13. Der Duft
Nachdem Stella vom Einkaufen heimkam und die Einkäufe verstaut hatte, gingen Michael und Steve nach draußen, um zu laufen.
Antony ging mit dem Nachbarsjungen spielen. Mr. Tanaka war in seinem Garten und hatte versprochen ein Auge auf die Kinder zu haben. Stella wusste, dass sie sich auf ihren Nachbarn verlassen konnte, und wollte ein wenig Schlaf nachholen, bevor der Besuch kommen würde.
Sie beschloss, ein Nickerchen auf der Terrasse zu machen, da sie die Luft und das Meeresrauschen genießen wollte. Gleichzeitig wäre sie dort im Falle eines Falles ebenfalls in der Nähe der Kinder.
Sie spannte einen Sonnenschirm über den Liegestühlen auf und cremte sich mit Sonnenmilch ein. Sie legte sich auf einen der Liegestühle, schloss die Augen, lauschte dem Meer und schlief bald ein.
Sie war erneut in der Straße in New York.
Es lagen Trümmer herum und Staub lag in der Luft.
Auf der anderen Straßenseite sah sie wieder den seltsamen Mann. Er hielt dieses Mal ein Zepter, in welches ein blau leuchtender Stein eingelassen war. Sein Blick war siegessicher.
Bei ihm war ein dunkel gekleideter Bogenschütze, dessen Gesicht im Schatten verborgen war.
Einen Wimpernschlag später sah sie, dass der Schütze auf sie zielte.
Der Mann mit dem Zepter war aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Plötzlich spürte sie seinen Atem in ihrem Nacken.
„Wer bist du?", fragte er mit einer eindringlichen Stimme, die sie erschauern ließ.
Stella schreckte aus dem Schlaf auf.
Ihr Herz schlug wie wild und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und sich zu vergewissern, dass sie nun wieder im Hier und Jetzt war. Sie war in Sicherheit auf ihrer Terrasse.
Ihre Kopfschmerzen waren nun wieder stärker geworden und sie tastete an ihre Nase, die aber dieses Mal nicht blutete.
Sie stand vorsichtig auf, um im Bad die andere Hälfte der Ibuprofen-Tablette von heute Morgen einzunehmen. Auf dem Weg dorthin wurde ihr schlecht und sie schaffte es rechtzeitig in das Bad, um sich zu übergeben. Als sie sich sicher war, dass dies vorbei war, ging sie zum Waschbecken und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Sie nahm die Tablette ein, setzte sich eine Weile auf den Rand der Badewanne und konzentrierte sich darauf, ruhig durchzuatmen.
Plötzlich klopfte es an der Schlafzimmertür.
Stella verließ das Bad und ging durch das Schlafzimmer, um zu schauen, wer dort war.
Es war ihr Dad. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen gewesen, weil Antony draußen spielte und wieder hereinkönnen sollte. Stellas Eltern hatten ohnehin eigene Schlüssel für die Wohnung, weil sie sich regelmäßig um Antony kümmerten.
„Hallo Dad! Ihr seid schon da!", begrüßte Stella Kenai.
„Hallo Stella! Ja, wir sind ein bisschen früh dran. Ist alles okay bei dir?" Kenai blickte sie besorgt an.
„Ja, es ist alles gut."
„Du siehst müde aus", hakte er weiter nach.
„Es ist alles gut", wiederholte sie und setzte ein Lächeln auf.
Kenai schaute immer noch skeptisch, ließ aber für den Augenblick davon ab, weitere Fragen zu stellen.
Stella ging in das Wohnzimmer, um ihre Mutter und ihre Schwägerin zu begrüßen.
Susan blickte Stella ähnlich besorgt an, wie zuvor ihr Vater und bekam auf ihre Nachfragen die gleiche Antwort.
Stella ließ die Drei in der Küche Platz nehmen und bot ihnen Kaffee und Tee an. Aus dem Vorratsschrank holte sie eine Schachtel Kekse, um diese ebenfalls anzubieten.
