Die Zeit lässt sich nicht anhalten
Es war ein lauer Sommerabend im Mai, als der Tränkemeister von Hogwarts, Severus Snape, das gewaltige Eichenportal des Schlosses aufstieß und mit energischen Schritten die Steintreppe hinunterschritt.
Die Sonne stand golden am Horizont und die Wipfel des Verbotenen Waldes bogen sich sachte in einer einsamen Brise hin und her, während sich die Wolken allmählich blutrot färbten.
Mit raschen Schritten überquerte Severus Snape den Innenhof und rauschte den grasbewachsenen Abhang der Ländereinen hinab. In Hagrids Hütte brannte kein Licht, doch der Schein der schwindenden Abendsonne reichte aus, um das Schlossgelände zu erleuchten.
Severus erreichte das Ende des Hanges und vor ihm breitete sich der See von Hogwarts aus, dunkel und still. Am Seeufer angekommen, schritt er mit harschem Gang auf und ab und schien nicht zur Ruhe kommen zu können. Immer wieder tauchte das Gespräch mit Dumbledore in seinen Gedanken auf, wie ein lästiger Schatten verfolgte Snape dessen Forderung schon das ganze Jahr.
Wie hatte er sich nur jemals bereit erklären können, Dumldedore umzubringen, wenn der Zeitpunkt gekommen war, an dem der junge Malfoy mit Sicherheit scheitern würde. Wie konnte er seine Pflicht gegenüber seinem Freund, dem Schulleiter von Hogwarts, erfüllen und gleichzeitig die Schuldgefühle ignorieren, die ihn Tag und Nacht heimsuchten?
Wofür tat er dies alles überhaupt? Für Lily. Ja, er hatte es von Anfang an für sie getan. Er hatte ihren Sohn, ihretwegen beschützt, hatte ihretwegen seine Rolle als Dumbledores Spion beibehalten, obwohl ihm die Angst durch die klammen Glieder kroch, wann immer er an seinen Auftrag dachte.
Er hätte sie damals beschützen müssen. Es war seine Pflicht gewesen aufzupassen, dass ihr nichts geschah. Doch er hatte versagt und nun hatte er sein gesamtes Lebenswerk darauf gerichtet, den jungen Potter zu schützen, damit er eines Tages, den Dunklen Lord von dieser Welt vertreiben würde. Aber der Preis der Reue war hoch, sehr hoch. Er schloss die Augen, presste die schmalen Lippen aufeinander und versuchte verzweifelt an etwas anderes zu denken.
Er brachte es nicht übers Herz, seinen Zauberstab auf Dumbledore zu richten. Er konnte nicht. Doch er musste. Für sie. Er öffnete die Augen wieder, ließ den Blick über den stillen, dunklen See gleiten. Die Sonne war fast gänzlich verschwunden und der Himmel brach auf in einem Feuerspiel aus Gold und Rot, während sich der Nachthimmel hinter den Wolken bereits dunkelblau färbte.
Die Welt war atemberaubend schön, wenn man es nur zu schätzen wusste, dass man gesund und am Leben war. Doch er selbst schätze sein Leben nicht, hatte es nichtmehr getan, seit sie von ihm gegangen war. Vom ersten Moment an, hatte sie ihn fasziniert.
Seine Gedanken flogen zu jenem heißen Tag im Hochsommer zurück, als er hinter den Büschen am Spielplatz von Cokeworth gekauert hatte und sie und ihre Schwester dabei beobachtet hatte, wie sie durch die Luft schaukelten. Er hatte es vom ersten Moment an gewusst. Hatte gewusst, dass sie etwas Besonderes war – einzigartig. Er hatte beobachtet, wie sie durch die Luft gesegelt war, die Anmut selbst, und leichtfüßig wie ein Vogel wieder auf dem Boden gelandet war. Schon damals.
Doch auch später hatte er sich nicht an ihr satt sehen können. Sie schien mit der Zeit immer schöner zu werden. So schön, dass ihm in ihrer Gegenwart manchmal die Luft zum Atmen fehlte.
Ihr dichtes, dunkelrotes Haar, das wie ausgeschenkter Wein im Mondlicht schimmerte, während sie durch das nächtliche Schloss gehuscht waren. Wenn sie ihr Haar ausgeschüttelt hatte, hatte sich ihr betörender Geruch in seine Erinnerungen geschlichen –süß und voll wie der Frühling, wenn die Blumen anfingen zu blühen und die Vögel aus dem Süden zurückkehrten, wenn die Erde im Einklang mit der Natur und dem Himmel war.
Ihre blasse, zarte Haut, im ewigen, wundersamen Kontrast zu dem dunkelroten Haar. Sie war weich und ebenmäßig. Wie oft war er mit seinen schlanken Fingern die Kontur ihres Schlüsselbeins nachgefahren? Wie oft hatten seine Lippen ihren Hals küssen wollen?
Aber sie hatte ihn nie gelassen, hatte ein Spiel aus seiner Liebe gemacht. War lachend davon gerannt, wenn er sich zu ihr hinunterbeugte oder versuchte sie zu küssen. Hatte aus seiner Begierde nach ihr ein Fangspiel gemacht, dass ihn bis zum Rande der Verzweiflung getrieben hatte. Wenn sie sich kichernd in der Bibliothek versteckt hatte und ihn mit ihrer hellen Stimme aufgefordert hatte, sie zu suchen.
Doch er konnte sich kaum mehr an ihre warme Stimme erinnern. Es versetzte ihm einen Stich, als er bemerkte, dass auch ihr Gesicht nicht mehr klar und scharf vor seinem inneren Auge auftauchte.
Die Erinnerung an Lily Evans schien von Tag zu Tag mehr zu verblassen, wenngleich er sich noch genau an eines erinnern konnte. Ihre Augen. Nie würde er diese leuchtend grünen Augen vergessen, wie sie ihn anstrahlten, wenn sie lachte oder wie sie gefährlich und kalt aufblitzen, wenn er sie mal wieder zur Weißglut gebracht hatte. Wie sie schalkhaft und närrisch schimmerten, wenn sie in einer neuen Idee aufging. Wie sie sanft und warm wurden, wenn James Potter sie in seine Arme schloss. Nie hatte sie ihn mit diesem Blick angesehen, den sie Potter geschenkt hatte.
Er ballte die Hände wütend zu Fäusten. Noch heute war er nicht darüber hinweg gekommen. Ja, es war seine Pflicht gewesen, Lily Evans vor dem Tode zu beschützen, aber er konnte nicht leugnen, dass ihn Potters Tod kalt gelassen hatte, während die meisten immerzu das tragische Schicksal von James und Lily Potter betrauerten. Doch für ihn war sie immer Lily Evans geblieben, nie Lily Potter.
Doch die Leute hatten sie nicht gekannt. Nicht auf diese Weise wie er sie gekannt hatte. Das üppige dunkelrote Haar, wie es das zarte Gesicht umrahmte, aus dem ihm verblüffend grüne Augen entgegenstrahlten. Smaragdgrün, jadegrün, grasgrün.
Severus' Blick glitt über das Wasser hinweg. Er ließ sich am Seeufer nieder und starrte auf den dunkler werdenden See hinaus, während sich die blutroten Streifen der schwindenden Abendsonne am Himmel mit dem Indigoblau der Nacht vereinten.
Und dann sah er sie. Am Seeufer. Keine hundert Schritte von ihm entfernt. Sein Herz setzte für einige Augenblicke aus. Das letzte Licht des Tages brach sich in ihrem vollen, roten Haar und sie war bis zur Hüfte in dem schwarzen Wasser des Sees verschwunden. Ihre helle, makellose Haut schimmerte im Dämmerlicht und eine laue Sommerbrise zerzauste ihr langes Haar. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und zerteilte mit ihrer Hand immer wieder die glatte Wasseroberfläche, durchschnitt das dunkle Nass.
Hastig richtete er sich auf. Das konnte nicht sein. Seine Augen mussten ihm einen Streich gespielt haben. Lily konnte nicht hier sein... Oder doch? Doch sie musste es sein. Ihre schmale Statur zeichnete sich vom dunkelroten Horizont ab. Sie trug nichts weiter als ein schlichtes Oberteil, das ihre Schultern freiließ und einen hauchzarten Rock.
Er keuchte, als er mit zittrigen Knien auf Lily zutrat. Sie war nun nur noch wenige Meter von ihm entfernt und er hätte beinahe die Wassertropfen auf ihrer blassen Haut zählen können.
Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben, sondern schaute weiter in die Ferne hinaus und beobachtete die dunklen Bäume des Waldes, während ihre Hand geistesabwesend weiterhin durchs Wasser glitt, in nahezu spielerischer Eleganz. Anmutig hob sich ihr Abbild vom mitternachtsblauen Nachthimmel ab. Der Mond war aufgegangen und tauchte den See in gespenstisches Licht.
Er schlich weiter auf sie zu, unfähig die Stimme zu erheben und ihren Namen zu rufen. Seit Jahren war ihm der Name nicht mehr über die Lippen geglitten, doch als sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr und es ausschüttelte überwältigten ihn seine Gefühle.
„Lily?", rief er mit brüchiger Stimme über den See hinaus.
Die schmale Gestalt vor ihm zuckte zusammen und sah sich panisch um. Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass die Stimme hinter ihr erklungen war. Sie wirbelte herum und das Wasser spritze zu beiden Seiten auf, als sie sich umdrehte.
Ihre Blicke trafen sich. Doch die Augen, die ihm verängstigt entgegenblickten waren herbstbraun. Es war nicht Lily, es war Ginny Weasley. Etwas in ihm ging zu Bruch, als er den rehbraunen Augen begegnete. Niemals hatte er Lilys Augen vergessen. Leuchtend grün und strahlend vom Glück des Lebens gezeichnet.
„Professor?", stammelte das Weasley-Mädchen nun und hielt sich schützend die Arme vor die Brust.
Er hätte es wissen müssen. Jetzt wo er das Mädchen näher betrachtete, fragte er sich, wie er sie mit Lily hatte verwechseln können. Ihr Haar war flammendrot und wild, nicht glänzend voll und dunkelrot. Ihre Haut war hell, doch ihr Gesicht war voller Sommersprossen und sie hatte weder Lilys edle Blässe, noch ihre zarte Röte.
Doch es waren diese goldbraunen Augen, die ihn in den Wahnsinn trieben. Niemand hatte Lilys leuchtend grüne Augen. Wie hatte er den Weasley-Trampel nur jemals mit seiner großen Liebe verwechseln können?
Wütend auf sich selber, ob seiner Schwäche und zutiefst verletzt wirbelte der Zaubertrankprofessor auf dem Absatz herum und rauschte ohne ein weiteres Wort den Abgang zum Schloss hinauf. Er hatte einen Auftrag zu erledigen und niemand würde ihm je wieder diese Schwäche zuweisen können.
Er war nicht schwach. Er war stark, kalt und berechnend. Niemand würde ihm je anrechnen können, dass er die Beherrschung verloren hatte. Er hatte sich einer Illusion hingegeben, einem Traum. Nichts weiter. Doch sein Blick war verschleiert und seine Sinne benebelt, als er über das dunkle Schlossgelände schritt. Niemals würde er diese verblüffend grünen Augen vergessen können. Nicht einmal nach all den Jahren.
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