5. Das andere Behandlungszimmer
Stella stand früh auf, da sie an diesem Tag noch vor der Arbeit ihre Übungen mit ihrem Nachbarn Mr. Tanaka machen wollte.
Als sie durch das Wohnzimmer ging, sah sie durch das Fenster, dass ihr Gast draußen auf der Terrasse lag und schlief. Es war noch nicht ganz hell draußen und der Morgen war noch recht kühl, deswegen nahm sie eine Decke vom Sofa. Sie öffnete leise die Terrassentür und schlich zu ihm herüber um ihn vorsichtig zuzudecken. Er schlief friedlich weiter. Sie schaute ihn einen Augenblick an und schlich dann zurück in die Wohnung.
**
Als Steve aufwachte, war die Sonne aufgegangen. Jemand hatte ihn, während er schlief, mit einer Decke versorgt.
Er stand von dem Liegestuhl auf und streckte sich, um die restliche Müdigkeit abzuschütteln. Danach ging er vor bis zur Brüstung und ihm fiel jetzt bei Tageslicht auf, dass man hinunter in einen gepflegt angelegten Garten schauen konnte.
Er entdeckte, dass sich Stella zusammen mit einem älteren Mann in dem Garten befand und mit ihm synchron langsame Bewegungen machte. Seine Bewegungen waren etwas sicherer und zielgerichteter als ihre. Sein etwas kantiges Gesicht wirkte offen und freundlich. Beide trugen lockere Trainingskleidung.
Plötzlich wurde Steve von Michael angesprochen, der ihm eine Tasse Kaffee reichte.
„Das ist Tai Chi. Sie macht das ab und zu mit Mr. Tanaka, um sich zu entspannen", sagte Michael gut gelaunt.
„Wie lange bist du schon hier draußen? Hast du hier etwa übernachtet?"
Steve zuckte mit den Schultern. „Ich wollte noch mal frische Luft schnappen und bin dann wohl eingeschlafen."
Michael lachte: „Alles klar. Magst du ein wenig Frühstücken?"
Während Michael dies fragte, machte Stella vor Mr. Tanaka eine leichte Verbeugung und verschwand im Haus.
„Ja, gerne", sagte Steve und begleitete Michael in die Küche.
In der Küche roch es nach Kaffee und Toast. Michael hatte Antony inzwischen schon mit einer Schüssel Müsli und einem Orangensaft versorgt.
„Magst du Toast oder lieber Müsli?", fragte Michael.
„Toast bitte."
Michael schob daraufhin zwei Scheiben Brot in den Toaster und stellte ein Stück Butter, ein Glas Marmelade und Erdnussbutter auf den Tisch. Auf dem Tisch standen bereits 3 Teller und Besteck bereit.
Stella kam zur Tür herein und sagte freundlich: „Guten Morgen!"
Michael ging zu ihr herüber, küsste sie und drückte ihr ein Glas Orangensaft in die Hand. Sie setzte sich mit an den Tisch.
„Hast du schon das Lunchpaket für Antony gemacht?", fragte sie Michael.
Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie wieder aufstand, und begann es vorzubereiten. In der Zwischenzeit stellte Michael einen Teller mit fertig getoastetem Brot auf den Tisch und begann zu frühstücken. Steve tat es ihm gleich. Als Stella fertig war, setzte sie sich ebenfalls wieder an den Tisch und aß eine Kleinigkeit.
Nach dem Frühstück verschwand sie im Schlafzimmer, um sich für den Arbeitstag umzuziehen. Antony sollte seine Schultasche fertig packen.
„Stella muss bald los, weil sie den Kleinen noch an der Schule absetzt und mit der Arbeit beginnt, noch bevor die ersten Patienten in die Praxis kommen. Ich fahre etwas später los und kann dich nachher mitnehmen, wenn du magst", bot Michael an.
„Ja, das klingt gut."
Als sie schließlich losfuhren, lernte Steve, dass Michael ein recht unkonzentrierter Fahrer war, der es anscheinend genoss, seine Lieblingsmusik laut laufen zu lassen. Die Musik war mit nichts vergleichbar, was Steve bisher gehört hatte. Sie war zu laut und aggressiv für seinen Geschmack.
Steve fühlte sich angespannt und konnte nicht davon ablassen, den Verkehr selbst mit zu beobachten. Er musste Michael schließlich beim Parken in die Lücke hinein winken.
