keine Ahnung, ich habe nicht mehr nachgesehen." Ich zückte mein Handy, loggte mich ins Universitätsnetz ein. „Ich check das schnell. Jetzt müssen sie jemanden haben, sonst würde der Kurs nachher ja ausfallen."
„Ach, das ist gleich dein nächster um Viertel vor zehn?"
„Jup." Ich tippte meinen digitalen Stundenplan an. „Da. Ein Mr. Malik. Noch nie gehört."
Interessiert beugte Harry sich vor. „Same. Aber ich hoffe, er ist gut. In den Praxiseinheiten kann man ein abgehobenes Arschloch am allerwenigsten brauchen."
Ich brummte zustimmend, dann legte ich resolut das Handy weg. „So. Genug davon. Jetzt erzähl doch mal von deinen Semesterferien."
„Gibt nicht viel zu erzählen." Mit saurem Gesicht packte Harry seine Papiere wieder zusammen, wobei er sich mehrmals dieselbe dunkle Locke hinters Ohr streichen musste, die sich am laufenden Bande verselbstständigte. Er selbst verfluchte seine Haare, aber ich blieb bei der Einschätzung unfair. „Ich war drei Wochen in der Heimat, den Rest der Zeit hab ich gearbeitet. Dieses blöde Wohnheim ist zwar billig, aber trotzdem nicht umsonst. Und Essen und Klamotten und den ganzen Bullshit braucht man ja auch noch." Dann sah er auf und musterte mich eingehend – und natürlich blieb sein Blick an meinem Hals hängen. „Was du getrieben hast, muss ich gar nicht fragen. Oder wen."
Peinlich berührt zog ich den dünnen Schal enger, den ich absichtlich nicht abgelegt hatte, in der Hoffnung, Harry würde sich täuschen lassen. Vergebens, wie sich nun herausstellte. Ich hätte Zayn letzten Freitag sagen sollen, dass er sich an sichtbaren Orten mit Knutschflecken zusammenreißen sollte.
„Komm schon, Haz." Ich schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. „Musst du mich immer wieder darauf hinweisen?"
Harry verzog keine Miene. „Musst du dir ständig neue Bettpartner zulegen?"
„Ständig?" Ich schnitt eine angeekelte Grimasse. „Hör mal, das ganze letzte Semester durch hatte ich immer denselben. Und in den Semesterferien hatte ich so gut wie überhaupt keinen Sex, da war nur vergangenes Wochenende am Freitag so ein Typ, den konnte ich einfach nicht ..."
„Niall." Jetzt klang Harry unverkennbar amüsiert, wenn auch etwas pikiert. „Wie und mit wem du dein Sexleben durchführst, möchte ich gar nicht so genau wissen. Das ist deine Sache, und solange alles einvernehmlich ist und niemandem irgendwelche Gefühle vorgespielt werden, auch in Ordnung. Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist. Irgendwann gerätst du mal an ein Arschloch, vor allem, wenn du sturzbesoffen in irgendwelchen Clubs herumtorkelst. Die Grenze zwischen einvernehmlichem Sex und Vergewaltigung kann schnell verschwimmen. Und beweisen kannst du es so einem Wichser hinterher auch nicht mehr." Er deutete auf meinen Nacken. „Ich hoffe sehr, das war einvernehmlich?"
„Oh mein Gott, Harry." Ich atmete tief durch, während ich umherschielte, ob jemand unsere Unterhaltung verfolgte. Harry machte sich immer über alles so viel Gedanken. Er selbst hatte nur Sex mit Leuten, die er gut kannte und denen er absolut vertraute – und die wussten, dass das Verhältnis auch nie über Sex hinausgehen würde. Meine eigenen Geschlechtsverkehr-Abenteuer waren für ihn demnach unbegreiflich. „Mach dir keine Sorgen, ich kann auf mich aufpassen. Schwanger werden kann ich ja zum Glück nicht." Ich hielt inne, schürzte nachdenklich die Lippen. „Wobei es mich von dem Typen von Freitagnacht gar nicht wundern würde, sollte es doch funktionieren. Der war so krass."
„Niall!" Empört stieß Harry mich an. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Details für dich behalten sollst?"
