Kapitel 4 《Lily》Eliza
Ich war echt erleichtert, dass Fynn mich aufnahm. Allerdings wollte ich ihm auch nicht zur Last fallen. Damit eben das nicht geschieht, nahm ich mir vor, ihm bei möglichst vielen Angelegenheiten zu helfen.
Gerade lag ich auf einer Matratze und versuchte zu schlafen.
Nachdem Fynn und ich uns einander vorgestellt hatten, zeigte er mir seine Behausung, bestehend aus einer sehr kleinen Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem winzigen Bad, welches mit Toilette und einer sehr alten Dusche ausgestattet war. Einen Keller hatte die Bruchbude auch, aber die Tür war abgeschlossen. Er hatte bisher noch nichts gefunden, um die Tür aufzubrechen und er war nicht stark genug, um sie aufzutreten. Leider konnte auch ich keine Türen aufknacken, also würde sie wohl vorerst geschlossen bleiben.
Mich verwunderte nur, dass er zwei weitere Matratzen hatte. Er schien nicht die ganze Zeit allein gewesen zu sein, aber weshalb war er das nun? Was war mit seinen Leuten passiert?
Während ich auf dem Polster lag und mir weiter den Kopf darüber zerbrach, wurden meine Augen langsam schwerer. Die Ideen, wie der Junge wohl seine Familie oder Freunde verloren haben könnte, wurden immer absurder, und bevor sie komplett jeglichen Sinn verloren, verfiel ich meiner Müdigkeit und schlief ein.
Nach langer Zeit hatte ich wieder Mal einen Traum über meine Eltern.
Er begann damit, dass wir gemeinsam auf einem leicht demolierten Bett schliefen, als wir plötzlich einen Knall hörten. Sofort wurden wir wach. Mein Vater verließ, mit einem Messer bewaffnet, das Zimmer und sah sich auf dem Flur um. Völlig verängstigt klammerte ich mich an meine Mutter und wimmerte. Sie hatte mich feste an sich gedrückt und hielt beschützend ihre Arme um mich. Ich hatte Angst um meinen Vater und um uns. Meine Angst stieg zu Panik an, als ich hörte, wie mein Vater schrie und einige Männerstimmen schrecklich lachten. Ich zuckte zusammen und fing an zu weinen. „Alles wird wieder gut, Eliza", versuchte meine Mutter vergeblich mich zu beruhigen.
Als dann auch noch Schritte näher kamen, die eindeutig nicht zu meinem Vater gehörten, stieg auch meine Mutter aus dem Bett, nahm sich das zweite Messer, welches wir dabei hatten und sah mich eindringlich an. „Du kletterst jetzt auf das Dach und gehst die Feuertreppe runter! Dann rennst du, so schnell du kannst, zum alten Supermarkt um die Ecke! Dort wartest du auf uns, wenn wir in zehn Minuten nicht wieder da sind, dann musst du ganz mutig sein und nach der ,Young Rebellion' suchen. Nimm den Rucksack mit! Ich liebe dich, mein Schatz. Pass auf dich auf und mach dir um Papa und mir keine Sorgen, ja?" Sie strich mir mit zittrigen Händen übers Gesicht und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sie kämpfte mit den Tränen und versuchte mich zuversichtlich anzulächeln.
Überfordert nickte ich und nahm mir den Rucksack, wie es mir meine Mutter gesagt hatte. Dann umarmte ich sie nochmal und drückte sie so feste, wie ich konnte, an mich. Sie erwiderte den Druck, löste sich dann aber auch von mir. „Ich liebe dich auch, Mama", sagte ich noch, ehe ich mich von ihr entfernte und aus dem Fenster rauskletterte. Ich versteckte mich aber unter meinem Fluchtausgang und sah in das Zimmer. Meine Mutter stand in der Tür und sah nach draußen auf den Flur.
Auf einmal kamen drei Männer rein, welche das Zeichen der „Doomed Eagles" auf ihren Jacken trugen. Einer von ihnen hielt eine Schusswaffe, hingegen die anderen beiden nur Knüppel in ihren Händen hatten. Sofort machte ich mich noch kleiner, so dass ich nur noch gerade so von der Szene mitbekam. Ich zitterte wieder und musste mich zusammenreißen, nicht wieder zu weinen.
Gerade als der Mann mit der Schusswaffe auf meine Mutter zielte, schreckte ich schweißgebadet hoch. Ich atmete schnell und brauchte erstmal einen Moment, um wieder in der Realität anzukommen. Langsam beruhigte sich meine Atmung wieder.
Ich sah mich um, denn ich fragte mich erstmal, wo ich überhaupt war. Schlagartig fiel mir der vergangene Tag wieder ein, als ich meinen Blick kurz durch den Raum schweifen ließ.
Fynn saß auch auf seiner Matratze, er hatte allerdings ein Buch gelesen, bevor ich aufgewacht war.
Er sah fragend zu mir. „Alles okay?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab von der Entführung meiner Eltern geträumt", erzählte ich Fynn mit zittriger Stimme. Es war das erste Mal, dass ich einer Person davon erzählte.
Mitleidig sah mich der Blondschopf an und setzte sich auf den Boden neben der Matratze. „Ich träume auch manchmal von meinen Eltern", meinte er verständnisvoll lächelnd. Kurz versank er in seinen Gedanken, ehe er sich mir wieder mit mitleidigen Blick zuwandte: „Hilft es dir vielleicht darüber zu reden? Wenn du nicht magst, dann kann ich das vollkommen nachvollziehen." Ich überlegte, denn eigentlich spreche ich ungern über solche schlimmen Erlebnisse. Aber vielleicht würde es mir wirklich helfen?
Nach schneller Überlegung nickte ich also und erzählte ihm von dem Hotel, in dem wir zu der Zeit gehaust hatten, wie mein Vater losgegangen war, wie meine Mutter mich angewiesen hatte, was ich zu tun hatte, wie auf meine Mutter gezielt wurde und wie ich alleine zu dem Supermarkt, mitten in der Nacht lief.
Es fühlte sich so an, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich überfordert durch die Stadt geirrt war und abwechselnd auf die Armbanduhr und auf die Straße geschaut hatte, in der Hoffnung, meine Eltern würden jeden Moment um die Ecke zu mir gelaufen kommen.
Und gleichzeitig fühlte es sich so surreal an, als hätte ich sowas niemals erleben können. Manchmal kommt mir das alles hier wie ein schlechter Film vor.
Als ich mit meiner Erzählung fertig war, wischte ich mir nochmal mit meinem Ärmel über meine Nase; sie hat angefangen zu laufen. „Willst du ein Taschentuch haben?", fragte mich Fynn. „Ja, bitte."
Er stand auf, holte eins und gab es mir. Lächelnd bedankte ich mich und putzte mir die Nase. Zuvorkommend holte der Blondschopf auch einen Mülleimer, wo ich das Bazillentuch reinwarf.
„Denkst du, meine Eltern leben noch?", fragte ich ihn. Ich wusste selber nicht ganz, was ich glauben sollte; in manchen Momenten dachte ich wirklich, meine Eltern wären getötet worden, in anderen wiederum dachte ich, dass sie überlebt haben könnten und ich nur hätte länger warten müssen. Vielleicht war das einfach Wunschdenken und es ist nur das zurückgelassene Kind in mir, dass an der Vorstellung, meine Eltern wären noch irgendwo und suchten nur nach mir, verbissen festklammern möchte.
Fynn spielte mit den Seiten aus seinem Buch herum und wog wahrscheinlich im Kopf die Möglichkeiten ab. Schließlich meinte er: „Ich weiß nicht recht. Deine Eltern waren ja bewaffnet, aber wenn es wirklich Adler waren, dann könnte die Wahrscheinlichkeit, dass deine Eltern noch leben, relativ gering sein." Traurig nickte ich. Das war zwar nicht meine Wunschantwort, aber das ist die Wahrheit.
