36. Fähigkeiten
Nachdem ich Mutters Fähigkeit aktiviert hatte, konnte ich Kiaras Versuch, mich zu beeinflussen, erkennen und negieren. Jetzt liege ich in Nonnas Haus auf meinem Bett und durchforste ihre Erinnerungen nach Hilfe, wie ich ihre Fähigkeit nutzen kann. Außerdem starte ich ein paar Versuche um herauszufinden, ob meine Kräfte neue Effekte entwickelt haben. Dabei stelle ich fest, dass die beste Möglichkeit ihre Fähigkeit zu benutzen die ist, die ich schon seit langem unterbewusst praktiziere. Mein Wissen und meine Entscheidungen mit einer kurzen und zeitnahen Vision abzusichern. Das Einzige, was ich nicht wage ist ein Blick in Matts Zukunft. Ihn zu sehen wie er mich hasst, oder vergisst oder gar mit jemand anderem zusammen ist? Das könnte ich im Moment nicht ertragen. Am frühen Abend beschließe ich endlich, den Mönch aufzusuchen um mit ihm über meine Fähigkeiten zu reden.
Als ich an seinem bevorzugten Meditationsplatz ankomme höre ich Stimmen, noch bevor ich jemanden sehen kann. Und wie es nun Mal meine Art ist, schleiche ich mich näher heran und belausche die stattfindende Unterhaltung.
"Ich freue mich, dass du mit deiner Frage zu mir gekommen bist. Das Studium der Splitter-Fähigkeiten ist meine Leidenschaft." Matt sitzt neben dem Mönch und erklärt ihm wie unsicher er sich fühlt. "Ich beginne alles, was ich höre, anzuzweifeln." Er klingt so müde und traurig und mein Herz zieht sich vor Mitgefühl schmerzhaft zusammen. Ich kann es kaum ertragen ihn so leiden zu sehen. "Ich verstehe dass dich der Betrug deiner Mutter verletzt. Kannst du mir sagen, was sie dir über deinen Vater erzählt hat?" - "Ich war ein kleines Kind von ich glaube fünf Jahren und wir sind kurz vorher nach Mitjana gezogen. Ich war so stolz weil sie mich einen großen Jungen nannte der jetzt alt genug sei um von ihm zu erfahren. Sie hat mir von meinem Vater erzählt und mir dann das Versprechen abgenommen, sie nie wieder auf ihn anzusprechen, weil es sie zu sehr schmerzen würde."
"Und wann bekamst du den Splitter?" Matt zögert als ihm klar wird, wohin ihn diese Frage führt. "Viel später, da war ich schon sechs und sollte eingeschult werden. Und ich hab sie wirklich nie mehr nach meinem Vater gefragt. Wann immer das Gespräch auf ihn kam blockte sie sofort ab und erklärte, dass sie nicht über ihn sprechen möchte." Der Mönch nickt und ich tue es ihm in meinem Versteck gleich. Ich erkenne einen einfachen Trick, wenn ich ihn sehe, denn dass sie nicht über ihn sprechen will, war und ist bis heute die reine Wahrheit. "Deine Mutter weiß alles über deine Fähigkeit und wie man damit umgeht. Du kannst sehen wenn dich jemand bewusst anlügt oder absichtlich etwas weglässt, um dich zu täuschen oder dir Schaden zuzufügen. Aber ohne direkte Frage kannst du nur die Wahrheit hinter ihren Worten sehen, nicht aber ihre Hintergedanken und Motive." Matt seufzt auf die Erklärung des Mönches hin verstehend auf. "Und natürlich hat sie mir das nicht erklärt." Er schüttelt den Kopf und kommt direkt zu seiner nächsten Frage.
"Aber wie konnte Levi seine wahre Identität vor mir geheim halten und mir eine falsche zeigen? Ist das möglich, weil er mehr Macht hat als ich?" Ich muss eine Menge Selbstkontrolle aufbringen, um nicht laut aufzuschreien dass ich nichts dergleichen getan habe. Meine Finger graben sich tief in den Sand zwischen den Klippen und suchen dort nach Halt. Ich bin mir sicher, dies hier ist weder der richtige Platz noch die richtige Zeit für eine Konfrontation, deshalb bleibe ich ruhig und in meinem Versteck. "Davon habe ich bisher nichts gehört. Soweit mir bekannt ist können stärkere Splitterträger erkennen, wenn schwächere ihre Magie auf sie wirken, aber es sollte ihnen nicht möglich sein, etwas dagegen zu tun, vor allem nicht bei deiner Fähigkeit, weil sie ja im Grunde auf dich wirkt und nicht auf den Lügner. Allerdings habe ich von einer Fähigkeit gehört, die deiner entgegenwirkt. Mit dieser kann man die Gedanken und Entscheidungen anderer beeinflussen. Dieser Splitterträger könnte dich so beeinflussen, dass du ihm glaubst allein weil du ihm glauben möchtet, besonders, wenn die Wahrheit dir mehr schaden würde als die Lüge."
"Das ist also seine Fähigkeit. Es tut so weh, weil alles in mir nach ihm schreit. Ich will ihn unbedingt nah bei mir haben oder in seiner Nähe sein." Matt bricht in Tränen aus und der Mönch versucht ihn zu trösten. Mir rennen in meinem Versteck ebenfalls die Tränen über die Wangen. Matt kennt also die Fähigkeit von Kiara nicht. Weiß er wenigstens, dass sie auch eine Splitterträgerin ist? Oder hat sie es geschafft, ihm dieses Wissen ebenfalls auszureden?
