Ein Makel
»Über Dinge wie Ehre brauchen wir uns nicht zu streiten, Donnchadh. Da hast du dich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Nimm' deine Jacke, Garrett. Lass uns nach Hause fahren.«
Der junge Mann nickte und war froh, von dem Bekannten aus der Vergangenheit wegzukommen. Garrett hatte zur Genüge die Erfahrung gemacht, dass alte Freunde von Henry, die ihn noch als Dionysos kennengelernt hatten, nie ein gutes Zeichen waren.
Schon gar nicht, wenn sie ihm selbst nach Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten noch immer etwas vorwarfen. Vampire waren wirklich fürchterlich nachtragend.
»Das ist ja Ansichtssache, nicht wahr, Dionysos?«
Henry knurrte und schob Garrett zur Tür des Pubs. »Bis dann, Don. War fast nett, dich wiederzusehen.«
Draußen legte der Vampir ein ordentliches Tempo vor, wobei er seinen Freund an der Hand hinter sich her zog.
»Aua, Henry, ich kann nicht so schnell. Was ist denn eigentlich? Flüchtest du vor dem Vogel?«
Der Unsterbliche verlangsamte seine Schritte etwas und atmete tief durch. »Ich hatte so gehofft, niemanden zu treffen. Ausgerechnet in dem Pub, in den wir gehen, treibt sich dieser Penner herum, ich glaube es nicht.«
»Wer ist er?«
Sie lösten ihren Wagen beim Parkhauswächter aus und Henry lenkte ihn auf die Straße, die aus der Stadt hinausführte.
»Nur ein weiterer Makel auf meiner ohnehin schon verdreckten Weste.«
»Was hat er gemeint, als er sagte, du hättest ihn im Stich gelassen?«
»Er sieht das so. Ich würde eher sagen, ich habe ihn gestoppt. Er hätte verrecken sollen. Aber er ist wie eine Kakerlake. Die kriegt man nicht klein.«
Garrett seufzte. Irgendwie spürte er, dass Henry nicht in der Stimmung war, ihm die Geschichte zu erzählen.
»Na gut. Aber glaub nicht, dass du drum herum kommst. Ich will das genauer wissen.« Er gähnte und ließ sich in dem Sitz nach unten rutschen, während die Lichter der Stadt über den Wagen glitten.
»Tut mir leid. Ich hab den Abend verdorben«, murmelte der Vampir und der junge Mann strich ihm über die Hand.
»Womit? Dass da ein Blutsauger auftaucht, damit hätte doch keiner rechnen können.«
»Ich neige dazu, zu vergessen, dass es noch heute Leute gibt, die mir den Tod wünschen, weil ich ihnen vor Jahren mal ans Bein gepinkelt habe.«
»Sollen wir uns deswegen in Gatwick verstecken und nirgends mehr hinfahren?«
Henry seufzte. »Nein. Ich hoffe nur, dass der uns in Ruhe lässt. Ich habe keine Lust auf eine alte Rivalität. Vielleicht sollten wir uns einen Wohnwagen mieten und durch das Land fahren.«
»Also fliehen?«
»Schatz, ich versuche nur ... Gott, das regt mich auf. Warum lebt der Schweinehund eigentlich noch?«
»Bist du sicher, dass du mir nicht erzählen willst, was los war damals?«
Der Vampir starrte düster geradeaus. »Es ist ein finsteres Kapitel meiner Vergangenheit.«
»Und? Ich habe gesehen, wie du Allister das Herz herausgerissen hast. Meinst du echt, mich schockieren deine Taten? Also ... na irgendwie schon. Aber ich weiß ja, was du heute für ein Mensch bist.«
Henry seufzte schließlich und räusperte sich. »Don und ich sind damals zusammen auf die Jagd gegangen. Wir haben die ganze Stadt in Angst versetzt, von Serientätern und Satanskult war die Rede. Ich habe viele Menschen getötet und bin nicht gerade stolz darauf, aber sie waren mir damals einfach egal. Ich bin nur einem primitiven Trieb gefolgt. Doch irgendwann fing Don dann an, eine ... ungesunde Fixierung auf Kinder zu entwickeln. Es fing mit Jugendlichen an und dann wurden sie immer jünger, bis er schließlich ein vierjähriges Mädchen ermordete, einfach nur zum Spaß. Du weißt, ich kann das ... mit Kindern nicht, ich kann das nicht ertragen.«
Garrett nickte. Henry, der menschenhassende Dionysos, hatte schon immer einen weichen Punkt gehabt, wenn es um die Kleinen ging und verachtete sich selbst zutiefst für jedes Kind, das durch seine Hand umgekommen war. Das waren in seiner Anfangszeit als Vampir nicht wenige gewesen, umso empfindlicher war er im Lauf der Jahrhunderte geworden.
»Was hast du dann getan?«
»Uns war ein Vampirjäger auf den Fersen und irgendwann fasste er Don, der im Bluttaumel alle Vorsicht hatte fahren lassen. Auch ich wurde geschnappt und wir beide wurden eingekerkert.«
»Du konntest dich befreien?«
Henry nickte. »Ich beherrschte damals bereits die Psychokinese und konnte die Zellen dadurch öffnen. Don wollte, dass ich ihn befreite und mitnahm, doch ich entschied mich dagegen. Ich konnte und wollte nicht zulassen, dass er weiter Kinder von den Türschwellen ihrer Elternhäuser stahl und sie bestialisch ermordete. Er tat es aus Vergnügen, ohne die Absicht, sich zu nähren. Und das kommt für mich nicht infrage. Nicht bei so etwas!« Der Vampir schnaubte. »Natürlich sah es für ihn so aus, als wäre ich feige davon gelaufen, um meine Haut zu retten. Aber mal ehrlich: Der Jäger war ein Sterblicher. Ich hätte ihn töten können, ohne meine Hände zu benutzen, folglich bestand kein Grund für Feigheit. Ich habe nur nicht eingesehen, für Dons Verbrechen den Kopf hinzuhalten. Er hatte die Vernichtung verdient und trotzdem lebt er noch.«
»Du hast auch Leute getötet ...«
Henry warf Garrett einen Blick zu. »Ja. Ich hatte und habe den Tod genauso verdient. Doch ich hielt mich in dem Moment für das kleinere Übel.«
»Trotz all deiner Verachtung für die Menschen steckte in dir immer ein guter Kern. Ich habe inzwischen genug deiner Geschichten gehört und weiß, dass du ebenso viele Leben gerettet wie genommen hast.«
»Viele meiner Opfer wurden von anderen nicht als Verlust eingestuft - Mörder, Halsabschneider, Vergewaltiger, Zuhälter ... Das macht es nur nicht besser, dass ich sie getötet habe. Und zu viele waren unschuldig.«
Der junge Mann schaute in den dunklen Nachthimmel. »Ein Vampir ist ein Raubtier, nicht? Ich sehe das so, dass du eben deiner Natur gefolgt bist. Der Mensch tötet, um zu essen. Du musst trinken. Und statt es dir leicht zu machen und auf schwache Beute zu gehen, hast du der Allgemeinheit einen Dienst erwiesen. Wie auch immer man das bewerten kann.«
»Vertretbarer Mord?«
Garrett zuckte mit den Schultern. »Du hast doch nicht jeden umgebracht. Was war das mit deiner Marotte, Triebtäter zu kastrieren?«
»Ja, aber ich hab erst im neunzehnten Jahrhundert eine etwas sadistische Freude daran entwickelt. Davor hab ich sie meist direkt umgebracht. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ein Schwein von der Straße und mein Magen gefüllt. Aber ich will meine Taten gar nicht herunterspielen. Ich bin ein Killer. Man hat mich früher zu Recht als Monster und Teufel bezeichnet.«
»Ich liebe dich trotzdem«, murmelte der junge Mann und lächelte milde. »Mir ist egal, was du getan hast. Dadurch, dass du dein Leben für mich aufs Spiel gesetzt hast, hast du mir gezeigt, dass du es wert bist, dass man dich liebt und davon rücke ich nicht ab. Kein Stück.«
»Ich hab dich gar nicht verdient.«
»Du hast mich gewonnen, als Preis für den Kampf, den du ausgestanden hast.«
»Also bist du so etwas wie meine Prinzessin? Vielleicht hatte Allister mit seiner Ritter-und-Drachen-Theorie doch Recht.« Henry lachte leise. Garrett knuffte ihn mit der Faust auf den Oberarm und kicherte.
»Wenn, dann bin ich dein Prinz. Ich bin kein Mädchen.«
»Oh, das ist mir bewusst und das ist gut so«, der Vampir schmunzelte und spürte, wie sich seine Schultern merklich entspannten.
Garrett war eingenickt, als sie Dunmoor erreichten und Henry trug ihn zusammen mit der Einkaufstüte und ihrer Tasche in die Pension, in der bereits alles dunkel war.
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Lawrence Donnchadh blieb mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen in dem Pub sitzen.
Welch ein wunderbarer Zufall ihm doch da ins Haus geflattert war. Lange schon hatte er versucht, herauszufinden, wo sein alter Freund sich verkrochen hatte.
Natürlich könnte man die Sache auch einfach auf sich beruhen lassen, immerhin waren beinahe zweihundert Jahre seit damals vergangen, als Dionysos seinen Kameraden 1834 im Kerker von Dublin hatte sitzen lassen. Er hatte es ja schließlich überlebt.
Don hatte den anderen Vampir für seinen Freund gehalten. Dieser hatte in der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, genauso schlimme Dinge getan wie er und doch die Frechheit besessen, ihm ins Gesicht zu sagen, dass ein Wahnsinniger wie Donnchadh den Tod verdient hatte.
Mit welchem Recht hatte sich jemand wie Dionysos angemaßt, über sein Leben und sein Sterben zu richten? Jemand, der nur wenige Tage, bevor Donnchadh ihn kennengelernt hatte, in Dublin ein Waisenhaus niedergebrannt hatte!
Dieser verlogene Hund, der seiner Heimat den Rücken gekehrt und sich wie ein verfluchter Engländer benommen hatte, ein Verräter, hatte ihm etwas von Anstand predigen wollen? Hatte ihn hinhängen wollen für Dinge, die er ebenso getan hatte?
Nein! Nein, es war nicht an der Zeit, diese alte Sache ruhen zu lassen. Das Gefühl einer vollzogenen Rache war einfach zu süß und dieser arrogante Pinsel hatte eine Abreibung verdient.
Offenbar war Dionysos inzwischen solide geworden und hatte einen festen Partner. Er und der junge Mann, den er Garrett genannt hatte, wirkten sehr vertraut miteinander und die Art und Weise, wie der Vampir Don von dem Burschen hatte fernhalten wollen, sagte alles. Er hatte deutliches Besitzverhalten gezeigt.
Donnchadh teilte die Vorliebe für Männer nicht, ihm waren Frauen definitiv lieber, doch das bedeutete nicht, dass er deswegen nur von ihnen trank. Ihm war, wie den meisten Blutsaugern, jede Kehle recht, solange es nur schmackhaft roch. Dionysos wusste das natürlich und wollte sein Liebchen beschützen, bewachen, für sich behalten.
Vielleicht war da aber tatsächlich auch etwas mehr zwischen ihnen.
Don hatte nie ganz verstanden, wie ein Mann sein Herz an einen anderen verlieren konnte. Doch sollte das so sein, war das ja fast noch besser. Liebe machte blind und Vampire waren davor ebenso wenig sicher wie die Menschen.
Die beiden Turteltauben machten ganz offenbar Urlaub. Dionysos hatte damals, als sie nach einem Blutgelage ausruhen mussten, einmal gesagt, dass er niemals wieder nach Irland zurückkommen würde, um dort zu bleiben. Sein Leben wäre nun in England und er hätte dort eine Zuflucht gefunden, eine neue Heimat. Das war lange, bevor der Junge, den Don auf Ende Zwanzig schätzen würde, geboren worden war. Dessen Art zu reden war definitiv englisch und daraus folgerte der Vampir, dass die beiden nur zu Besuch hier waren.
Gab es etwas noch Schöneres, als während der Sommerfrische auf alte Freunde zu treffen?
Donnchadh grinste verschlagen und leerte seinen Drink. Einen Augenblick lang wanderten seine eisblauen Augen über die jungen Leute, die noch immer tanzten, und die verdrießlich dasitzenden Männer an der Bar.
Eigentlich stand dem Vampir der Sinn nach einem Happen vor dem Schlafengehen, doch die Anwesenden trafen nicht seinen Geschmack. Die Biersäcke am Tresen rochen schlecht und ungewaschen und die Personen auf der Tanzfläche waren überparfümiert.
Enttäuscht seufzte der Ire und strich sich durch die kurzen, dunkelblonden Haare. Ein Pub war womöglich nicht der richtige Ort, um auf die Jagd zu gehen. Vielleicht sollte er die einschlägigen Straßen aufsuchen und sich eine Nutte zum Abendessen nehmen. Das würde auch weniger Aufsehen erregen als ein Toter in der Toilette einer Kneipe.
Don legte einen Fünfer auf den Tresen, um seinen Drink zu bezahlen und schob sich von dem Hocker, als er gegen etwas Weiches und Warmes prallte, das mild wie eine Blumenwiese duftete. Er hob leicht den Kopf und blickte in die braunen Augen einer verlegen aussehenden jungen Frau.
»Oh, Verzeihung, Sir. Ich habe nicht aufgepasst.«
»Kein Grund zur Sorge«, entgegnete Donnchadh, ließ einen Moment unauffällig den Blick über sie wandern und zeigte ihr dann an, voran zu gehen. Offenbar hatte sie ebenso vorgehabt, den Pub zu verlassen. Er trat nur wenige Sekunden nach ihr auf die Straße und ihr feiner Duft hing noch in der Luft.
Ein Knurren, leise und fast schnurrend, schob sich seine Kehle hoch, als er ihr folgte.
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