Fynn musterte mich für ein paar Sekunden, ehe er zu mir sagte: „Ich denke, nachdem du mir etwas so Persönliches anvertraut hast, wäre es nur fair genug, wenn ich dir auch meine Geschichte erzähle." Ich setzte mich so hin, dass ich ihn besser ansehen konnte und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf ihn. Er knickte eine Seite in seinem Buch um und legte es neben sich, bevor er anfing zu erzählen: „Ich war vielleicht vierzehn. Sobald es hieß, Alles wäre erlaubt, schmiedeten sie wilde Pläne. Ich machte mir nur Sorgen um meine Eltern und um mich. Mir machte das alles ziemlich Angst, was zu schlaflosen Nächten führte. Meine Freunde sammelten alle möglichen lebensnotwendigen Gegenstände zusammen und brachten sie in ein bereits verlassenes Hausboot. Ihr Plan war es, sobald wir alle durften, alleine dort zu leben. Allerdings fiel es mir schwerer als meinen Freunden, sich von meinen Eltern zu trennen, weshalb ich auch erleichtert darüber gewesen bin, dass ich mir im Frühling eine dicke Grippe eingefangen hatte und wir deshalb ‚unseren' Plan verschieben mussten. Ich hatte Angst meinen Freunden von meinem Zwiespalt zu erzählen, denn einerseits wollte ich nicht als Weichei oder Feigling dastehen, aber mir war auch meine Familie wichtig." Für mich war seine Angst völlig verständlich. Auf der einen Seite war die Familie, Menschen, die so viel für einen getan und einen großgezogen haben. Und auf der anderen Seite waren Leute, mit denen man so häufig unterwegs ist, mit denen man viel und gerne Zeit verbringt. Mir wäre die Entscheidung auch schwer gefallen. Ein wenig bin ich froh darüber, dass ich als Elfjährige damals keine andere Wahl gehabt hatte, als erstmal bei meinen Eltern bleiben zu müssen.
„Hast du daher all dieses Zeug?", fragte ich Fynn und zeigte durch den Raum. Er nickte und erzählte weiter: „Zum Teil ja. Ein paar Sachen habe ich alleine erbeutet. Jedenfalls hatten wir vier mit unseren Eltern über den Plan geredet und mit ihnen ausgehandelt, dass wir unter ein paar Voraussetzungen mit sechzehn Jahren gemeinsam leben und umherziehen dürften. Leider kam es dann doch anders." Er machte eine kurze Pause um zu seufzen und sah auf das Buch vor ihm. Ihm schien es etwas unangenehm zu sein, weshalb ich ihm auch sagte, er müsse mir nicht davon erzählen, wenn er es nicht zu hundert Prozent wollte. Doch er beharrte darauf es mir zu erzählen und argumentierte damit, dass es ihm ganz gut tun würde, wenn er darüber redete.
„Wir vier haben in einem Baumhaus, das wir in einem Wald gebaut haben, übernachtet, als plötzlich mitten in der Nacht Randale im Wald zu hören waren. Zuerst dachten wir, es würden nur Tiere sein, aber nachdem wir Gelächter und das Knallen von Böllern hörten, waren wir uns einig, dass wir in Gefahr waren. Aidan hatte aus irgendeinen speziellen Grund zwei Küchenmesser mitgenommen und wollte mit einen der Klingen raus in den Wald gehen. Tristan und ich waren nicht wirklich von der Idee begeistert; schließlich könnte ihm was passieren. Aidan und Tristan diskutierten so lange, bis Linus vorschlug, dass wir alle Aidan begleiten könnten. Aidan und Linus waren schon immer wild und liebten die Gefahr. Linus meinte, dass es so sicherer sei und wir direkt zurück nach Hause flüchten könnten. Widerwillig hatte ich zugestimmt und nachdem wir Tristan beruhigt hatten, gingen wir vier in den Wald hinein. Es fühlte sich wie in einem Horrorfilm an und ich erwartete nur, dass aus dem nächsten Busch jemand hervorspringen würde und uns umbringen wollte. Zum Glück kam es aber nicht so. Stattdessen konnten wir die Personen, die wir vorher noch gehört hatten, nicht finden. Gerade als wir umdrehen wollten, vernahmen wir den Geruch von verbrannten Holz. Langsam kamen auch in Aidan und Linus Zweifel hoch. Zum Glück behielten Aidan und Linus einen kühlen Kopf und lotsten uns aus dem Wald zum Hafen, welcher nicht allzu weit weg war. Dort versteckten wir uns in unserem Bootshaus." Als er das so erzählte, fiel mir ein, dass sie ja irgendwie da reinkommen mussten. Demnach müsste irgendeinem doch das Bootshaus gehört haben.
Neugierig fragte ich nach: „Aber wie kamt ihr denn da überhaupt rein? Gehörte einem deiner Freunde das Bootshaus?" Fynn schüttelte den Kopf und kratzte sich verlegen am Arm.
„Na ja... In der Theorie gehörte es uns nicht, aber der Besitzer davon war schon seit mehreren Jahren nicht mehr dort gewesen, also dachten wir uns nichts dabei", gab er mir als Antwort.
„Achso! Kam denn der Besitzer nochmal, und was ist mit dem Boot passiert? Offensichtlich lebt ihr ja nicht mehr dort."
Geknickt richtete Fynn seinen Blick nach unten und seufzte. „Der Besitzer kam, soweit ich weiß, nicht mehr zu seinem Boot zurück. Ich weiß leider nicht, was damit passiert ist. Jedenfalls haben wir uns die Nacht dort versteckt. Am nächsten Tag wollten wir wieder zu unseren Familien gehen, aber die Leute, die den Wald angezündet hatten, waren auch in unserem Viertel unterwegs gewesen und haben einige der Häuser dort in Brand gesteckt", fuhr er fort. Ein schwerer Seufzer verließ Fynns Mund.
Mitleidig sah ich ihn an und hörte ihm weiterhin aufmerksam zu, wie er mit seiner Geschichte fortfuhr: „Mein Zuhause war von dem Brand ebenfalls betroffen. Als es ausgebrannt war, sind die Väter und Mütter meiner Freunde zu den Überresten meines ehemaligen Zuhauses gegangen und haben nach meinen Eltern gesucht." Ich konnte sehen, dass sich über seine Augen ein wässriger Glanz legte, ähnlich mit dem eines Tränenausbruchs. Doch dazu kam es nicht; er atmete zittrig aus, lächelte mich schwach an und schon verschwand der Film aus Tränen.
Er brauchte nicht weiter erzählen, damit ich verstand, was geschah. Man konnte sich eins und eins zusammenrechnen, um zu erfahren, was mit seinen Eltern passierte.
In großer Anteilnahme legte ich meine Hand auf seinen Arm und machte ihm mit einem Blick klar, dass er nicht weitersprechen brauchte.
„Sie sind bestimmt froh darüber, dass es dir gut geht. Ich denke, das ist gerade in der heutigen Zeit der größte Wunsch aller Eltern", versuchte ich ihn irgendwie zu trösten. Ich wusste ganz genau, was für ein Schock und Schmerz es ist, seine Eltern zu verlieren oder es zumindest nicht genau zu wissen.
Der Gedanke daran, dass sie womöglich doch noch leben könnten, gefiel mir zwar, aber dennoch ist dieser Ausgang der Geschichte zu unrealistisch. Und selbst wenn, wie sollte ich sie finden? Ich weiß doch gar nicht mehr wo dieses Hotel ist. Nur an die Umgebung kann ich mich erinnern, aber das würde zu lange dauern und das möchte ich Fynn auch nicht antun. Gerade nicht jetzt.
Es war still zwischen uns. Die Stille war weder bedrückend, noch angenehm; sie ließ uns unsere Gedanken an Freunde und Familie auffrischen und noch einmal erleben. Zumindest tat sie das bei mir.
Irgendwann musste ich gähnen, womit ich Fynn wohl aus seinen Gedanken riss; sein Blick galt auf der Stelle wieder mir und nicht mehr dem Cover seines Buches. „Müde?", fragte er nur knapp, während er, von meinem Gähner angesteckt, ebenfalls gähnen musste. Erschöpft nickte ich und sah zum Fenster raus. Die Sonne fing schon an langsam hervor zu kommen. Niedergeschlagen stöhnte ich und ließ mich auf die Matratze fallen. Fynn lachte etwas. „Lass uns noch ein paar Stunden schlafen. Man muss ja nicht bei Morgengrauen aufstehen", meinte er, sich streckend. Das Buch legte er links von seiner Matratze auf den Boden und kuschelte sich wieder unter seine Decke.
Ich tat es ihm nach, schloss meine Augen und lächelte zufrieden.
„Schlaf gut, Fynn!", rief ich noch. „Du auch", kam es von dem Blondschopf verschlafen brummend.
Verdammt, ich hatte wieder jemanden, dem ich einen guten Schlaf wünschen konnte!
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Gewöhnt euch an diesen Rythmus.
2 Kapitel aus der einen Sicht und dann immer eins aus der anderen. ^^
Ich hoffe, das ist gut so. :D
Ach, und: Hier das Lied passt zum Beispiel eher von der Stimmung, als Eliza wegrennen musste.
LG LMS
Aktuelle Version vom: 29. Dezember 2021
Erstveröffentlichung: 29. September 2020
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