9. Erkenntnisse
Ich nahm mir das Geld und rannte lautlos um das Haus, als Paul anfing zu krabbeln. In dem Moment, wo er den Punkt erreicht an dem er sich aufrichten und umsehen darf, bin ich bereits den halben Weg in Richtung Dach hochgeklettert.
Ich wollte einfach nur meinen Seesack holen und diesem Platz dann für immer den Rücken zu drehen, doch dann dringen Stimmen aus einem nahe gelegenen, offenen Fenster zu mir hoch. "Was genau meintest du damit, als du heute Morgen gesagt hast, seine Aufregung gelte wohl eher der Tatsache, dass er das nächste Schiff nehmen würde?" Meine Mutter klingt nicht erfreut, doch mein Vater ist gefühllos und nüchtern wie immer. "In zwei Tagen läuft die Orca aus und fährt Richtung Seehafen und er wird ein Mitglied der Besatzung sein." Mama wird jetzt wirklich wütend. Ich habe sie noch nie so mit Vater reden hören - oder überhaupt mit irgendwem. "Wie kannst du das zulassen? Fryr hat einen magischen Sturm angekündigt." Ihr Mann schnaubt nur. "Er ist jetzt erwachsen und kann seine eigenen Entscheidungen treffen." Seine gefühllose Stimme macht meine Mutter nur noch wütender und ihre Stimme wird immer lauter. "Aber er weiß nicht das geringste darüber, wie man den Fluss reitet und eine Reise durch einen magischen Sturm wird sein Todesurteil sein!" Erneut erklingt ein Schnauben, welches beweist wie egal das meinem Vater ist. "Fryr ruft andauernd magische Stürme aus und wann ist das letzte Mal wirklich etwas schlimmes passiert?"
In der Stimme meiner Mutter liegt eine Mischung aus Unglaube und Drohung. "Du weißt ganz genau, dass seine Vorhersagen immer zutreffen und das es reines Glück war, dass der Sturm die letzten zwei Male den Fluss nicht erreicht hat. Außerdem sollte dir klar sein, dass die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe mit jedem glücklichen Ausgang beim nächsten Mal steigt." Jetzt wird mein Vater ebenfalls ärgerlich. Er ist es wohl nicht gewohnt, dass sie so mit ihm spricht und erhebt seine eigene Stimme gegen sie. "Sei nicht so dramatisch. Sein größtes Problem wird es sein, mit seiner Schwäche den Respekt der Anderen zu gewinnen. Aber so klein und schmal wie er ist, werden sie ihn vermutlich eher für einen von Nonnas Kinder halten." Seine letzten Worte kommen deutlich angewidert heraus und wirken auch etwas enttäuscht, vermutlich weil er will dass es mir an Bord schlecht ergeht und Mutter hakt sofort ein. "Und warum klingt es für mich so, als ob genau dass ihn vor Schaden bewahren könnte?" Mein Vater reagiert wie immer angewidert, wenn es um die Kanalratten und Schlammtaucher geht. "Weil die viel jünger sind, wenn sie anheuern, und die Bootsmänner sind netter, hilfsbereiter und weniger gemein zu ihnen." Es ist nicht zu überhören, dass er mir eine solche Vorzugsbehandlung nicht gönnen würde.
Mama ist trotzdem nicht bereit, mich einfach so ziehen zu lassen. "Wir müssen morgen mit ihm reden und ihn bitten, ein späteres Schiff zu nehmen." , erklärt sie bestimmt und auch das hat er noch nie von ihr erlebt, aber sie weiß ja nicht einmal, dass sie ihm gerade widerspricht weil sie sich gegen seine persönliche Entscheidung auflehnt. Er hat jedenfalls die Nase gestrichen voll davon und brüllt sie jetzt regelrecht an. "Verdammt noch mal, gib endlich Ruhe Laoise. Er wird nicht nach Hause kommen. Er ist jetzt erwachsen und hat die erste Chance die er bekam genutzt um uns zu verlassen. Er will einfach nur weg von uns und dein Gejammer wird ihn auch nicht aufhalten." Ich halte den Atem an und mein Herz klopft laut vor Wut und Angst, sie könne ihm glauben, bis die Pause, die entstanden ist weil meine Mutter seine Worte wohl erstmal verarbeiten musste, von ihrer Stimme durchbrochen wird. "Wie kannst du es wagen." Noch nie habe ich sie so eiskalt reden hören. "Laoise, wohin gehst du?" Sie muss auf dem Weg sein den Raum zu verlassen, denn ihr Mann ruft ihr laut hinterher, doch ich höre ihre Antwort noch, die sie vermutlich gibt, bevor sie endgültig ins Haus innere verschwindet. "Jetzt? In sein Zimmer. Ich werde dort übernachten. Morgen früh? Zurück zum Dorf meiner Familie. Und ich werde erst wieder kommen, wenn mein Sohn ebenfalls zurück kommt." Mein Vater glaubt ihr kein Wort, ich kann es aus seiner schnaubenden Stimme hören. "Laoise, das ist albern, hör auf dich so kindisch zu benehmen."