"Matt, wenn du ihn so sehr liebst, dann solltest du neben deiner besonderen Fähigkeit vielleicht die normalen Fähigkeiten in Ver- und Misstrauen, die jeder besitzt, trainieren, und dann noch einmal mit ihm reden. Es könnte auch ganz andere Hintergründe für das geben, was passiert ist. Und selbst wenn es wahr ist, wollte er dich vielleicht nicht verletzten oder dir schaden und dich stattdessen beschützen."
Ich beschließe zurück zu Nonna zu gehen. Während ich die Unterhaltung belauscht habe, konnte ich auch genug über das in Erfahrung bringen, was ich wissen wollte. Im Haus finde ich nur Peter vor und danke ihm für seinen guten Ratschlag. Und weil er ein guter Zuhörer ist und ich mit jemandem reden muss, erzähle ich ihm, was passiert ist. "Ich dachte wirklich, die königliche Familie sei anders, aber am Ende geht es auch ihnen nur um Stärke und Macht." Peter sieht mich nachdenklich an. "Eryk hält Ragnar für einen guten König und Nonna glaubt an Kiara, aber wenn du mich fragst, gebe ich dir recht - Macht korrumpiert und lässt dich noch mehr Macht haben wollen. Wie ist das bei dir? Nach Nonna bist du im Moment der stärkste Splitterträger von allen. Hast du das Gefühl, mehr zu wollen?"
Ich runzle die Stirn und versinke in meinen Gedanken. Ich erkenne die Qualität dieser Frage und denke sie hat es verdient, ehrlich beantwortet zu werden. "Da ist etwas in mir, dass mich verzweifelt mehr Splitter sammeln lassen will. Es wird stärker, je mehr ich bekomme, doch es fühlt sich eher wie eine fremde Macht an. Ich hatte noch nie das Bedürfnis, jemanden anzuführen oder mich selbst zu bereichern. Ich habe Eryks Splitter nur angenommen, weil ich es ihm versprochen habe, nicht weil ich seine Fähigkeit haben wollte die ich nicht einmal kannte."
"Und was empfindest du gegenüber Kiara und Matthias? Würdest du einem von ihnen deinen Splitter geben?" Peter verschränkt seine Arme vor der Brust und sieht mich weiter neugierig an. Erneut reflektiere ich diese Frage ausgiebig bevor ich antworte. "Kiara vermutlich nicht. Es sei denn sie würde sich gegen ihren Vater und auch gegen die Liebe entscheiden und für ein Leben als heilige Prinzessin. Aber dafür müsste sie sich selbst ändern und mich davon überzeugen. " Seine Augenbrauen wandern nach oben. "Weil du ansonsten die bessere Wahl bist?" Ich grinse ihn schief an. "Nein, aber weil ich diese Macht sonst indirekt Ragnar in die Hände legen würde, und das will ich nicht. Außerdem wäre ihr Matt dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit meiner Macht könnte sie ihn einfach überzeugen, seinen Splitter aufzugeben, sobald er erwachsen ist und das selbst entscheiden darf." Peter sieht mich ernst an. "Wenn du ihren Splitter übernimmst gilt für dich das selbe." Ich muss schlucken und huste dann hektisch, bevor ich mich wieder beruhige. "Da sagst du ein wahres Wort", gestehe ich am Ende leise und grübelnd. "Sollte ich wieder mit Matt zusammen kommen, könnte das zu einem Problem werden. Ich glaube nicht, dass er mir dann jemals genug vertrauen könnte."
Peters Fragen helfen mir wirklich, Klarheit in meine Welt der chaotischen Gedanken und widerstreitenden Gefühle zu bekommen. "Und was ist mit ihm?", Peter spinnt die Überlegungen weiter und ich nicke einvernehmlich. "Das wäre vermutlich die bessere Lösung. Matt würde nicht länger unter der Liebe, die er für mich empfindet, leiden denn ich wäre nicht länger ein Ziel für den Splitter, der seine Gefühle für mich blockieren würde. Und mit meiner Kraft könnte er Kiaras Einfluss erkennen und sich davor schützen." Peter runzelt die Stirn und fragt nach einem Punkt, den ich dabei scheinbar vergessen habe. "Und was ist mit der Göttin?" Ich grinse breit, denn ich finde, dass auch die mit dieser Idee zufrieden sein dürfte. "Sollte sie es schaffen Kiara den Splitter abzunehmen und in Matt wiedergeboren zu werden, dann ist sie direkt mit dem Anführer aller Aigua befreundet und dass könnte sogar für sie eine gute Lösung sein." Und in Gedanken füge ich hinzu, dass mit etwas Glück Matt immer noch da und von all der Magie befreit sein könnte und dann vielleicht auch selbstbewusst genug wäre, um zu mir zurück zu kehren und mich zur Rede zu stellen.
Peter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Bei der heiligen Prinzessin der Aigua, du liebst diesen Jungen wirklich, stimmts? Er ist dir wichtiger als dein eigenes Glück. Bei diesem Szenario wirst du es am Ende sein, der leidet, weil du ihn aufgeben musst." Ich sehe ihn nur unbeteiligt an. "Ich bin es gewohnt, unerwünscht zu sein." Und ein weiteres Stückchen meines Herzens verhärtet sich.
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