Wasser | Tag 2&3 | Teil 1
»Tu es oder stirb«
Der Morgen war noch grau und trist, als Talvi Romanova aufwachte. Auch heute würde die Sonne wohl kaum ihren Glanz zeigen. Müde setzte sich Talvi auf. Sie hatte nicht gut geschlafen. Wie denn auch, wenn zwanzig andere Kinder darauf sind, mich zu töten.
Langsam regten sich ihre Sinne. Am Füllhorn hatte sie eine Plastikplane und einen harten Laib Brot ergattert. Mehr war nicht drin gewesen. Wäre sie länger dort geblieben, hätte es ihr womöglich das Leben gekostet. Jetzt aber bereute sie es fast ein bisschen. Talvi hatte weder Wasser noch nennenswerte Nahrung, die über mehrere Tage reichen würde, geschweige denn eine Waffe um sich zu verteidigen.
Ein plötzliches Knacksen liess sie abrupt aufhorchen. Was war das?!
Die Höhle, in welcher sie sich verkrochen hatte, würde ihr vielleicht vorübergehend Schutz geben, jedoch nicht für lange Zeit. Der Eingang war riesig und die Steine hallten jede ihrer Geräusche und Bewegungen nieder.
Leise packte sie ihr Zeug zusammen.
„Ay!", sofort presste sie die Hand auf den Mund. Aus der Handinnenfläche floss ein schmaler Blutfluss, genau dort, wo der spitze Stein ihr in die Haut geschnitten hatte. Talvi unterdrückte den Schmerz und konzentrierte sie auf die Geräusche draußen.
„Habt ihr das gehört?"
„Ja, da war wirklich etwas!"
„Von wo kam es?"
Gehetzt eilte Talvi aus der Höhle, zuvor steckte sie sich den Stein in die Tasche, mit welchem sie sich geschnitten hatte. Früher oder später könnte er ihr als Waffe nützlich sein.
Während sie sich hinter einem Stein zu verstecken versuchte, wurden die Schritte und Rufe immer lauter. Schliesslich standen sie unmittelbar vor der Höhle. Talvi konnte ihre Anwesenheit spüren, so nah waren sie.
„Hier war jemand", sagte eine Jungenstimme.
„Schnellmerker", entgegnete eine bissige Mädchenstimme.
„Jetzt ist da aber niemand mehr."
Talvi erschrak. Sie würde die Stimme immer erkennen. Das war Ronald Greenwood, ihr Distriktpartner. Wieso kooperiert er mit den Karrieros?!
„Gehen wir weiter", meinte eine dritte Jungenstimme. Talvis Herz pochte wild, sie wagte kaum zu atmen. Sind das überhaupt Karrieros?, kam ihr plötzlich der Gedanke. Wenn sie sich nicht ganz irrte bestanden die Karrieros aus vier Mädchen und einem Jungen, diese Bande hier bestand jedoch vollkommen klar aus drei Jungen und nur einem Mädchen.
„Nein. Sucht, wenn da gerade eben noch jemand war, wird er oder sie sich nicht in Luft aufgelöst haben", befahl die Mädchenstimme spitz.
Talvi wurde bewusst, dass sie jetzt rennen musste. Leise zählte sie bis drei, dann sprang sie auf und rannte davon. Blindlings sprang sie über Steine und wich großen Felsbrocken aus. Ihr einziges Ziel war, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Hinter sich hörte sie Stimmen laut werden.
„Hinterher", brüllte eine Jungenstimme. Hektisch hielt Talvi ausschau nach einem Versteck. Ein Rauschen wurde immer lauter. Talvi vermutete, einem Bach oder Flusss näher zukommen. Ihre Vermutung bestätigte sich, als sie hinter einem massiven Fels hervorrannte. Abrupt blieb sie stehen. Ein Fluss, sie hatte recht gehabt. Sehr zu ihrem Verhängnis war die Strömung so stark, dass Talvi keine Chance hatte, ihn gefahrlos zu überqueren.
„Wir haben sie", johlte die Stimme einer ihrer Verfolger.
„Hey, Ronald, ist das nicht deine kleine Distriktpartnerin?", fragte das Mädchen hämisch. Jetzt erst sah Talvi, wen sie vorerst für Karrieros gehalten hatte. Die beiden aus Distrikt 10 und der Junge aus 12. Ronald Greenwood stand belanglos daneben und starrte Talvi geschockt an. Einen Moment lang setzten ihre Sinne aus. Dann blickte sie ihren Distriktpartner flehentlich an. Er mochte sie, das wusste sie. Während ihrem Aufenthalt im Kapitol hatten sie sich sehr gut verstanden. Vielleicht verschont er mich? Doch der Gedanke klang viel zu absurd um wahr sein zu können.
„Sie gehört dir, Ronald", sagte das Mädchen aus Distrikt 10. Wenn sich Talvi recht erinnerte, war ihr Name Victoria. Feixend sah sie zu, wie Ronald langsam einen Schritt auf Talvi zumachte. Doch er schien zu zögern. Das gab Talvi Hoffnung.
