Kapitel 2: Die Welt dreht sich nicht
Ich sitze auf dem Boden. Nichts ruft nach mir. Ich bin allein. Ich bin frei.
Es ist 10.30 Uhr. Es läuft Chopin. Eine Nocturne in b-Moll. Die Musik legt sich über die Szenerie wie ein sanfter Fluss und überschwemmt den Boden und die Decke mit einer Welle von Klängen, die die Welt für einen kurzen Augenblick aus ihren Fugen reißt und dann ist alles wieder still. Es war schon vorher still, doch nun springt mich die Starrheit und völlige Unbeweglichkeit der puren Existenz förmlich direkt an. Die Welt dreht sich nicht um mich. Die Welt dreht sich nicht. Ich drehe die Welt. Ohne mich bleibt nur der Moment, der unerlebte Moment in der Leere des Augenblicks. Die Farben der Wohnung verschwimmen vor meinen Augen, alles löst sich im Nichts. Das immer währende Nichts, das sich nie zu zeigen vermag. Ich spüre nicht mehr den Boden unter mir. Ich bin das Nichts. Das Nichts aus dem einmal die gesamte Welt heraus entstand und das Nichts, in das die gesamte Welt wieder verschwinden wird. Alles endet und beginnt mit mir. Ich bin der Mittelpunkt meines Universums. Die Melodie leitet mich, hinein in einen wilden Flug, durch die Töne des Klaviers mit einer irrationalen Zufriedenheit. Irrational, weil es sich falsch anfühlt, nicht echt, nicht real. Es fühlt sich an, als wolle ich unterdrücken, dass ich gerade etwas ignoriere. Der Gedanke zermartert meinen Kopf, bis ich ihn zum ersten Mal hören kann. Ein undeutliches Murmeln durch die Stille, meines Denkapparats. Ein Murmeln, das mir sagen will, was ich in diesem Moment verdränge. Dass ich heute noch einkaufen muss, etwas tun sollte. Den Wagen waschen, produktiv sein. Funktionieren. Aber ich kann nicht funktionieren, etwas tief in mir verhindert, dass sich mein Körper auf die Einflüsse des Alltags einlässt. Sich in Gang setzt, um Mensch zu sein.
Dann zerbricht alles, meine Gedankenströme sprengen den Damm der Sorglosigkeit, der meinen ruhigen Geist vor den mitreißenden Fluten des Vorhandenseins bewahrte, das Klavier wird schneller. Ein neues Stück, ein neues Gefühl. Kein Übergang, wilde Gedanken. Ich falle. Falle in eine ewige Tiefe. Immer weiter und weiter ins Dunkle. Ich versuche mich festzuhalten, doch da ist nichts. Da bin nur ich. Ein schieres Dasein. Ein Wesen, gezeichnet vom größten Mysterium unseres Begreifens, das Leben. Das einzig Wesentliche an mir ist meine Veranlagung, leben zu können, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ich bleibe mitten im Fall stehen. Kein Aufprall. Einsames Dasein im puren Schwarz. Erwachen.
Ich atme ein. Bin überrascht, dass ich es kann. Ich spüre die Luft, wie sie durch meinen Körper strömt, meine Lungen befüllt. Ein Anker zur Wirklichkeit. Spüre kaltes Holz unter mir. Ich bin gelandet. Zurück aus den Tiefen meines Bewusstseins. Zurück im Jetzt.
Total erschrocken bemerke ich, dass ich Beine habe, als ich sie aus einem Reflex heraus anspanne.
Ich mache die Musik aus. Es ist unheimlich, wie still es wird. Die Stille schien schon vorher dagewesen zu sein, aber jetzt ist es eine andere Art von Stille. Es ist die Art von Stille, die dich ohne Vorwarnung erdrücken kann, wenn du es am wenigsten erwartest. Die Stille, die in dir ein seltsames Gefühl von Unwohlsein auslöst, es ist zu still ist, um diese Stille zu brechen. Unsicher stehe ich dem bedrohlich schweigenden Raum gegenüber. Als würde ich auf einem kleinen Boot auf dem Atlantik im beinahe starren Wasser treiben und erwarten, es könnte jeder Zeit urplötzlich ein Megalodon vor mir auftauchen und mich verschlingen.