Diese Unterhaltung mit anzuhören hat meine Emotionen hochkochen lassen. Ich bin derweil mit zittrigen Armen weiter geklettert und ziehe mich nun auf das Dach. Ich lehne meinen Rücken gegen den kalten Schornstein, nehme meinen Seesack in die Arme und drücke ihn verzweifelt an mich. Tränen rinnen mir über die Wangen während ich leise vor mich hin flüstere.
Tränen der Liebe für meine Mutter. "Glaube ihm kein Wort. Hätte er mich nicht gezwungen, hätte ich dir das niemals angetan."
Tränen der Wut auf meinen Vater. "Du zwangst mich zu gehen, hast verhindert, dass ich mich von ihr verabschieden kann und nun schiebst du mir auch noch die Schuld dafür in die Schuhe, du dreckiger Lügner."
Tränen der Einsamkeit für Arto. "Ich vermisse dich so sehr. Ich wünschte, ich hätte dir wenigstens auf wiedersehen sagen können."
Und dann, während ich den Premierminister in seinem Raum laut über die Undankbarkeit Anderer fluchen höre, fühle ich auf einmal die Liebe meiner Mutter, als ob sie mich in den Arm nimmt und zu mir spricht. <Ich werde ihm diese Lügen niemals glauben. Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben.> "Ich liebe dich auch."
Dann spüre ich plötzlich Arto an meiner Seite, als ob er neben mir sitzt, wie wir immer zusammen gesessen haben. <Wir sind uns so nahe, selbst wenn wir getrennt sind. Du wirst mich nie verlieren. Wir wussten immer, dass unsere gemeinsame Zeit begrenzt ist, aber was wir hatten kann uns niemand mehr nehmen.> "Ich werde dich mit mir nehmen, zumindest einen Teil von Dir tief in meinem Herzen. Und ich schwöre wir werden uns irgendwann wieder sehen."
Der Hausherr steht jetzt direkt am Fenster und spricht zum Mond, ohne zu wissen, dass sein Sohn auf dem Dach sitzt und ebenfalls zuhört. "Ich kann nicht dulden, dass dieser Junge alles zerstört, was ich aufgebaut habe. Sobald die Orca ausgelaufen ist, lasse ich nach Linus fahnden. Wenn er danach noch immer in der Stadt ist, werde ich dafür sorgen, dass man ihn verhaftet und einsperrt. Auf keinen Fall wird er mir noch einmal in die Quere kommen."
Und in diesem Moment überkommt mich eine riesige Welle des inneren Friedens und meine letzten Tränen fließen über die erleichternde Erkenntnis, dass ich endlich frei bin. "Du hast mich für immer verloren und ich bin mir sicher, dass du auch Mama verlieren wirst. Und wenn du dich deinem wirklichen Feind stellen musst, wirst du möglicherweise erkennen, dass du ganz allein bist. Besonders weil dein Stellvertreter, den du deinen Freund und Ratgeber nennst, sich als dein ärgster Feind herausstellen wird." Davon bin ich fest überzeugt, seit ich mit Paul gesprochen habe. Sein Vater, der stellvertretende Premier und zweiter Mann im Rat, hat seine Finger in jedem Spiel gehabt und er spielt auf jeden Fall auf eigene Rechnung.
"Und wenn Mama und ich weg sind, wem wirst du dann die Schuld für alles, was schief läuft, in die Schuhe schieben?" In diesem Moment bin ich nicht länger Linus der Sohn des obersten Stadtrats, sondern Levi, ein Sohn von Nonna. Geduldig harre ich auf dem Dach aus, bis ich das leise Schnarchen dieses Mistkerls höre, dann verlasse ich das Dach, das Haus und diesen Platz. Morgen muss ich unbedingt mehr darüber heraus finden, wie man ein Bootsmann wird und wie man mit einem magischen Sturm umgeht. Und am Tag danach werde ich an Bord der Orca gehen und allem den Rücken zukehren, für immer, es wird nicht viel geben, was ich hier vermissen werde, dessen bin ich mir sicher.
Ich hab keine Ahnung, ob die Worte und jeweilige Nähe der Personen, die ich gespürt habe, mich über unsere besonderen Verbindungen erreicht haben oder ob sie allein meinen Gedanken entsprungen sind, basierend darauf, wie ich sie kenne. Aber mir gefällt die Idee, dass ich auf diese Weise mit ihnen kommunizieren kann und werde daran glauben, bis mir jemand das Gegenteil beweist. Mit dem guten Gefühl von Arto an meiner Seite, seine Hüfte und Schulter an meine gelehnt, schlafe ich in meinem Mauseloch ein, dass ich für diese Nacht als sicheren Schlafplatz erwählt habe.
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