Die vierte Tulpe
„Und jetzt belasten", sagte meine Therapeutin. Ich hörte auf, mich mit meinen Armen zu stützen und brachte mein komplettes Gewicht auf mein Bein. „Und wieder hoch." Ich tat es. So ging es eine Zeit lang. „Willst du noch ins Becken, oder reicht das für heute?", fragte sie mich, als ich mich wieder am Barren hochhielt. „Ich war am Wochenende baden. Und bin auch viel gelaufen. Ich glaube, dass reicht für heute. Wann denken sie kann ich mein Bein wieder normal belasten?" Fragend sah ich sie an. Sie holte schon meinen Rollstuhl. „Das kommt ganz darauf an, wie dein Bein sich macht. Üb weiter, aber mach nicht zu dolle. Eine Überlastung ist auch nicht zum Vorteil. Eine Zeit wird es aber noch dauern." Ich setzte mich wieder hin. „Und wann kann ich eine Prothese benutzen?" Sie beäugte mich über ihre Brille. „Mindestens ein Jahr noch. Dein Bein ist sehr gut verheilt. Darüber mache ich mir keine Gedanken. Aber dein anderes braucht noch. Gib dir Zeit und sei nicht so ungeduldig." Sie lächelte mich an, doch mir war überhaupt nicht zum Lachen. „Okay." Ich nahm meinen Rucksack vom Boden auf und lächelte sie noch einmal an. Dann fuhr ich in den Nebenraum, um mich dort aus meinen schlabberklamotten zu befreien.
(...)
„Ich bin wieder da!", rief ich, als ich das Haus betrat. „Komm mal in die Küche!", rief mein Vater zurück. Ich ahnte schlimmes. Ich bog um die Ecke, in die Küche hinein und sah, wie meine Eltern am Tisch saßen. „Was ist los?", fragte ich verwundert. „Patrick. Ich habe deinen Lehrer getroffen. Uns wurde erzählt, dass du in der Schule gemobbt wirst. Stimmt das?" Papa sah mich forschend an. „Nein, alles gut. Das hat sich schon erledigt. Ich habe Freunde, die mir helfen, wenn was ist. Ich komme klar. Macht euch keine Gedanken." Ich lächelte meine Eltern an, um es noch überzeugender wirken zu lassen. „Du kannst immer mit uns reden, dass weißt du doch", fuhr Mama behutsam fort. „Ja, das weiß ich. Danke, aber ich bin glücklich, so wie es gerade ist." Noch ein weiteres lächeln und noch ein Kopfnicken, um es noch viel glaubwürdiger zu machen. „Komm zu uns, wann immer du es brauchst", sagte Papa. „Ja klar." Ich drehte mich leicht zur Seite. „Was gibt's zu essen?" Ich wollte das Thema schnell beenden, denn ich hasste es. Ich hasste es, wie überfürsorglich meine Eltern waren.
Abends saß ich vor den Mathehausaufgaben. Nur das Licht meiner Nachttischlampe erhellte meinen Arbeitsplatz. Müde blinzelte ich auf die Zahlen, die ich aufgeschrieben hatte. Morgen müssten wir die Hausaufgabe haben und nun war es schon nach Zehn Uhr und ich war immer noch nicht fertig. Ich seufzte und stützte meinen Kopf in meine Hand hinein: Hätte ich doch nur früher damit angefangen, dann hätte ich jetzt nicht dieses Problem.
Als ich da so saß, schlossen sich meine Augen wie von selbst. Es war, als würde ich von der Dunkelheit umhüllt und von ihr sanft in den Schlaf gebracht werden. Doch das Klingeln an der Tür, ließ mich kurz vorm einschlafen aufschrecken. Mein Blick ging sofort zu meinem Handy. Wer klingelte denn bitte so spät an der Tür?
Und dann sprang ich wie vom Blitz getroffen auf, griff zu meinen Krücken und ging, so schnell ich konnte, zur Tür. Ich riss sie auf und schaute mich um. Doch es war niemand zu sehen. Ich wollte doch nicht verpassen, wenn der Unbekannte wieder kam. Und jetzt hatte ich es verpasst.
Als ich dann zur Boden sah, lag dort wieder eine Tulpe mit Zettel. Ich nahm sie auf und musste sofort lächeln. Auf dem Zettel stand mein Name. „Wer hat um die Zeit geklingelt?", fragte meine Mutter mich. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie hinter mir stand. Schnell drehte ich mich um. „Ich weiß nicht. Als ich die Tür geöffnet hatte, war die Person schon weg." „Und die Person hat dir wieder eine Blume gebracht?" Sie verschränkte ihre Arme und sah mit kritischem Blick auf meine Hand, die noch immer den Stängel der Tulpe umklammerte. „Das ist Stalking, Paddy. Das muss aufhören. Am besten bringen wir eine Kamera draußen an. Das ist nicht normal." Mit erhobenen Händen ging sie zurück in ihr Schlafzimmer.
Seufzend schloss ich unsere Haustür und humpelte zurück in mein Zimmer, wo ich mich wieder an den Schreibtisch setzte. Die Tulpe legte ich auf mein Mathebuch. Ich fragte mich noch immer, wer sich die Mühe machte mir diese wunderschöne Blume zu bringen.
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