Glucksend wandte ich mich ab. „Tut mir leid."
„Nein. Tut es dir nicht."
Ich holte zu einer Entgegnung Luft, aber leider rauschte dann auch schon die Dozentin in den Raum und setzte unserem Gespräch ein Ende, indem sie laut ins Mikrofon dröhnte und sich an den schmerzverzerrten Gesichtern der Studierenden weidete.
Entspannt lehnte ich mich zurück, befühlte gedankenverloren den Zettel, den ich in der Jackentasche mit mir herumtrug. Der Zettel mit der Handynummer, den Zayn mir Freitagnacht gegeben hatte. Obwohl ich eigentlich zu dem Schluss gekommen war, mich nicht zu melden, brachte ich es aus irgendeinem Grund nicht über mich, seine Nummer wegzuwerfen. Das war mir noch nie passiert. Normalerweise legte ich großen Wert darauf, ja keine Bindungen entstehen zu lassen oder unnötige Hoffnungen zu wecken, egal, auf welcher Seite.
Ich wollte keine Beziehung. Jedenfalls noch nicht. Aktuell wollte ich einfach meine jungen Jahre in vollen Zügen genießen, sorgfältig meine Freundschaften pflegen und mir keine Verpflichtungen aufhalsen, die eine feste Beziehung mit sich bringen würde. Oder ein gebrochenes Herz, die eine kaputte Beziehung mit sich bringen würde. Ein solches hatte ich mir vor einigen Jahren bereits abgeholt und keinerlei Interesse daran, diese Erfahrung in naher Zukunft zu wiederholen. Ohne irritierende, verletzende Gefühle lebte es sich besser.
Seufzend ließ ich von dem Zettel ab, um stattdessen meinen Stundenplan zu prüfen. Nach dieser Vorlesung hatte ich noch zwei weitere – die erste Theoriestunde in Musikpsychologie und danach noch Klinische Psychologie. Auf Ersteres freute ich mich total. Um ehrlich zu sein, war dieses Wahlmodul einer der Gründe gewesen, warum ich mich schlussendlich für Psychologie an genau dieser Uni entschieden hatte. Schon als Kind war ich begeisterter Musiker gewesen, und hatte früh damit begonnen, Gitarrenunterricht zu nehmen und mir irgendwann später auch selbst Klavier beizubringen.
Ich brannte darauf, Möglichkeiten zu erfahren, wie ich diese Leidenschaft in meinem späteren Beruf nutzen konnte, wie man Leuten damit helfen konnte. Meine Erwartungen an Musikpsychologie waren demnach sehr hoch, insbesondere, was die Praxiseinheiten betraf, von denen im Modulplan die Rede gewesen war. Harry hatte vollkommen Recht: Letztendlich hing es einzig und allein vom Lehrenden ab, ob der Kurs gut war oder nicht. Gut möglich, dass all meine Hoffnungen und Erwartungen herbe enttäuscht wurden.
Mal sehen. Die einzige Sache, auf die ich mich in diesem Kontext nicht freute, war die, dass ich für Musikpsychologie in die benachbarte Hochschule hinübermusste. Warum, verstand ich nicht so recht, immerhin besaß die Uni ebenfalls Musik- und Bandräume, aber nun gut.
Leider hieß das allerdings, dass ich darauf verzichten musste, mich in der fünfzehnminütigen Pause zwischen den Lehrveranstaltungen für einen zweiten Kaffee an der Cafeteria anzustellen. Die Strecke von der Universität zur Hochschule hinüber war an sich zwar nicht weit, aber wenn man nicht nur den richtigen Raum, sondern davor auch noch das richtige Gebäude auf dem Hochschulcampus finden musste, wurden fünfzehn Minuten schnell knapp.
Also kein zweiter Kaffee für mich.
Ich hoffte nur, der Dozent war diesen Kaffeeentzug wert.
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... ob dieser Dozent wohl einen Kaffeeentzug wert ist?
Fragwürdig. Sehr, sehr fragwürdig.
Hehehe.😏
Allen, die morgen wieder in den üblichen Alltagstrott einsteigen müssen, einen guten Wochenstart!💕
Liebe Grüße
Andi🌈
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