„Stella, ich wollte dich gestern noch nach deiner Meinung zu unserer Duschgelserie fragen, habs aber dann doch vertrödelt. Deswegen dachte ich mir, wir machen das heute einfach zu dritt", begann Susan zu erklären.
„Worum geht es genau?"
„Unser Parfümeur hat mehrere Varianten zusammengestellt, die seiner Meinung nach gute Herrendüfte wären und auf dem Markt auch gut ankämen. Wir wollen davon aber tatsächlich erst mal nur drei anbieten."
Susan baute auf dem Küchentisch eine ganze Reihe von nummerierten Duftproben auf. Dazu stellte sie Schälchen mit Kaffeebohnen, damit man zwischendurch den Duft neutralisieren konnte.
„Und wir sollen einfach nach unserem persönlichen Geschmack gehen?", versicherte sich Stella.
„Ja, das war die Idee. Wir sind drei Frauen, mit drei unterschiedlichen Stilen. Was der Markt dann darüber denkt, kriegen unsere Marktforscher dann schon noch raus."
Stella begann damit einen Duft nach dem anderen auszuprobieren.
Der erste war ihr zu herb und hatte einen Hauch Patschuli, der ihr nicht behagte.
Der zweite Duft war ihr zu süßlich und aufdringlich. Genau wie den ersten Duft empfand sie diesen als erdrückend.
Den dritten Duft fand sie auf Anhieb perfekt. Sie probierte noch die restlichen Düfte aus, kam dann aber zu diesem zurück.
Sie assoziierte den Duft mit dem Wald, der sich auf den Ländereien ihres Stammes befand und in den sie besonders als Kind unzählige Male durchstreift hatte. Im Wald hatte sie sich stets sicher gefühlt und deswegen verband Sie diesen Duft mit Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Er weckte Vertrauen in ihr und bewirkte, dass sie sich einen Moment lang entspannen konnte. Der Duft roch jedoch nicht genau wie der Wald. Er war holzig und es war eine frische Note enthalten, so als ob man auf einer Lichtung an einer einzelnen Blüte schnuppern würde.
„Der ist es, der ist perfekt!", sagte sie schließlich und Susan notierte die Nummer.
Michael und Steve kamen vom Laufen zurück und brachten Antony mit herein. Sie gesellten sich zu der Runde in der Küche.
„Steve, das hier ist meine Zwillingsschwester Nicole. Nicole, das ist Steve", sagte Michael.
Steve reichte Nicole höflich die Hand.
Nicole hatte zwar ähnliche Gesichtszüge wie Michael, aber dunkles Haar und dunkle Augen.
Ihren Augen sah man an, dass sie Steve offensichtlich für attraktiv hielt, und sie lächelte ihn an, während sie einen Moment lang nicht davon ablassen konnte, ihn von Kopf bis Fuß zu mustern.
„Was macht ihr hier?", wollte Michael schließlich wissen.
„Wir suchen Düfte für die Herrenduschgelreihe aus", erklärte seine Schwester.
„Aber ihr seid Frauen", stellte Michael fest. „Sollten Herrendüfte nicht von Männern ausgesucht werden?"
„Und für wen wollt ihr gut riechen?", versuchte sie ihren Bruder zu provozieren.
Michael zuckte mit den Schultern.
„Doch sicher nicht für eure Kameraden im Stützpunkt, oder?"
Michael grinste. „Ich denke der Typ, der bei mir im Jet mitfliegt, freut sich auch, wenn ich gut rieche statt zu stinken."
„Für dich gibt es eine ganz einfache erste Maßnahme:", begann Nicole und zeigte auf Michaels vollgeschwitztes T-Shirt. „Geh erst mal überhaupt duschen!"
„Wenn du aufhörst, Steve mit deinem Blick auszuziehen!"