Sie waren früh genug angekommen, sodass Michael pünktlich seinen Dienst antreten konnte und Steve noch ein wenig Zeit hatte, bevor er sich in Stellas Praxis melden musste. Er wusste nicht so recht, was er in der Zeit anfangen sollte, und beschloss jetzt schon in die Praxis zu gehen.
Am Empfang wurde er von Dr. Williams begrüßt, die ihm sagte, dass Stella gerade eben erst mit der Visite angefangen hatte und noch eine Weile unterwegs sein würde. Er dürfe sich aber dennoch bereits in den Wartebereich setzen. Dort suchte er aus dem Zeitschriftenstapel wieder die aktuelle Tageszeitung heraus und las die Schlagzeilen.
Ein großer Teil der Titelseite war von der aktuellen Wirtschaftslage bestimmt.
Es gab einen Artikel über die neuesten Ankündigungen von Stark Industries. Er las sich diesen Artikel durch und lernte, dass der Konzern inzwischen wohl durch Tony Stark geleitet wurde.
Ein weiterer Artikel berichtete davon, dass sich Vertreter von Hammond International eine leer stehende Fabrik in einer Gegend angesehen haben, die sich noch immer nicht von der vergangenen Wirtschaftskrise erholt hatte, und mutmaßte darüber, welche Produkte dort wohl hergestellt werden könnten. Eine offizielle Bestätigung durch die Konzernleitung gäbe es noch nicht.
Nach einer Weile sah Steve Stella durch einen Gang auf die Praxis zugehen. Sie war pünktlich mit der Visite fertig geworden. Sie blieb vor dem Wartebereich stehen und begrüßte ihn. Laut der Uhr an der Wand war es zwar noch nicht 10 Uhr, aber sie führte ihn dennoch bereits in das Behandlungszimmer.
Sie gingen in ein anderes Zimmer als gestern. Es hatte eine ähnliche Größe und auch hier lief man beim Hereinkommen zunächst direkt auf einen Schreibtisch zu. Davor standen zwei Besucherstühle und dahinter ein Bürostuhl. Den Tisch zierten neben dem Computer ein paar Fotos von Stellas Familie. Statt der Behandlungsliege gab es eine Sitzgruppe, welche aus einem kleinen Sofa, einem Couchtisch und zwei bequemen Sesseln bestand. In der gegenüberliegenden Ecke ragte eine große Pflanze in den Raum. Daneben lagen ein übergroßer Gummiball und zwei zusammengerollte Schaumstoffmatten. Insgesamt war dieser Raum deutlich gemütlicher eingerichtet. Alles schien darauf ausgerichtet zu sein, dass sich der Patient hier wohlfühlen soll. Auf dem Couchtisch standen eine Kanne mit duftendem Tee, zwei Tassen und ein Schüsselchen mit Kandiszucker.
Er hatte schon geahnt, dass die Ärztin ihn heute zu solch einer Sitzung beordert hatte, und sprach jetzt aus, was er dachte: „Wird das heute so eine Behandlung, bei der ich auf der Couch liegen soll?"
Stella lächelte ihn freundlich an: „Du darfst auf der Couch liegen. Aber die meisten ziehen es vor, sich einfach hinzusetzen. Such dir einen Platz aus!"
Er gehorchte und setzte sich auf das bequeme Sofa. Sie nahm einen Stift und einen Notizblock vom Schreibtisch und setzte sich dann auf einen der Sessel.
„Magst du Tee?"
Er nickte und sie füllte beide Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit.
„Zucker?"
„Nein, danke."
Sie schob ihm seine Tasse herüber und blickte ihn geduldig an.
Steve wollte wissen, worauf sie mit dieser Sitzung abzielte. „Hältst du mich für verrückt?"
Sie lehnte sich entspannt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, ich halte dich nicht für verrückt. Aber du bist ein recht ungewöhnlicher Fall und das macht mich neugierig."
Er nickte nachdenklich.
„Du solltest vielleicht vorher wissen, dass alles, was du hier sagst, in diesem Raum bleibt."
„Verstehe."
Ihr Blick wirkte aufrichtig, aber die Situation verunsicherte Steve immer noch.
„Nach unserem Gespräch gestern beim Mittagessen und dem, was Michael über dich sagte, habe ich mir mal ein Geschichtsbuch geschnappt und mich etwas über Captain America belesen."
Er horchte auf und war gespannt, worauf sie jetzt hinaus wollte.
