10. Fryr
Im Morgengrauen des nächsten Tages esse ich etwas von den gestohlenen Lebensmitteln und mache mich für einen Besuch bei Fryr auf dessen Ausguck bereit. Ich steige hinauf zur Plattform beim Fluss und erreiche sie ohne auch nur im Geringsten außer Atem zu sein. Dann bleibe ich still aber nicht unbemerkt neben dem alten Mann stehen und warte geduldig ab, während dieser den Horizont und den Himmel nach Beweisen für seine nächste Vorhersage absucht. Er hat ein sonnengebräuntes, wettergegerbtes Gesicht, dass von schwarzgrauen Locken umrandet ist und eine Haut wie altes Leder. Seine Wangen sind von der Luft, die über den Fluss zu uns weht, gerötet und er wirkt ernster als sonst, denn normalerweise liegt immer ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen wenn er hier steht und aufs Wasser hinaus blickt. Fryr hat mich niemals wie jemand behandelt der wertlos ist. Er hat mich immer ernst genommen und wurde mein Förderer lange bevor ich Nonna traf.
"Bist du also endlich erwachsen, L? Wie fühlt es sich an, endlich unabhängig zu sein?" Ich stehe neben ihm, halte - wie er selbst - die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den Blick auf den Horizont gerichtet. Ohne zu Zögern antworte ich ihm. "Noch nicht perfekt, aber schon viel besser." Dann blinzle ich zu ihm rüber. "Ich muss die Stadt morgen mit der Orca verlassen. Meine Zukunft liegt noch im Dunkeln und meine Vergangenheit hat sich hinter mir fest verschlossen. Heute versuche ich herauszufinden, wie ich meine bevorstehende Reise überleben kann." Der alte Mann nimmt seinen Blick nicht vom Horizont, aber seine Stimme ist rauer als üblich. "Also bist du gekommen, dich von deinem alten Patron zu verabschieden und dir einen letzten Rat abzuholen?"
Ich kann den Ärger nicht ganz aus meiner Stimme heraus halten, als ich ihm meine Lage erkläre während meine Blicke seinen folgen und auf ihrer Wanderung über den Horizont begleiten. "Der Premier erlaubt mir nicht, mich von denen zu verabschieden, die ich liebe. Doch zum Glück kennt er meine beiden wichtigsten Lehrer nicht. Wirst du mir ein letztes Mal mit deinem Wissen beistehen?" Der Mann nickt langsam aber nicht zögerlich. "In den letzten Jahren warst du der Einzige von allen Kindern in der Stadt, der schlau genug war, um mich nach meinem Wissen zu befragen und clever genug, mir zuzuhören und von mir zu lernen. Und ich weise niemanden ab, der meine Hilfe sucht." Ich nicke verständnisvoll. Nachdem, was ich letzte Nacht belauscht habe, gibt es selbst viele Erwachsene die seinen Rat verschmähen, und das schmerzt sicher. "Ich habe Mama sagen hören, dass du einen magischen Sturm aufkommen gesehen hast. Was muss ich wissen, damit ich ihn überleben kann?"
Fryr versinkt für eine Weile in Gedanken und ich warte geduldig an seiner Seite. Als er schließlich anfängt zu sprechen, bin ich trotzdem alarmiert. "Ich werde sämtliches Wissen über magische Stürme mit dir teilen, doch bevor ich das tue möchte ich dir einen Hinweis und ein Geschenk geben. Wirst du beides akzeptieren?" Ich sehe den alten Mann neugierig an aber kann nicht anders, als nach dem Preis zu fragen. "Ich glaube nicht an Geschenke." Meine zögerliche Antwort bringt ihn dazu, laut aufzulachen. "Jetzt verstehe ich, warum Nonna dich ihren besten Schüler nennt." Meine Augenbraue hebt sich erstaunt an und das Kompliment bringt mich zum Lächeln. Es tut erstaunlich gut, Anerkennung zu erfahren. Obwohl ich mich in so einer scheinbar aussichtslosen Situation befinde fühle ich mich besser denn je nach meinem Sieg gegen Paul letzte Nacht, dem Zuspruch meiner Mutter auf dem Fest und jetzt dem Lob von Fryr.
"Die meisten vergessen die wichtigste Regel als Schlammtaucher, sobald sie mit einem Freund sprechen, doch natürlich hast du recht. Niemand vergibt Geschenke ohne bestimmte Erwartungen. Es gibt immer irgendetwas, dass man im Gegenzug vom Beschenkten erwartet." Ich nicke und bin erleichtert, dass er es versteht. Ich wusste nicht, das Nonna und er sich kennen aber ich bin froh, dass er sich nicht beleidigt fühlt und freue mich über seine Anerkennung. "Deine Hinweise sind mir stets willkommen.", erkläre ich daher zögerlich meine Zusage zu einem Teil seines Angebots und er akzeptiert meine Einschränkung augenblicklich. "In Ordnung, fangen wir mit dem Hinweis an. Der Kapitän der Orca heißt Eryk, vertraue ihm und lüge ihn niemals an. Bitte ihn, dich zu lehren und zu trainieren und erzähle ihm von den Fähigkeiten, die du nutzen kannst." Er legt mir seine Hand auf die Schulter, bevor er fortfährt. "Und erinnere dich auch an die alte Sprache der Flussleute, die ich dir in den letzten Jahren beigebracht habe. Sie wird dir die Möglichkeit geben, unbelauscht mit dem Kapitän zu reden und ihn außerdem zu beeindrucken." Ich lächle dankbar und lasse ihn auch mit warmen Worten wissen, dass ich seine Hilfe zu Schätzen weiß.
Nachdem er mir so freiwillig und kostenlos etwas gegeben hat bin ich auch bereit, mir anzuhören, was es mit dem Geschenk auf sich hat, welches er mir geben will. "Was sind die Vor- und Nachteile für mich, wenn ich es annehme, und was erwartest du im Gegenzug dafür von mir?" Fryr sieht mir tief in die Augen und plötzlich, wenn auch nur kurz, sehe ich ein starkes Funkeln darin. Ich bemühe mich, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, aber sein Grinsen zeigt mir, dass ich dabei nicht besonders erfolgreich bin. "Wie konntest du das so lange vor mir verbergen?"
"Ich bin es so leid mit diesen dummen Leuten hier in der Stadt zu leben und wie Nonna und deine Mutter glaube ich an dich." Beginnt er zu erklären ohne wirklich auf meine letzte Frage einzugehen. "Ich habe mein ganzes Leben lang Seelensplitter gesammelt und wie schon deine Mutter es an dem Tag getan hat, als du in die Schule kamst, will auch ich dir meinen Splitter geben. Das wird dir Zugang zu all meinem Wissen und meinen Erfahrungen geben und dir darüber hinaus die Fähigkeit verleihen, um die du mich zu Beginn gebeten hast." Sein Geschenk ist also der Schlüssel zu seinem Wissen über den Sturm, soviel verstehe ich, aber sonst sieht er mich ziemlich ratlos vor sich stehen.
"Im Gegenzug bekomme ich eine starke Verbindung mit Dir und darüber hinaus möglicherweise auch etwas von deinem Wissen." Damit hat er meine vorherige Frage umfangreich beantwortet und doch verstehe ich nur die Hälfte. Es scheint, als ob sich meine Mama, er und Nonna nicht nur kennen sondern einander auch irgendwie nahe stehen, was mich doch sehr überrascht. Etwas verbindet sie alle und dieses Etwas verbindet wohl auch mich mit ihnen. In meinem Kopf beginnt es geschäftig zu summen und es dauert seine Zeit, bis ich das Alles verarbeitet und sortiert bekomme. Fryr beobachtet mich erwartungsvoll aber auch geduldig dabei und sieht regelrecht zu wie sich die Rädchen in meinem Verstand drehen. "Was bitte sind Seelensplitter? Von welcher Seele reden wir hier?" Ich weiß nicht welche Antwort ich erwartet habe, aber sicher nicht die, die er gibt. "Die Seele der heiligen Prinzessin der Aigua." Ich starre ihn an als ob er den Verstand verloren hat. "Seit wann bist du ein Gläubiger?" - "Ich glaube nicht, L, ich weiß.", erwidert er direkt und ohne zu überlegen. Dann lässt er seine Aussage erneut erst einmal bei mir sacken, bevor er mir seine Hand noch einmal auf die Schulter legt und mir mehr erklärt.
"Du musst mir nicht glauben und schon gar nicht der falschen Religion dieser Stadt zu unserer Göttin folgen. Aber wenn du mehr über die Wahrheit hinter ihr wissen willst, dann solltest du mit einem Mönch oder einer Schwester des Schicksals über die dreigeteilte Göttin reden." Ich schüttele nur überfordert den Kopf. "Von dieser Religion habe ich noch nie gehört." Er nickt nur und rät mir, dass ich meinen Geist offen für neue Möglichkeiten halten soll, wenn ich jemals Gelegenheit zu einem Austausch mit einem Weisen bekommen sollte. "Ich bin kein Prediger und auch nicht hier, um dich zu einem Glauben zu konvertieren. Wenn du mir nicht glauben möchtest, können wir auch einfach von Augenmagie und ihrer Macht sprechen." Ich seufze erleichtert auf, denn Im Moment bin ich wirklich nicht bereit über Religionen zu diskutieren, also nicke ich, und verschiebe die Entscheidung darüber, was ich von all dem halten soll, auf später.
"Du hast gesagt, meine Mutter hätte mich bereits auf gleiche Weise beschenkt, aber ich verstehe das nicht. Ich habe ihre Augen hell glühen gesehen, aber da waren keine Sprenkel. Sie hat mich niemals gebeten ein Geschenk anzunehmen und sie hat mir auch nie etwas darüber erzählt." Fryr runzelt die Stirn und seufzt dann. "Nicht gut. Sie hat zu lange damit gewartet und nun den Zeitpunkt verpasst. Das bedeutet, dass es vermutlich an mir und Nonna ist, dir zumindest die wichtigsten Informationen darüber zukommen zu lassen." Ich beginne zu verstehen, doch die Zeit läuft mir davon und das sage ich ihm auch. "Wenn wir reden müssen, dann jetzt oder nie. Und obwohl ich langsam begreife, dass ich dein Geschenk wohl brauchen werde um zu überleben, kann ich es doch nicht einfach akzeptieren, ohne mehr darüber zu wissen."
Er dreht sich um und deutet den Weg zurück. "Dann lass uns zu ihr gehen, du führst."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro