Die Ruhe davor
Es war bereits tiefste Nacht, als der Vampir die Pension verließ. Nachdem er und Garrett nach dem reichhaltigen Frühstück tatsächlich den ganzen Tag im Bett verbracht hatten, war der junge Mann schließlich irgendwann eingeschlafen und Henry hatte nun einen Bärenhunger entwickelt, der nicht von Menschenessen gestillt werden konnte.
Ohne ein Geräusch zu machen, huschte er aus der Tür und atmete tief durch.
Der Tag war für seinen Geschmack viel zu warm gewesen und die Hitze hatte sich auch von den Jalousien und Gardinen nicht abhalten lassen. Umso mehr genoss Henry nun die frische Brise, die vom Meer kam und Salz mit sich trug.
England mochte vielleicht launisches Wetter haben, aber für einen Vampir, der weder scharf auf Sonne noch Wärme war, genau das Richtige. Irland hingegen verwöhnte seine Bewohner mit einem leuchtend grünen Sommer und hoher Luftfeuchtigkeit.
Sich durch das Zupfen an seinem Kragen Luft zufächelnd, eilte Henry die nächtlichen Straßen entlang, von einer Laterne zur anderen, wie von Lichtinsel zu Lichtinsel. Es war still in Dunmoor. Anders als in Gatwick, wo man selbst in tiefster Nacht noch irgendwo ein Auto hören konnte, gab es hier nur das Rauschen der Wellen am Strand.
Und das Blöken der elenden Schafe, die fast den ganzen Sommer lang auf den Weiden gehalten wurden und nur in einen Stall kamen, wenn ein Unwetter aufzog.
Der Vampir hatte nicht den geringsten Appetit auf dieses Blut. Obwohl es kaum einen Unterschied machte, ob man das von Menschen oder Tieren trank, hasste er das von Kleinvieh.
Über sich selbst schmunzelnd musste er sich eingestehen, dass er zu sehr an sein geliebtes Wild gewöhnt war. ‚Was der Bauer nich' kennt, das frisst er nich', hieß es und auf Henry traf das zu.
Doch es war das Einzige, was er hier bekommen konnte. Er wollte nicht, dass Garrett ihm Blut gab und würde sich hüten, Jagd auf eine andere Person zu machen. Die Gefahr, wieder dem Rausch zu verfallen, dem Reiz des Jagens und der Verlockung von menschlichem Blut war einfach zu groß. Von diesem Trip, diesem suchtgleichen Zustand wegzukommen, hatte ihn Jahrhunderte gekostet.
Es geschah zu leicht, dass man den Punkt verpasste, an dem man aufhören musste und ganz ohne Absicht jemanden tötete. Menschen waren zerbrechlich und das Gefühl der Macht, die der Tod eines solchen in einem Vampir auslöste, war ein falscher Freund, der einen immer weiter in den Abgrund führte. Eine Finsternis, die Henry nicht mehr wollte.
Auf den Weiden angekommen, zog er ein kleines Messer aus der Tasche und näherte sich den Schafen, die dösig herumstanden oder vor sich hin grasten. Viele schliefen und ließen sich nicht im Geringsten von dem Mann stören, der zwischen ihnen hindurch ging. Wo jedes andere Tier aufgrund der Aura des Vampirs gescheut hätte, sahen ihn diese nur an. Schafe waren eben nicht die Klügsten.
Schmunzelnd pickte sich Henry ein junges Tier heraus und streichelte es, bevor er es leicht am Hals anritzte. Er hasste es, direkt zu beißen, denn die Wolle war ölig und oftmals schmutzig, was den Geschmack des Blutes ruinierte.
Er ließ die rote Flüssigkeit in einen Plastikbecher fließen, bevor er die Blutung stoppte und das Lamm verscheuchte. So verfuhr er noch mit einem halben Dutzend anderer, bis der Hunger in ihm verstummt war.
Anschließend hockte er sich auf den hölzernen Zaun, der die Weiden eingrenzte und blickte in den Himmel. Die nächtliche Kühle war ein Segen nach diesem heißen Tag und er wusste, dass es in den kommenden kaum anders sein würde.
Henry war froh, dass das Wetter mitspielte. Er hatte als Kind genug Sommer erlebt, die verregnet und feucht gewesen waren. Das hatte vielen Menschen damals nicht gut getan, zu siechenden Krankheiten geführt und manchmal mehr Leute getötet als der Winter.
Doch diese Zeiten waren ja zum Glück vorbei.
Erfrischt verließ er die Weiden wieder und spazierte über den Feldweg nach Dunmoor zurück. Es gab einen besseren Ort für ihn als eine Wiese voller Vieh, an dem er sein wollte.
_
Eine weitere ruhige Woche verging, in der Henry und Garrett jeden Tag die Küste unsicher gemacht hatten. Die Temperaturen waren unverändert hoch geblieben, sodass es nur am Wasser zu ertragen war.
Garrett hatte inzwischen eine sommerliche Bräune bekommen, nachdem er sich zu Beginn erst einmal die blasse englische Haut verbrannt hatte. Der Unsterbliche, den UV-Strahlen nicht bräunen konnten, versteckte sich am Strand die meiste Zeit unter einem geliehenen Sonnenschirm, um seine Augen und seinen Kreislauf zu schonen und einen bösen Sonnenbrand zu vermeiden. Er amüsierte sich immer noch gern darüber, wie sehr er und seine Artgenossen doch dem allgemeinen Aberglauben über Vampire trotzten, indem sie fähig waren, in die Sonne zu gehen, ohne zu Staub zu verfallen.
»Willst du dich den ganzen Tag dort drunter verstecken, du Prinzessin?«, feixte Garrett, der sich in Badehosen vor Henry aufgebaut und die Hände in die schmalen Hüften gestemmt hatte.
»Natürlich, du Bauer. Ich muss an meinen Teint denken.«
Der junge Mann lachte und setzte sich zu dem Vampir auf die Decke, bevor er sich die Füße abputzte.
»Wird dir das Baden im Meer nicht langsam langweilig?«
»Nein«, grinste Garrett. »Das Salzwasser ist der Hammer. Meine Haut war noch nie so rein und ich hab seit fast 'ner Woche kein Deo mehr gebraucht, weil ich viel weniger schwitze.«
»Natürlich nicht«, murmelte Henry, »wie solltest du auch, wenn du dich mit Meerwasser dehydrierst.«
Garrett, der an einer Flasche nuckelte, blickte mit großen Augen in die Richtung seines Freundes und machte ein vergnügtes Gesicht. »Freu dich doch«, gluckste er. »Dann darfst du mich nachher wieder eincremen.«
Henry kicherte und machte sich wieder auf der Decke lang. »Ist das deine Masche? Deine Haut überanstrengen, um von mir angefasst zu werden? Das kannst du gefahrloser haben, du.«
»Solange die Gefahr eines Sonnenbrandes alles ist, was uns hier widerfahren kann, nehme ich das gern hin. Ich bin froh, dass dein alter Kumpel nicht wieder aufgetaucht ist«, murmelte der junge Mann und schaute in den hellblauen und fast wolkenlosen Himmel.
Henry biss sich auf die Unterlippe und nickte. Er hatte ebenso gedacht, doch er war nicht so zuversichtlich zu glauben, dass Donnchadh aus freien Stücken weggeblieben war. Vermutlich hatte er schlicht ihre Spur verloren, da Henry ihm nie gesagt hatte, wo genau er herkam und Wicklow ein großes County war.
Der Unsterbliche war jedoch noch nicht völlig davon überzeugt, dass das auch so bleiben würde. Henry hoffte vielmehr, für Garrett und ihren Urlaub, dass Don sie nicht fand und sie Irland verlassen würden, bevor etwas geschehen konnte.
Er hatte keine Lust auf einen Kampf gegen einen alten Bekannten, der eine Schmach bis heute nicht hatte vergessen können.
Nur ein Vampir, der keinen Lebensinhalt hatte, hielt an einer alten Rache fest.
»Ich hoffe auch, dass er weg bleibt«, entgegnete Henry und strich mit den Fingerspitzen über Garretts Rücken.
»Und wenn nicht?«
Der Unsterbliche setzte sich wieder auf, legte dem jungen Mann den Arm um die Schultern und zog ihn an sich.
»Dann bringe ich ihn um. Wenn es das ist, was er will, soll er es bekommen. Ich bin es leid, dass meine Altlasten unser Leben überschatten.«
»Hätte mir mal einer vor elf Jahren gesagt, worauf ich mich da einlasse«, murmelte Garrett mit einem Kichern an Henrys Hals.
»Dann hättest du es genau so gemacht, wie du es getan hast. Denn du bist viel zu stur, um es anders zu machen.«
»Wahrscheinlich.«
»Ziemlich sicher ... ich hab dich mehr als einmal gebeten, dich aus allem herauszuhalten, erinnerst du dich?«
Garrett nickte. »Ja. Aber ich war viel zu verknallt in dich ...« Er schmunzelte und eine feine Röte bildete sich auf seinem Gesicht, die nicht von der Wärme kam.
»Tja, was soll ich sagen, Schatz«, grinste der Unsterbliche.
»Nix. Es wurde ja alles gut.«
»Richtig. Und ich tue, was nötig ist, damit es so bleibt.«
»Wehe, du wirst getötet, St. John! Ich hab nicht vergessen, was du damals zu mir gesagt hast. Wenn ich drauf gehe, bringst du mich um. Das Gleiche gilt für dich, ist das klar?!«
Der Vampir lachte, nickte dann aber. »Ja, das klingt nach einem fairen Deal.«
»Soviel zur vielgerühmten, angeblichen Unsterblichkeit«, knurrte Garrett dumpf und lehnte sich wieder an Henry.
»Alles, was blutet, kann auch sterben«, entgegnete dieser. »Das ist ein ebenso tröstender wie beängstigender Gedanke, wenn du mich fragst. Und solange niemand weiß, was mit einem Vampir geschieht, wenn er stirbt, ist es auf jeden Fall eher furchterregend. Ich lege eigentlich keinen großen Wert darauf, bis in alle Ewigkeit als Geist irgendwo herumzuspuken.«
»Du bist doch bereits gestorben. Wie war das?«
»Dunkel. Kein helles Licht, kein Klang von Posaunen. Es war finster und kalt und als ich wieder aufwachte, riss ein Schmerz an meinem Körper, den ich noch nie zuvor erlebt habe. Ich hatte keine Nahtoderfahrung wie du sie hattest, habe keinen Himmel gesehen. Vermutlich deshalb, weil ich nicht wirklich tot war. Nur infiziert und dazu verdammt, das Virus zu ernähren.«
»Vampirismus als ‚Krankheit' ist so faszinierend«, schmunzelte Garrett.
Die Spitzen seiner Fänge lugten hervor, als der Unsterbliche grinste. »Tja, aber so ist es. So einfach und unmagisch. Pure Biologie und Evolution im Zeitraffer.«
»Na ich bin nur froh, dass die Blutsauger nicht mehr das sind, was sie laut deinen alten Büchern einmal waren - tollwütige und bissige Bestien ohne Sinn und Verstand.«
Henry kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn und schürzte die Lippen. »Irgendwie erinnern mich diese Beschreibungen eher an einen Ghoul. In denen steckt ja auch das Virus.«
»Nur ... wenn dein Speichel so giftig ist, warum ist mir bis heute nichts passiert? Oder hab ich es auch in mir und es ist nur inaktiv?«
Der Unsterbliche strich mit den Lippen über Garretts Schulter. »Du bist nicht infiziert. Das hättest du längst gemerkt. Es ist nicht wie HIV, das jahrzehntelang schlummern kann, bevor es ausbricht und man Aids bekommt. Der Vampirvirus übernimmt einen sofort, wenn man es im Blut hat. Allerdings ist man auch nur dann giftig, wenn man das sein möchte. Wie eine Schlange, die beißen kann, ohne ihr Gift abzusondern«, Henry grinste. »Ich habe so oft deine kleinen Verletzungen mit meinem Speichel geheilt. Nicht um dich zu infizieren, sondern um zu helfen. Das ist ein Unterschied. Mein Blut allein verursacht auch keine Verwandlung. Es verstärkt nur deine Heilungskraft.«
Garrett nickte und seufzte erleichtert. »Gut. Es würde mich nämlich etwas sehr stören, wenn ich dich nicht mehr küssen könnte deswegen.«
»Das fällt dir nach vier Jahren ein?«
Gemeinsam lachten sie und der junge Mann legte den Kopf schief. »Irgendwie ... du hast mir damals schon ein paar Sachen dazu erzählt, aber irgendwie war das nie wirklich wichtig für mich. Ich liebte und liebe den Mann. Nicht den Vampir.«
»Ist auch alles egal. Ohne den Willen zur Verwandlung bin ich so giftig wie eine Stubenfliege.«
»Na dann beweis' es«, grinste Garrett und drückte Henry die Lippen auf den Mund.