„Von dem, was wir über ihn wissen gibt es einige Übereinstimmungen mit deiner Akte. Ihr habt den gleichen Namen, ihr habt in der gleichen Einheit gedient, ihr seht gleich aus. Aber er ist verschollen und du hast dich irgendwie unglaublich jung gehalten. Wie kann das sein? Bist du er?"
Er sah sie an und zuckte mit der Schulter. Er war von Anfang an davon ausgegangen, dass sie die Antwort doch schon längst kennen müsste. Doch so, wie sie sich gab, war sie wohl genauso ahnungslos in diese Situation gestolpert, wie er selbst.
„In erster Linie bin ich Steve Rogers."
„Ja, natürlich. Aber jeder nimmt im Leben einen bestimmten Platz ein. Was war deiner, bevor du hierher gekommen bist?"
„Wenn ich dir jetzt einfach sagen würde, dass ich damals Captain America war, würdest du mir denn glauben?"
Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, was sie wohl gerade denken mag. Sie schien kurz zu überlegen, was sie nun als Nächstes fragen sollte.
„Kannst du mir eine Geschichte von damals erzählen?"
„Du möchtest eine alte Kriegsgeschichte hören?"
Sie nickte. „Irgendwas, an das du dich noch gut erinnerst."
Er überlegte, was er ihr erzählen könne, was wohl nicht in den Geschichtsbüchern stand. Ihm fiel dann eine Begebenheit ein, die er gefühlt erst vor wenigen Wochen erlebt hatte. Er nippte an seinem Tee und begann dann zu erzählen.
„Wir waren gerade dabei eine feindliche Position zu erstürmen. Es gab eine Explosion, bei der ein deutscher Lkw umher geschleudert wurde und Feuer fing. Als ich auf den Wagen zuging, flohen die meisten Insassen und ließen einen ihrer Kameraden eingeklemmt zurück. Das war ein ganz junger verängstigter Kerl und ich dachte, dass das Feuer ihn umbringen würde."
Er blickte kurz zu ihr auf. Sie hatte sich leicht nach vorne gelehnt und hörte gebannt zu.
„Ich befreite ihn aus dem Führerhaus und brachte ihn in eine sichere Entfernung zu dem Wagen. Danach stand er zunächst regungslos vor mir und traute sich nicht, sich zu bewegen. Ich musste ihm mehrfach Handzeichen geben, damit er endlich abhaute. Er nickte dann und rannte seinen Kameraden hinterher."
Stella saß nun nachdenklich da. Etwas an seiner einfachen Geschichte hatte sie bewegt.
Sie holte schließlich Luft und fragte: „Warum hast du ihn laufen lassen?"
Steve zuckte mit den Schultern. „Er gehörte nicht zu den Leuten, hinter denen wir eigentlich hinterher waren. Unser Missionsziel war es eine Spezialeinheit zu ergreifen. Er war ein einfacher Soldat und seinem Blick nach nicht mal aus Überzeugung."
„Weißt du noch, wann das war?"
„Ja!" Er nannte ihr das genaue Datum, welches sie sich notierte.
„Wie hat der Mann ausgesehen?"
Steve erinnerte sich noch ziemlich genau an ihn, wusste aber nicht so recht, wie er ihn mit Worten eindeutig beschreiben soll.
Er deutete auf den Notizblock und fragte: „Darf ich?"
Sie riss ihr Blatt von dem Block ab und reichte ihm den Rest davon sowie einen Stift. Er nahm sich ein paar Minuten, um ein Porträt des Mannes zu zeichnen, und reichte ihr dann den Block zurück.
Sie machte große Augen. „Du kannst unglaublich gut zeichnen!"
„Danke, ist ein Hobby von mir."
Sie schaute das Porträt intensiv an und fragte schließlich: „Hast du vielleicht sogar sein Namensschild noch im Kopf?"
Er musste kurz überlegen.
„A. Ziegler."
Sie notierte sich den Namen.
„Darf ich das Bild behalten?"
„Ja, klar!"
Stella saß eine Weile schweigend da, sah Steve an und schien nachzudenken, während sie langsam ihre Teetasse leer trank.
„Wir knüpfen an das Gespräch hier noch mal an", kündigte Stella an und schaute auf die Uhr. „Aber jetzt muss ich dich leider erst mal fortschicken. Der nächste Termin wartet."
Steve trank noch schnell seinen Tee aus und verabschiedete sich von Stella. Beim Rausgehen verabredete er noch für später einen Treffpunkt mit ihr. Die Zeit bis Stellas Schichtende überbrückte er schließlich mit einem langen Spaziergang.
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