Kapitel 24 《Let me down slowly》 Nero
Wir saßen nebeneinander, vielleicht einen halben Meter voneinander entfernt, und schwiegen.
Ich würde das Gespräch nicht anfangen.
„Ich habe mit Vivian geredet.“
Oh wow, er nennt sie beim Vornamen, so ernst ist es schon.
Langsam nickte ich. Ihr habt miteinander geredet. Mal wieder. „Wie schön.“
Tristan verdrehte die Augen.
„Ich war spazieren“, sagte ich dann. Es war dumm, aber ich fühlte mich gezwungen, irgendwas Bissiges zu sagen.
„Soll ich jetzt auch ‚Wie schön‘ sagen?“
„Wenn du genauso kaltherzig sein willst wie ich, dann auf jeden Fall.“
Es war zwei Sekunden still.
„Das ist das, was du glaubst das ich denke, oder?“, wollte Tristan dann wissen, ohne dabei überheblich oder in einer anderen Art und Weise angreifend zu wirken. Er bemühte sich. Ich war aber immer noch eingeschnappt und ich war wirklich müde. Meine Energie ist so gut wie leer und meine Laune ist – wie immer – im Keller.
„Denkt das nicht jeder? Viel Positives habe ich zumindest bisher nicht gehört.“
Ich war mir sicher, dass gleich ein ach so lieb gemeintes „Oh Nero, sag doch sowas nicht!“ oder ein beteuerndes „So denk ich doch gar nicht!“ kommen würde. Menschen waren immer so. Erst hauen sie mit wilden Beleidigungen um sich, nur um dann zu sagen, dass das alles gar nicht so gemeint sei und sie ja ganz anders wären.
„Ehrlich gesagt“ – Jetzt kommt es – „machst du es einem aber auch nicht gerade leicht, dich nicht als Bösen zu betrachten.“
Er war wirklich ehrlich; und das, ohne gemein zu klingen. Sagenhaft. Ich wäre gerne darüber wütend geworden, aber ich konnte es nicht sein.
Ich sah zu ihm. Er hatte mich auch angeschaut.
Seine Ehrlichkeit schätzte ich, aber ich muss gestehen, dass es mich schon verletzte, dass es wirklich so einfach ist, mich als den Bösen wahrzunehmen.
Wie gesagt, wütend war ich nicht, nur verletzt.
„Danke“, meinte ich, nur in halber Lautstärke, „glaub ich…“
Tristan versuchte sich sofort zu verteidigen: „Hey, es tut mir ja leid, aber so ist es nun mal! Es ist besser, ehrlich zu sein, oder nicht?“ Ich nickte und versicherte ihm, dass ich ihm zustimme. „Außerdem hätte ich sowieso gewusst, dass du lügst, wenn du mir was anderes gesagt hättest.“
Statt darauf genauer einzugehen, fragte er mich dann, warum ich eigentlich so negativ eingestellt sei. „Ich bin negativ eingestellt?“, echauffierte ich mich. Er sang hier doch Lieder von wegen, dass er am Leiden und kaputt und alles vorbei sei.
Tristan schnaufte. „Ja, du! Du bist den ganzen Tag in deinem Zimmer, alleine, hörst Musik und machst nichts anderes. Dann denkst du, dass alle gegen dich sind und sagst keinem irgendwas. Ich finde nicht, dass das eine sonderlich positive Einstellung ist.“ Natürlich hatte er recht, dass mein Verhalten nicht gerade den Eindruck erweckt, dass es mir gut geht, aber mir geht es… Okay.
Er hat hier doch den Herzschmerz und hat „das Vertrauen an die Liebe verloren“, wie er selber einmal gesagt hat. Außerdem hat er irgendwas erlebt, was ihm wirklich zugesetzt hat.
Ich hab einfach nur keine Ahnung mehr, was ich überhaupt noch hier mache, warum ich überhaupt lebe.
„Und du bist der Sonnyboy höchstpersönlich oder wie?“, zweifelte ich an. Tristan zog seine Ärmel über die Hände. „Nein, bin ich ja auch nicht“, gab er kleinlaut zu, „aber darum geht es gar nicht.“
„Es geht um vorhin, ich weiß, ich bin nicht schwer von Begriff“, seufzte ich, dezent genervt. Ich wollte schlafen und nicht darüber debattieren, wer von uns beiden mehr am Arsch und am depressivsten ist, auch wenn wir zwei echte Spitzenkandidaten für den ersten Platz wären.
Wahrscheinlich stoßen wir uns deshalb wie zwei Minuspole ab. Gibt’s da nicht auch irgendwie einen Physik-Witz zu?
„Nicht nur“, meinte Tristan dann. Mit großen Augen sah ich ihn an. Er wollte nicht ernsthaft jetzt, um diese Uhrzeit, einen Deeptalk führen.
„Ich hab Angst.“ Die Worte kamen ihm nicht leicht über die Lippen und er sah mich dabei auch nicht an, sondern blickte zu seinen Händen, die er zusammengefaltet hatte. Sie waren immer noch von seinen Ärmeln bedeckt.
Erst beim nächsten Satz sah er mich an: „Ich hab Angst, dass du dich über mich lustig machst.“ Sein Blick unterstrich seine Angst. Es machte mich traurig, dass er Angst davor hatte. Klar sind manche Sachen die ich mache nicht gerade nett, aber richtig geärgert habe ich ihn nicht und natürlich sieht man sich selbst immer anders als es andere tun, aber ich hatte nie den Eindruck, dass ich mich wie jemand verhalte, der Leute erniedrigt oder sie runterputzt.
Was zur Hölle wird eigentlich über mich herumerzählt?
„Es liegt auch nicht an dir, weißt du“, sprach er dann weiter, um einiges weniger verängstigt. Ich nickte wieder langsam. Das würde vermutlich eine lange Nacht werden.
Aber hey, vielleicht liegt es doch gar nicht daran, dass ich anscheinend Bad Boy Nummer 1 bin, in den Augen von so ziemlich jedem, der hier wohnt.
„Ich hab einfach generell Angst davor. Ich hab zum Beispiel nie irgendwie gesagt oder angedeutet oder so, dass ich gerne Bücher lese. Einer meiner Freunde liest gerne Bücher, aber nicht einmal ihm hab ich es gesagt“, erzählte er nun.
„Wie hast du das bitte geheim gehalten? Hat keiner deiner Freunde die Bücher in deinem Zimmer bemerkt oder hast du die immer versteckt, wenn sie zu dir kamen?“, fragte ich. Die Mühe hätte ich mir niemals gemacht, und warum überhaupt? Wenn du dich auf jemanden verlassen kannst, dann auf deine Freunde. Oliver, Anton und Xenio haben mir tausendmal mehr geholfen und mich mehr unterstützt als meine Eltern. Vielleicht ist das aber auch normalerweise anders?
Es soll ja Eltern geben, die cool sind, wie die von Anton.
Ich ließ Tristan erstmal erklären, wie er sein geheimes Hobby vor seinen Freunden versteckte, bevor ich ihn nach dem „Wieso“ fragte: „Ich hatte halt auch einige Comics, die hatte ich immer in meinem Regal gehabt und die Bücher hatte ich in einer Kommode. Die habe ich wie etwas Heiliges beschützt. Keiner durfte da ran. Das war nicht immer leicht und manchmal war es echt knapp, aber ja. Und ein paar Bücher hat ja jeder, also musste ich nur die richtig peinlichen verstecken. Die paar wenigen Bücher über zwei Jungs, zum Beispiel.“
Erstaunt hob ich die Augenbrauen. Das war schon eine beeindruckende Leistung, muss ich sagen.
„Aber warum? Hast du sogar deinen Freunden nicht vertraut oder was?“
Tristan zog so weit an seinen Pulli Ärmeln, dass sie sich richtig anspannten.
„Ich hab immense Vertrauensängste.“
Wieder nickte ich. Das hatte ich auch bemerkt.
„Ich hatte die schon immer, irgendwie. Keine Ahnung. Generell hab ich vor vielem Angst. Ich hab Angst vor dem Tod, Spinnen, dass mich Leute im Stich lassen, mich verraten… Ich hab riesige Angst vor Clowns! Ich mach mir die ganze Zeit Sorgen darüber, ob mir was passiert. Ich träume fast nur, dass ich in unendliche Tiefen falle. Und alles sieht für mich immer so grau und monoton aus. Nichts sieht mehr wirklich lebendig aus und ich fühl mich selbst so antriebslos. Ich weiß gar nicht, was ich hier mache. Es gibt einfach nichts mehr für mich, für das es sich zu leben-“
Jedes Wort fühlte sich schmerzhaft vertraut an und als er sich selbst unterbrach, fühlte ich mich ertappt. Hatte ich nicht eben auch noch sowas ähnliches gedacht?
„Das klingt viel zu schlimm“, murmelte Tristan. „Ich hab einfach nichts, was mich irgendwo hält und ich bin – oder viel mehr ich war nicht nur alleine, sondern ich war auch noch einsam.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das, was er beschreibt, bin ich.
Vielleicht ist nicht das Kochen der gemeinsame Nenner, sondern einfach Depression, wobei ich mir immer noch nicht ganz sicher bin, ob das bei mir eine richtige Depression ist oder lediglich eine Phase. Wobei, nach wie vielen Jahren ist eine Phase keine Phase mehr?
Ach, keine Ahnung, vielleicht hab ich doch schon den Punkt der Phase überschritten und stecke in einer echten Depression fest und hab es einfach noch nicht realisiert.
„Ich fühl mich auch einsam“, sagte ich irgendwann. „Ich hab auch keine Ahnung, warum ich überhaupt noch existiere. Es ist nicht so, dass ich gerne sterben will, aber ich weiß auch nicht, warum ich noch weitermache. Ich bin einfach hier und weiß nicht, warum. Keine Ahnung, was ich überhaupt tun soll, es hat ja sowieso keinen Sinn mehr. Ich hab alles verloren, aber ich hab auch gleichzeitig Freiheit gewonnen. Aber ich kann nichts damit machen und vor allem nichts mit den Leuten, die mir früher so viel bedeutet haben und es auch jetzt noch eigentlich tun.“
Ich bemerkte, dass es so klang, als würde ich noch etwas Positives ergänzen, aber es gab nichts Positives zu ergänzen, also schloss ich mit „Die Welt ist einfach ein beschissener Ort“ ab.
Tristan nickte stumm und sah auf seine Hände. Ich lehnte mich mit dem Rücken zurück und seufzte.
Ich würde gerne heulen, aber gleichzeitig hatte ich auch keine Lust darauf. Heulen ist kacke, ich fühle mich immer so blöd und dumm dabei. Als wäre ich wieder ein kleines Kind.
Schlafen würde ich jetzt auch gerne.
Wir schwiegen wieder und fast wäre ich sogar eingenickt, wenn der Braunschopf nicht wieder etwas gesagt hätte: „Ich bin schwul.“
Müde drehte ich meinen Kopf zu ihm, sah ihn an, wie er wieder aufgeregt mit seinen Pullover Ärmeln spielte und wieder ängstlich dreinblickte. War das sein großes Geheimnis? Dass er schwul ist?
„Okay cool.“
Ich drehte meinen Kopf wieder zurück und schloss die Augen. Ich war wirklich viel zu müde. Es wäre besser, wenn ich aufstehe und in mein Bett gehe, aber ich sitze hier schon und so ungemütlich ist das Sofa dann auch nicht.
„Ist- ist das wirklich… Ich- also…“ Tristans Stammeln riss mich wieder aus meinem Einschlafprozess, weshalb ich es aufgab und mich aufrechter hinsetzte. „Dich scheint das ja mehr zu beschäftigen als mich“, stellte ich fest. „Verändert ja nichts, oder? Du bist immer noch der gleiche, genauso wie ich.“
Er nickte und hörte auf, seine Ärmel zu massakrieren. Es schlich sich sogar ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. „Es war nur so eine komische Reaktion.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Was sagt man halt dazu? Wie reagierst du, wenn ich dir jetzt sage, dass ich hetero bin?“ Ich wartete seine Antwort ab. „Keine Ahnung.“
„Na also“, meinte ich dann. „‘Okay‘, weil ich dich gehört habe und ‚cool‘, weil ich kein Hinterwäldler bin.“
Tristan nickte und war wieder still.
„Sorry übrigens“, sagte ich. Verwundert blickte er zu mir. „Das mit den Vertrauensängsten hab ich mir schon irgendwie gedacht. Ich mein, wirklich unauffällig war das ja nicht gerade. Umso unfairer war es von mir, mehr oder weniger zu verlangen, dass du den ersten Schritt machst.“ Er seufzte und winkte ab.
„Ehrlich gesagt verstehe ich das schon. Ich war auch nicht gerade nett zu dir, selbst nachdem du uns dein Zuhause zur Verfügung gestellt hast. Du hast mir ja nicht mal den Plattenspieler abgenommen, nur den Schlüssel. Da hätte ich eigentlich auch draufkommen können, dass du nicht ganz so kaltblütig sein kannst, wie es die Gerüchte sagen. Tut mir leid.“ Erneut zuckte ich mit den Schultern.
„Ja, aber ist okay. Ich muss zwar immer noch mächtig damit kämpfen, dass du Vi deine Story vor mir anvertraut hast, aber es ist schon in Ordnung. Irgendwann werde ich mich von dieser herzlosen Gräueltat erholen.“ Ich hoffte, er hörte meinen sarkastischen Unterton heraus.
„So eifersüchtig warst du?“, fragte er dann lachend. Er hatte es verstanden, gut. Grinsend antwortete ich, dass ich wirklich am Boden zerstört war und mich deswegen nächtelang in den Schlaf geweint habe. „Nein, alles gut“, widersprach ich mir selbst schnell. „Ich war viel zu beschäftigt damit, mürrisch und schlecht gelaunt zu sein, obwohl mir das Ganze hin und wieder nicht aus dem Kopf ging.“
„Aww, ich ging dir nicht aus dem Kopf!“
Ich seufzte und bereute sofort, was ich gesagt habe. „Hey, bild dir da nicht zu viel drauf ein, ja? Nicht nur du gingst mir hin und wieder nicht aus dem Kopf.“
Jetzt lachte er. Ach scheiße, ich hatte es nur noch schlimmer gemacht. Genau deshalb sollte man nicht übermüdet Deeptalks führen.
„Magst du etwa Vivian?“, fragte er, noch immer lachend, wobei ich deshalb nicht gleich davon ausgehen würde, dass er die Frage nicht ernst meinte.
„Mein Bett mag ich.“
Da es ihm scheinbar schon viel besser ging und der Deeptalk vorbei zu sein schien, beschloss ich aufzustehen und in mein Zimmer zu meinem Bett zu gehen.
Tristan hörte auf zu lachen. „Ach komm, ich hab nur einen Spaß gemacht, Nero.“
„Ich nicht“, entgegnete ich.
„Aber ich muss sagen, dass ich finde, dass ihr ein tolles Paar abgeben würdet. Ihr ergänzt euch so wunderbar.“
Kopfschüttelnd entfernte ich mich von dem Jungen. „Gute Nacht, Tristan!“, rief ich ihm dann von meiner Tür aus zu.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen.
Auch wenn ich nicht wirklich Lust auf das Gespräch hatte, muss ich jetzt doch zugeben, dass es gut war, dass ich mit ihm geredet habe. Vi hat leider recht gehabt.
Er hat mir zwar nicht alles erzählt, aber alles zu seiner Zeit. Ich hab ihm auch nicht gerade viel erzählt. Vertrauen ist eben ein Geben und Nehmen und bis man sich vollkommen vertrauen kann, dauert es einfach.
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Joar. Ist ein bisschen heavy geworden.
Anyways, das nächste Kapitel wird ebenfalls aus der Sicht von Nero sein. Ab sofort ist es nämlich anders herum: Zwei Kapitel aus Neros Sicht, eins aus Elizas und dann immer so weiter.
Ich weiß noch nicht ob ich das bis zum Ende so mache (Heck, ich weiß ja nicht mal genau wann das Ende ist) oder ob es sich nochmal ändern wird, aber ihr werdet es hier und am Titel lesen. :)
Ich hoffe es hat euch gefallen und bis dann!
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