Mockridge Cliff
Garrett hatte nach dem Lunch und nachdem sie sich in der milden Sommersonne wieder aufgewärmt hatten, Lust bekommen, an den Strand hinunterzugehen. Auch wenn ihm doch nicht der Sinn danach stand, in die kalten Fluten zu springen, wollte er es sich nicht nehmen lassen, wenigstens mit den Füßen ins Wasser zu gehen.
Henry, der als Vampir eine natürliche Scheu vor Gewässern aller Art hatte und die nur zu überwinden vermochte, wenn es ihm zu heiß war und er sich unbedingt abkühlen musste, blieb auf einem Findling sitzen. Er beobachtete seinen Freund dabei, wie der vor Schreck quiekend einen Satz nach hinten machte, als eine Alge seine nackten Zehen berührte, und schmunzelte.
»Manchmal vergesse ich, dass du inzwischen erwachsen geworden bist«, rief er Garrett zu, der das schleimige Ungetüm mit spitzen Fingern von sich warf.
»Ach ja?«
»Ja.«
»Das liegt an dir.«
»Wie meinst du das denn?« Henry ließ seine Füße von dem Stein baumeln und kratzte sich am Kinn.
»Durch dich weiß ich, dass ich mich nicht wie ein Erwachsener zu benehmen brauche, wenn es nicht sein muss. Bei dir kann ich ich sein, mit all meinen Macken und kindischen Eigenheiten.«
Der Vampir lächelte. Oh ja, kindisch konnte Garrett sein. Er lachte über die dümmsten Sachen, sprach mit Nikodemus in Babysprache und war allgemein ein alberner Mensch. Doch das war nicht immer so gewesen.
Schließlich hatte Henry ihn als nachdenklichen und in sich gekehrten Teenager kennengelernt, der niemanden hatte, bei dem er so sein konnte, wie er es tief drin eben war. Er war ein stiller Junge von außergewöhnlicher Traurigkeit gewesen, die sich in seinen düsteren Fotografien gezeigt hatte, die ihm inzwischen eine Menge Geld einbrachten.
Umso mehr genoss der Unsterbliche es heute, Garrett lachen zu sehen, während er wie ein Kind in den sanften Wellen der irischen See herumhopste. Der junge Mann hatte erst erwachsen werden müssen, um seine Jugend wirklich zu erleben.
»Wie verbringen wir den Rest des Tages? Es ist noch früh«, Garrett kam mit sandigen Füßen zu dem Stein, auf dem Henry hockte und mit Adleraugen den Himmel abzusuchen schien.
»Schaust du, ob es Regen gibt?«
Der Vampir gluckste. »Hier regnet es nicht.«
»Na irgendwann sicher.«
»Aber nicht in absehbarer Zeit.«
Der junge Mann putzte sich sorgfältig die Zehen ab, bevor er wieder in Socken und Schuhe schlüpfte. Er hatte wenig Lust auf aufgescheuerte Füße.
»Also?«
Henry sah ihn an. »In den Ort zurück? Hm, ich sagte ja bereits, dass man nicht so viel hier machen kann. Aber du wolltest ja nicht hören.« Er schmunzelte.
Garrett grinste. »Na gut, dann holen wir das Auto und du zeigst mir das Kloster. Ich glaube, das wäre eine tolle Fotokulisse für meinen Blog.«
Der Vampir nickte leicht.
»Außer du möchtest nicht. Ich weiß ja nicht, was das für Erinnerungen hervorruft.«
»Überwiegend schlechte, Schatz. Aber das ist egal. Ich hab es dir versprochen und ich denke, inzwischen ist genug Zeit vergangen. Ich komme damit klar. Es sind nur uralte Mauern. Lass' uns aufbrechen.«
Die Fahrt in den winzigen Nachbarort dauerte eine Stunde und die Sonne, die nun ihren Zenit überschritten hatte, begann, richtig zu heizen. Garrett hatte nach frischer Luft lechzend das Fenster des Geländewagens geöffnet und knipste während der Fahrt die Küste, deren begrünte Hänge voller bunter Blumen waren.
»Da ist es«, murmelte der Vampir und lenkte die Aufmerksamkeit des jungen Mannes vom blauen Meer auf eine gewaltige Klippe, die steil zum Wasser hin abfiel und an deren Felsen sich die Brandung brach.
»Oh!«, machte Garrett.
Sie durchquerten das Dorf Mockridge, das deutlich kleiner, aber ebenso malerisch wie Dunmoor war. Man konnte das Ortsende bereits am Beginn sehen. Auch hier waren die Felder, die den Flecken umgaben, leuchtend grün und mit kleinen und blökenden weißen Punkten gespickt.
»Schafe, soweit das Auge reicht«, kicherte Garrett.