Es passiert nichts. Ich bin der Mittelpunkt meines Universums. Ohne mich steht die Welt still. Ich setzte mich wieder.
Mein Blick schweift im reglosen Zimmer herum. Über das Fenster, draußen fährt ein Auto vorbei, zur anderen Wand. Zurück zum Fenster. Draußen fährt mein Auto vorbei.
Ich springe auf, ich will aufspringen, aber meine Beine wollen sich nicht bewegen. Ich stolpere zum Fenster und schaue hinaus. Nein, mein Auto fährt nicht, es schwimmt.
Genau genommen treibt es mehr in der Flut. Vermutlich rollt es nur, angetrieben durch den Strom, dem Anschein nach noch sehr bodenständig. Wenn ich jetzt renne, wird das Auto kaum ein paar Meter zurück legen. Ich kann mich entspannen.
In Filmen reagieren die Charaktere immer sofort. Hasten durch die Tür, überschlagen sich dabei zweimal und bringen sich im Zweifelsfall fast selbst um, ohne dass da noch eine größere Gefahr auftauchen muss. Der Klügere wartet erstmal ab, beobachtet, analysiert.
Eigentlich müsste ich nur ein bisschen schneller gehen, als das Auto rollt und ich würde es irgendwann einholen. Das Dümmste, was ich jetzt tun könnte, wäre mich in die Fluten zu stürzen. Ich bin gerade erst trocken geworden und nasse Klamotten sind scheiße.
Vielleicht bleibt es auch in ein paar Metern stehen und mein übereifriger Sprint wäre völlig umsonst.
Es ist nicht mal ein absurder Gedanke, dass jegliche Bemühungen schnellst möglich zu meinem Auto zu kommen, nur eine unnötige Strapazierung meines müden Körpers wären.
Was sollte ich denn dann überhaupt tun, wenn ich das Auto erreiche?
Es zum Anhalten bringen? Bei diesem reißenden Fluss? Andere hätten es vielleicht einen idyllischen Bach genannt, aber ich nenne es mörderisches Gewässer.
Das Wasser fließt immer noch, das Auto rollt noch immer, das ganze Spektakel beginnt mich langsam mich zu langweilen.
Ich gähne und will mich gerade wieder ins Bett legen, als plötzlich etwas in meiner Hose vibriert. Es ist mein Handy. Ich hole es raus und schaue drauf. Rick ruft mich an. Ich lasse es für ein paar weitere Sekunden klingeln, in der Hoffnung, die Menschen würden dadurch denken, ich wäre beschäftigt, dann nehme ich ab.
„Hey Rick, was geht?"
Rick war in jeglicher Hinsicht das komplette Gegenteil von mir. Er war seltsamerweise immer wach, egal wann man ihn anrief, schien zu jeder Party, die im Umkreis von 10 Kilometern stattfand eingeladen zu sein und-
„Was geht? Ich kann dir sagen, was überhaupt nicht geht! Und zwar, dass deine scheiß Karre gerade die scheiß Straße runterrollt, weil du deine scheiß Handbremse nicht angezogen hast!"
...liebt es, sich aufzuregen.
„Äh, was? Ja, ich sehe es."
„Das ist doch nicht dein fucking Ernst? Hast Du wirklich seelenruhig aus dem Fenster geschaut, während sich dein Auto draußen aus dem Staub macht?"
Eine Frage. Er hat mir eine Frage gestellt. Ich muss jetzt einfach eine Antwort geben. Einfach so lässig und lächerlich einfach und gelassen, wie er sie mir gestellt hat. Eine schnelle Antwort, die am besten noch intelligent klingt und Wörter enthält, die er vielleicht nicht einmal verstehen könnte.
„Ähm...Ich prokrastinierte."
„Willst du das immer noch als eine Krankheit darstellen?", fragt er mich, im völligen Bewusstsein darüber, dass er die Antwort darauf bereits kannte.
„Es ist krankhaft!", empöre ich mich aufgebracht.
Ich kann sein Kopfschütteln durch den Hörer fühlen.
„Du fängst jetzt lieber an mal zu präkrastinieren, ich muss dir noch was zeigen. In 'ner viertel Stunde am Staudamm. Und bring dein scheiß Auto mit!"
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