Nicole verschränkte ihre Arme. „Vielleicht für einen Moment. Denn jetzt suche ich erst mal meinen Lieblingsneffen, ich hab noch was für ihn!", lachte sie.
Michael schüttelte den Kopf und verschwand im Bad.
Steve lehnte an der Küchentheke und beobachtete das Geschehen mit einem Schmunzeln im Gesicht.
Nicole holte ein kleines Spielzeugauto aus ihrer Handtasche hervor und schenkte es Antony. Antony freute sich darüber und bedankte sich.
Als Antony aus dem Raum war protestierte Stella: „Du sollst ihm doch nicht ständig etwas schenken!"
„Was denn? Ich dachte, das sei das Vorrecht von Tanten?", sagte Nicole unschuldig.
Susan schüttelte den Kopf und grinste. „Nein, da irrst du dich, das ist das Vorrecht der Großeltern!"
„Einigen wir uns darauf, dass das alle Verwandten dürfen, außer den Eltern selbst?"
„Abgemacht!"
Stella rollte mit den Augen, musste aber auch schmunzeln.
Nachdem Michael mit dem Duschen fertig war, kehrte er in die Küche zurück.
Nicole und Susan forderten nun die Männer auf, die Düfte zu testen, womit sie auch gleich anfingen.
Michael gefiel der zweite Duft am besten. Kenai und Steve fanden jeweils einen der drei von den Frauen ausgewählten Düfte gut.
Kenai und Susan berieten sich kurz über die Mehrkosten, die die Produktion einer zusätzlichen Variante bedeuten würde, und Susan entschied, dass es einfach vier Varianten geben wird.
Kenai schlug vor, dass sich alle gemeinsam Pizza bestellen könnten, und alle waren damit einverstanden.
Während sie auf die Pizza warteten, setzte sich Kenai zusammen mit seiner Tochter auf die Terrasse, um in Ruhe mit ihr sprechen zu können. Er sprach in ihrer Stammessprache mit ihr, damit sie sicher sein konnte offen reden zu können.
„Was bedrückt dich, Chenoa?"
„Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur ein wenig schlecht geschlafen. Das gleicht sich diese Nacht bestimmt wieder aus."
„Hat dich noch der Busunfall bedrückt?"
„Nein."
Er fasste sie an den Händen und sah ihr in die Augen. „Was war es dann?"
„Nichts."
Er holte Luft. „Wusstest du, dass deine Großmutter im Moment recht viel träumt?"
„Ja, das hattest du erwähnt."
„Wie steht es mit dir?"
„Ich habe nicht diese Art von Träumen. Es war nur ein Albtraum. Wahrscheinlich habe ich in letzter Zeit zu viel ferngesehen."
„Was für ein Albtraum?"
Stella überlegte kurz, ob sie wirklich ihren Traum beschreiben sollte. „Ich habe mich wahrscheinlich nur an die Bilder von 9/11 zurückerinnert."
„Und?"
„Da gab es noch einen Kerl, der ein Schurke aus einem Batman-Film sein könnte. Der Riddler vielleicht."
Kenai hob eine Augenbraue und blickte seine Tochter prüfend an.
Diese wurde ein wenig ungeduldig. „Da gibt es nicht mehr dazu zu sagen. Es war nur ein Traum!"
Kenai lenkte resigniert ein: „Okay, wenn du das sagst, muss ich dir glauben. Aber du weißt, dass du mit mir und deiner Mom über alles reden kannst."
Stella nickte und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Michael und Nicole warteten im Wohnzimmer auf die Pizza und zogen sich gegenseitig auf.
Steve war mit Susan in der Küche und half ihr, schon einmal den Tisch zu decken.
„Ich bin ein bisschen neugierig. Wie kommt es, dass euer Konzern sowohl Turbinen als auch Duschgel verkauft?", fragte Steve.
„Wir haben ihn in zwei große Bereiche unterteilt, die fast eigenständig agieren. Mein Mann hat den Technik-Bereich unter sich und ich den Kosmetik und Modebereich. Auch wenn es ein wenig nach altmodischer Rollenverteilung klingt, machen wir beide das, was wir können", erklärte Susan. „Und Nicole arbeitet seit ein paar Jahren für mich als Mode-Designerin."
Nach einer Weile klingelte der Pizzabote an der Tür. Kenai öffnete ihm und bezahlte die Rechnung.
Er brachte danach die Pizza in die Küche und alle folgten ihm, um sich an den Tisch zu setzen.
Während des Essens ergriff Nicole das Wort.
„Neulich hatte ich endlich mal wieder ein Date. Ich glaube, er könnte der Richtige sein."
„Wer ist denn der Glückliche?", fragte Susan.
„Er ist Raketenwissenschaftler bei der NASA, glaube ich. Sein Name ist Eduardo. Ich habe ihn im Café am Strand kennengelernt. Er ist so ein richtig romantischer Typ und total rücksichtsvoll", schwärmte sie.
„Ist das der Kerl, wegen dem Dad neulich so schlecht gelaunt war?"
„Wann ist Dad mal nicht schlecht gelaunt? Das Erste, was Dad zu Eduardo einfiel, war: Er soll zurück nach Mexiko gehen, denn er würde guten Amerikanern die Jobs wegnehmen. Tss... Er macht einen auf Oberpatriot und übersieht dabei, dass Spanisch eben nicht nur in Mexiko gesprochen wird. Eduardo kommt aus Spanien. Und er macht einen Job, den eben nicht jeder Hinterwäldler kann. Die Welt wächst halt immer weiter zusammen, das muss der sture Bock auch mal akzeptieren."
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Er ist irgendwie das genaue Gegenteil zu Kenai. Während unser Dad damals bestimmt mit wehenden Fahnen nach Vietnam gezogen ist, haben Susan und Kenai sicher an den Protestbewegungen teilgenommen."
Kenai schüttelte den Kopf.
„Das stimmt nur halb. Susan hat protestiert. Ich wurde eingezogen und habe nicht verweigert. War keine schöne Zeit, hielt für mich aber nicht bis zum Ende des Krieges an. Ich wurde vorzeitig mit einem Krankentransport heimgebracht."
Er hob sein rechtes Hosenbein an. Darunter konnte man erkennen, dass er ein künstliches Bein hatte. Es war aus einem Kunststoff gefertigt, welcher zwar farblich an seine Haut angeglichen war, aber durch seine Glattheit eindeutig als unecht erkannt werden konnte.
Steve war erstaunt, dass man an Kenais Gang nichts von dem künstlichen Bein bemerkte.
Michael war jedoch schneller damit seine Frage zu stellen. „Wie ist das passiert?"
„Mein Team hatte die Aufgabe, das Terrain auszukundschaften, bevor der Rest der Truppe nachrücken konnte. Eines Tages haben wir quasi entdeckt, dass sich auf unserem Weg eine Sprengfalle befand", sagte Kenai trocken.
„Oh Sch...", begann Michael, bekam aber Stellas Ellenbogen und ihren strengen Blick zu spüren, bevor er aussprechen konnte. „Oh schlimm, wollte ich sagen."
Steve deutete auf Kenais Bein. „War das dann das erste Produkt, welches du verkauft hast?"
Kenai nickte. „Ja. War damals noch nicht ganz so ausgereift, wie heute, aber ich hatte die richtige Motivation dafür."
Er sah Susan an und in diesem Augenblick spürte man, dass die Liebe zwischen den beiden noch genauso war, wie vor Jahrzehnten.
„Es gab eine Frau in unserer Stadt, die ich gerne zum Tanzen ausführen wollte", fügte er lächelnd hinzu.
Steve freute sich mit den beiden.
Als Stella ihn ansah, erkannte sie für einen kurzen Augenblick noch etwas anderes in seinem Blick. Es war Schmerz, aber auch so etwas wie Neid.
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