»Das war schon früher so.«
»Die Fahrt kam mir gar nicht so lang vor«, der junge Mann hängte sich die Kamera um, als sie vor der Umzäunung hielten, die verhindern sollte, dass Leichtsinnige mit dem Auto zu weit auf die Klippen hinausfuhren.
»Damals dauerte es einen halben Tag, um von Dunmoor nach Mockridge zu kommen. Es war die längste Reise meines bisherigen Lebens und ich hatte jede einzelne Minute davon Angst.«
»Gab es das Dorf hier damals schon?«
Henry schüttelte leicht den Kopf. »Es gehörte zum Kloster. Die Mönche lebten in dem Gemäuer, aber zum Arbeiten gingen viele hinunter. Oben konnte man nur bescheidene Felder für Kräuter anlegen. Bruder Williams Garten und ein kleiner Obsthain waren dort. Damals war der Weiler hier von einer Mauer umgeben. Es war eine große Anlage.«
»Und du ... hast alles niedergebrannt?«
»Nein ... nur das Kloster selbst.« Der Unsterbliche grinste.
»Mit allen Bewohnern«, ergänzte Garrett mit Grabesstimme und der Vampir lachte.
»Ja, das war bestimmt nicht meine glanzvollste Leistung.«
»Also bereust du es?« Gemeinsam gingen sie nebenher den gesicherten Weg entlang, der Besucher in die Ruine lenken sollte. Es verwunderte Garrett, dass es keine gebührenpflichtigen Führungen gab. Immerhin konnte ein Dorf mit einer gut erhaltenen Burg Geld durch Tourismus verdienen. Vermutlich war das Kloster nicht bedeutend genug gewesen, um viele Neugierige anzuziehen.
»Nein. Bis heute nicht. Vielleicht habe ich überreagiert, durch den Schock der Verwandlung. Aber für die sechzehn Jahre Hölle, die ich hier verbracht habe, haben sie verdient, was geschehen ist. Scheinheilige Ratten, die ganze Bande.«
»Außer Bruder William?«
Henry nickte und lächelte leicht. »Ja. Außer ihm. Ihm hätte ich nie etwas angetan.«
»Nun, zum Glück gibt es Ausnahmen in jeder Regel, nicht?« Garrett lehnte sich an eine Mauer und sah die Klippe hinab. Er machte ein unbestimmtes Geräusch und schwang zurück. »Das ist ziemlich hoch.«
»Siehst du den Außenposten dort? Dort war mal ein Turm. Nachdem Lachlan gestorben war, bin ich dort hinaufgeklettert. Ich stand ganz oben und habe hinunter gesehen. Unter mir waren viele Meter freier Fall und am Boden tosendes Gewässer und Felsen.« Der Vampir zeigte mit dem Finger auf die Stelle.
»Wolltest du springen?« Garrett sprach leise.
Henry nickte und wanderte weiter durch das, was man als Hof erkennen konnte. Sie hatten den Bogen, der den Eingang der Burg darstellte, hinter sich gelassen und konnten nun das Meer nicht mehr sehen.
»Ja, das wollte ich. Ich wollte davon laufen vor dem Schmerz. Doch ich tat es nicht. Denn ich habe gelernt, dass es eine Sünde ist und wenn ich das täte, würde ich Lachlan im Himmel nicht wiedersehen können.«
»Hmm«, der junge Mann beschloss, den Vampir ein paar Minuten in Ruhe zu lassen und begann, Fotos zu machen.
Henry hingegen durchschritt die Mauern, die er seit siebenhundert Jahren geglaubt hatte, hinter sich gelassen zu haben. Und doch flammten jetzt, wo er wieder hier war, Erinnerungen an die wenigen glücklichen Tage auf, als sein kleiner Bruder noch bei ihm war und sie ihre Stunden bei Bruder William im Kräutergarten verbracht hatten, der ihnen trotz der hohen Mauern und salzigen Seeluft wie ein Stück des Paradieses vorgekommen war.
Die Füße des Vampirs trugen ihn wie von selbst dorthin, durch einen nackten und verfallenen Säulengang, auf dessen verwitterten Steinfliesen sich Pfützen gebildet hatten.
Der einstige Garten, den der Herbalist bis zu seinem Tod liebevoll gepflegt hatte, war noch immer da. Auch wenn es heute nurmehr eine wilde Wiese war, auf der sich Küstengras angesiedelt hatte, das seit Ewigkeiten nicht mehr geschnitten worden war, hatte der Unsterbliche alles so vor Augen, wie er es als Junge gesehen hatte.
Manche Dinge konnte auch die Zeit nicht heilen.
Henry lächelte milde. Die alte Eiche, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz auf dem harten Boden der Klippe gehalten hatte, solange er dort lebte, war damals dem Feuer zum Opfer gefallen. Nichts erinnerte mehr daran, dass einmal ein bereits damals Jahrhunderte alter Baum an diesem Ort stand.
»Hier steckst du«, konnte der Vampir Garrett hinter sich hören, dessen Wangen sich in der Sonne gerötet hatten. Vermutlich war er auf ein paar Steinen herumgeklettert, um das beste Foto zu erzielen, und dabei ins Schwitzen gekommen.
»Ja ... das war schon immer mein Lieblingsort hier. Bruder Williams Garten.«
»Das hätte ich gern gesehen. Klostergärten sind immer schön. Jetzt ist es ... es könnte einen Rasenmäher vertragen.«
Henry lachte leise. »Du bist so englisch, du ordnungsliebender Pedant.«
Mit einem Grinsen betrat Garrett die wilde Wiese, deren Bewuchs sich leicht im Seewind hin und her wiegte.
»Ich hätte gern die Kammer gesehen, in der du gewohnt hast ... aber wenn ich mir das so anschaue, kann man sich da drin höchstens den Tod holen, durch herabfallende Steine oder einbrechende Treppen«, der junge Mann blickte an den verfallenen Mauern hoch.
Der Vampir schmunzelte. »Draußen am Torbogen steht ein Schild, dass das Betreten der Ruinen unter Lebensgefahr stellt. Ich glaube, das sagt alles. Hier draußen ist es okay. Und der Raum, da gab es nichts zu sehen. Eine schmale Pritsche, ein Tisch, eine Wasserschüssel, ein Nachttopf. Da kannst du nach Bildern von mittelalterlichen Klosterzellen googeln und eine sieht wie die andere aus. Inzwischen ist das vielleicht anders, aber damals ...«
»Ich hab eine Reportage über ein bayrisches Frauenkonvent gesehen, da sahen die Zimmer aus wie die einer Jugendherberge.«
»In der heutigen Zeit gehen ja auch viele im Alter ins Kloster und haben persönlichen Besitz dabei. Damals hatte ein Mönch nichts bis auf die Kleider, die er trug. Und die waren aus Sackleinen. Und höchstens noch eine Bibel. Das kam aber erst nach dem Buchdruck auf.«
Garrett machte einige Bilder von Henry, der mitten in dem hohen Gras stand und zu den Mauern hinaufblickte.
»Ich vergesse echt oft, wie lange du schon lebst«, kicherte er und der Vampir wandte ihm den Kopf zu.
»Bitte?«
»Na dass du noch vor der Erfindung des Buchdruckes geboren wurdest und so. Ich denke da gar nicht dran. Denn du bist ... halt ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«
Henry lächelte. »Das ist doch gut. Ich will nicht, dass du permanent den Vampir in mir siehst. Ich bin auch ein Mensch.«
»Das habe ich nie getan.« Garrett umarmte den Unsterblichen von hinten und drückte seine Wange an dessen Rücken. »Für mich warst du schon Henry, als du dich selbst noch Dionysos genannt hast.«
»Ich weiß.«
»Und du hast dich immer darüber geärgert«, kicherte der junge Mann. »Umso schöner, dass du es jetzt nicht mehr tust.«
»Nein. Heute ist es auch nicht mehr nötig. Zumindest hoffe ich das. Solange ich dich habe, möchte ich nie wieder kämpfen müssen. Ich möchte keine Zeit mit solchen Dingen verschwenden.« Henry drehte sich um und legte seine Stirn an Garretts. »Du willst kein Vampir sein und ich möchte so eine Existenz auch nicht für dich. Also haben wir dieses Leben. Dein Leben. Das ist unsere eine Ewigkeit und ich möchte sie nicht durch so etwas wie Kampf ruinieren lassen.«
»Das wäre mir auch lieber. Einmal hat gereicht. Ich möchte nie wieder Angst haben müssen, dass dich jemand umbringt ...«
»Dito«, kicherte der Vampir und küsste die Nase des Anderen. »Noch mal macht mein Herz das nicht mit, also lass' dich nie wieder entführen!«
»An mir liegt es nicht!«, schnappte Garrett und lachte schließlich. »Oder bin ich ein Magnet für Schwierigkeiten?«
Henry zog eine seiner Brauen hoch. »Fragst du das ernsthaft? Du hast dich damals in so ziemlich jede Gefahr selbst hineinmanövriert.«
»Ich war ein Kind, bevor ich dich traf«, murmelte der junge Mann und grinste schließlich.
»Das stimmt. Heute nicht mehr.«
Die beiden stromerten fotografierend durch die Ruine, bis die Sonne über der Insel im Westen verschwand und der Himmel rot wurde. Hungrig, mit leichtem Sonnenbrand und einer vollen Speicherkarte machten sie sich schließlich auf den Rückweg nach Dunmoor.
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