„Tu es oder stirbt." Victorias Stimme war scharf wie eine gewetzte Klinge. Ronald zog sein Messer. Instinktiv wich Talvi einen Schritt zurück. Dabei gelangten ihre Fersen ins Wasser. Talvi wollte würdevoll sterben, das hatte sie sich geschworen, sie würde nicht auf Knien um ihr Leben betteln. Dennoch warf sie Ronald einen verletzten Blick zu. Sie konnte es kaum glauben, dass er sie nun töten würde.
„Beeil dich, Ronald, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit", sagte der Junge aus Distrikt 10 und kam ebenfalls näher. Ronalds Augen waren glasig. Er machte nicht einmal Anstalten dazu, Talvi zu töten.
„Das geht mit jetzt zu lange", der Junge aus Distrikt 10 stiess Ronald zur Seite und hob seinen Speer.
Dann ging alles sehr schnell. Ronald stach sein Messer ins Bein des Jungen aus Distrikt 10. Er schrie auf und liess seinen Speer fallen. Talvi wusste nicht genau, was sie leitete, doch ohne einen weiteren Blick auf das Szenario zu werfen, sprang sie in die auftreibende Gischt des Flusses.
Dann ertönte die Kanone.
Der Knall liess sie aufschrecken. Luna Baker und Paula Lotus sahen erschrocken auf. „Hast du das gehört?", fragte Luna geschockt.
„Jeder hat das gehört", antwortete Paula Lotus und legte Luna beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Lass und bitte zurückgehen." Luna Baker sah sich unsicher um.
„Wir haben immer noch kein Wasser gefunden", erinnerte Paula sie.
„Doch, das haben wir sehr wohl", entgegnete Luna. „Nur war es grün verfärbt."
„Und genau deswegen haben wir es auch nicht mitgenommen. Lass uns weiter Flussabwärts suchen, vielleicht finden wir eine Stelle, an der das Wasser nicht verfärbt und giftig ist", drängte Paula.
„Wir sind uns doch gar nicht sicher, ob das Wasser wirklich giftig ist, oder ob es nur ein Trick der Spielemacher ist." Luna Baker verschränkte stur die Arme vor der Brust.
„Du kannst es gerne kosten, dann haben wir bestimmt schnell Gewissheit, wie giftig das Wasser ist." Paula Lotus verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. Einen Moment lang starrten sich die Mädchen böse an.
„Gut, dann geh alleine weiter. Ich gehe zurück. Drei Stunden sind wir jetzt unterwegs und ich kann nicht mehr. Meine Füße sind wund und meine Beine fühlen sich an wie Pudding", sagte Luna schliesslich und drehte sich schwungvoll um. Paula sah ihr einen Moment lang hinterher. Dann seufzte sie und rief: „Gut, du hast gewonnen. Aber wenn die anderen fragen, weshalb wir kein Wasser haben, erklärst du es ihnen, nur dass das klar ist."
Joshua Lohe, Gwen Kazoo und Lenja Kulikov erwarteten sie bereits. „Meine Güte, wie lange habt ihr gebraucht", sagte Lenja sofort, als sie zur Höhle kamen, in welcher sie die Nacht verbracht hatten.
„Habt ihr Wasser?", wollte Joshua Lohe sofort wissen. Paula warf Luna einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Wir vermuten dass das Wasser vergiftet ist. Habt ihr etwas gefunden?"
„Nein. Ohne Wasser sind wir aufgeschmissen. Wir haben nur noch das hier." Joshua hob eine zur Hälfte geleerte Literflasche.
„Wir finden schon noch welches", sagte Gwen optimistisch, ehe sie zurück in die Höhle ging. Lenja folgte ihr.
„Habt ihr die Kanone auch gehört?", fragte Joshua.
„Ja. Luna wäre fast die Wasserflasche aus der Hand gefallen", kicherte Paula. Luna boxte ihr freundschaftlich gegen die Schulter.
„Wer das wohl war", murmelte Joshua.
„Wir werden es heute Nacht erfahren", sagte Lenja, die nun wieder aus der Höhle kam.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, raschelte es plötzlich. Gwen Kazoo schaute sich erschrocken um. Paula und Luna hatten sich in der Höhle schlafen gelegt, während Joshua und Lenja sich nochmals auf Wassersuche begeben hatten. Sie war also völlig allein. Bitte sei ein Tier, bitte sei ein Tier, dachte sie sich und bewaffnete sich mit einem Messer. Ich wünschte ich hätte einen Bogen. Aber der liegt bei den Karrieros. Welch sinnlose Verschwendung.
Ein weiteres Rascheln, dann fiel irgendwo ein Stein zu Boden. Gwen drehte sich hektisch um.
Und dann waren da nur noch Sterne.
Fortsetzung im nächsten Kapitel...
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