_
Frustriert betrachtete Lawrence Donnchadh die zwei Vampire, die bedröppelt vor ihm standen. Er hatte ihnen vor Tagen den Auftrag gegeben, Dionysos zu finden. Es war eigentlich kein Problem, die Spur eines Blutsaugers zu verfolgen, doch diese zwei Idioten stellten sich an wie dumme Kinder.
»Verzeihung, aber er geht nicht jagen. Es gibt nichts zu verfolgen«, versuchte der jüngere der beiden Unsterblichen, der Leo hieß, eine Erklärung abzugehen, doch der Angesprochene hob nur die Hand und kräuselte die Lippen.
»Ich weiß nicht, was mich mehr frustriert. Die Tatsache, dass der früher so kaltschnäuzige Dionysos anscheinend zu einem Vegetarier geworden ist oder deine peinlichen Ausreden.«
»Don ...«
»Halt' die Klappe! Wenn es keine Spur aus Leichen gibt, dann sucht man nach jedem anderen Hinweis. Oder bist du wirklich so dumm, nur nach vermissten Menschen zu suchen? Du weißt, dass er über siebenhundert Jahre alt ist. Der löscht Gedächtnisse, du Idiot. Der muss nicht töten. Doch was lässt sich nicht so leicht vertuschen? Richtig, Meldungen über verstümmelte oder verletzte Tiere!« Donnchadh rieb sich das Kinn. »Ich sagte euch ja, dass er mit einem Sterblichen zusammenlebt. So etwas macht einen schwach und hält davon ab, von Menschen zu trinken.«
»Tierblut ist doch genauso gut«, entgegnete der Ältere der zwei Vampire, John, und kassierte dafür einen abfälligen Blick von seinem Boss.
»Natürlich, wenn man Fleischersatz echtem vorzieht. Das ist etwas für Schwächlinge«, knurrte Don. »Genauso wie sich einen Menschen als Haustier zu halten.«
»Was macht dich so sicher, dass du Dionysos, wenn du ihn findest, überhaupt besiegen kannst? Er hat - Verzeihung - schon damals bewiesen, dass er stärker ist als du. Er hat diese Fähigkeit, die sonst kaum einer von uns hat. Und er ist alt ... viel älter, als du es bist.«
Don fixierte John mit seinen eisblauen Augen. All das, was der Tropf ihm da erzählte, wusste er selbst und vielleicht beunruhigte es ihn auch ein wenig, doch Dionysos war längst nicht mehr der Blutsauger, der er einst einmal gewesen war. Er war schwach geworden, bequem, sesshaft, fett und träge - im übertragenen Sinne. Er hatte sein Herz an einen dieser zerbrechlichen und vergänglichen Menschen gehängt und das machte ihn verwundbar.
Es kümmerte Donnchadh nicht, ob es nötig sein würde, dessen kleines Liebchen zu fressen. Ihm war alles recht, um diesen arroganten Schnösel für die Schande damals im Kerker büßen zu lassen, in dem er fast von einem verdammten Jäger vernichtet worden wäre, weil Dionysos ihn im Stich gelassen hatte.
So verfuhr man unter Brüdern nicht, so hatten Vampire nicht mit ihresgleichen umzugehen!
»Willst du wirklich riskieren, dass der Typ dich vernichtet?«, fragte John weiter und spuckte in der nächsten Sekunde Blut, weil Donnchadh ihm eine Klinge ins Herz getrieben hatte.
»Weißt du, Johnny, ich glaube fast, du machst dir Sorgen um mich. Lass' das mal mein Problem sein.« Der Vampir zog das Messer wieder heraus und der Verletzte kippte nach hinten, wo er bewusstlos liegen blieb.
Leo hatte einen angewiderten Ausdruck im Gesicht und war blass um die Nase.
»Also, mein Freund«, schnurrte Don ihn auf eine so einschmeichelnde Art und Weise an, dass der junge Vampir nicht anders konnte, als es als bedrohlich zu empfinden, »wenn du nicht auch ein solches Nickerchen machen möchtest, solltest du mir lieber Ergebnisse liefern. Sonst wird es das nächste Mal nicht nur eine Klinge sein, sondern ich reiße das Herz heraus. Und zwar euch beiden!«
»Ja, Donnchadh.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro