Zwei
Die Müdigkeit hatte sich als ungebetener Gast in meine Bewegungen geschlichen. Ich stützte mein Kinn auf meinem Handballen ab und seufzte. Weit und breit war kein Festland zu sehen, schon seit dem Sonnenaufgang nicht mehr. Die Sonne, die vergebens die dicke Wolkendecke zu durchbrechen versuchte, war schon seit Stunden auf dem Weg zur Erde zurück, um dort im Meer zu ertrinken. Mit ihr schwand auch die Wärme.
Ich wünschte mir die heißen Sommertage vor Nuadors Küste zurück. Die Brise am Wasser hatte das Wetter erträglich gemacht. Nach etlichen Wochen der prallen Sonne kam mir das frische Herbstklima auf dem Meer vor den Hochlanden bitterkalt vor. Es war für mich unvorstellbar, dass Hochländer es ertrugen, hier zu leben. Ich mochte gar nicht erst an die hiesigen Winter denken.
Der Wind hatte vor einigen Stunden nachgelassen und meine Fahrt verlangsamt. Hin und wieder half ich mit dem Ruder nach, doch ich wusste, dass ich meine Kräfte sparen musste. Vor allem, wenn ich bloß alle paar Stunden zum Wasserbeutel greifen und einen Schluck trinken durfte, um genügend Reserven bis zum Anlegen an der Insel zu haben.
Ich wandte den Blick nach Steuerbord und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab. Der Himmel verschwamm dort mit dem Meer, als bestünden beide aus Wasser. Blinzelnd entspannte ich meine Augen wieder und sah hinunter auf meinen Kompass. Ich rief mir die Landkarte ins Gedächtnis, die ich mir auf der Fahrt von Nuador zu den Hochlanden in der Kajüte meines Vaters eingeprägt hatte. Insec lag genau in meinem Süden.
Leider nicht weit genug im Süden, dachte ich, als ich in der Dämmerung dunkle Wolken im Westen aufziehen sah. Sie brachten ihren treuen Begleiter, den Wind, mit sich, der das Meer aufstachelte. Aus Kräuselwellen wurden schnell größere, deren Kämme zu brechen begannen. Um das Segelboot herum bildeten sich Schaumköpfe.
Beunruhigt beobachtete ich den Himmel. Vor mir lag noch mindestens ein halber Reisetag. Ein aufziehender Sturm war das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte.
Seyro, der Gott der Wässer, schien meiner nicht gnädig zu sein. Das Unwetter zog schneller vom offenen Meer Richtung Hochlande, als ich anfangs gedacht hatte. Einem stillen Ruf folgend zogen die schwarzen Wolken über den Himmel und tauchten alles darunter in Dunkelheit. Am Horizont zeigten sich noch ein paar grelle Lichtfetzen, dort, wo die Wolken zum Zerreißen dünn waren.
Wellen schwappten gegen mein Boot und bespritzten mich mit eiskaltem Seewasser. Meine durchnässten Ärmel saugten sich an meinen Unterarmen fest. Der Geschmack von Salz breitete sich auf meinen Lippen aus und der Wind riss mit seiner unsanften Klaue an meinen kinnlangen Haaren.
Ein poesiebegeistertes Mädchen aus dem Süden der Hochlande hatte mir einmal ein Gedicht vorgelesen, in dem der Wind als der liebkosende Verehrer eines jeden Reisenden beschrieben wurde. Diese Ansicht hatte ich noch nie geteilt und würde es auch nicht. Der Wind war wie ein Fremder zu behandeln: War er gut oder feindlich gesinnt, er sollte immer im Auge behalten werden.
»Eh!«, entfuhr es mir aufgebracht, als eine Welle an Steuerbord ins Boot brach. Ich sprang auf und klammerte mich am Baum fest. Das Flattern des Segels war unangenehm laut in meinen Ohren. Unter meinen Füßen schwankte das Boot gefährlich von rechts nach links und wieder zurück.
Der Wind schoss in das Segel, sodass das Boot zu kentern drohte. Schnell schlüpfte ich mit meinen Füßen in die Ausreitgurte, um während meines nächsten Manövers nicht ins Wasser zu fallen. Ich lehnte mich rücklings über Bord, um das Segelboot mit meinem Gegengewicht aufzurichten.
Mir war, als ärgerte mich das Meer mit Absicht, als mir eiskaltes Wasser in den Rücken spritzte. Ich versteifte mich und widerstand dem Drang, ins Boot zu fliehen. Schauer liefen über meinen Rücken und meine Arme.
Meine Liebe zum Meer bekam an diesem Abend ein blaues Auge verpasst. Sie mochte zu den schönsten Dingen in meinem Leben gehören, aber in diesem Moment verfluchte ich die stürmische See.
Was würde mein Vater nur höhnen, könnte er mich so sehen. Ich wollte ihm nicht beweisen, dass ich nicht hätte fahren sollen. Ich hatte vom besten Seemann der fünf Weltmeere gelernt und schlimmere Stürme bezwungen. Ich würde auch diesmal siegen.
Mit neuer Willenskraft zog ich mich zurück ins Boot. Ich holte mit einem Tau das Segel ein. Befreit von der Kraft des Windes im Segel beruhigte sich das Boot etwas. Einzig die Wellen warfen es noch spielerisch hin und her.
Mein Blick fiel auf den Anker, der am Bug lag. Das Wasser war hier zu tief, um ihn fallen zu lassen. Das Tau würde beim Lichten reißen.
Schwer atmend fuhr ich mit der rechten Hand über mein wasserbenetztes Gesicht.
Insec musste bald am Horizont auftauchen. Es konnte sich nur mehr um wenige Stunden handeln. Ich suchte den Süden nach der Insel ab, doch außer dunklen Wolken war dort nichts zu sehen.
Als nutzte der Sturm meine Unachtsamkeit aus, schickte er mehrere große Wellen direkt hintereinander zu meinem Boot. Es schwankte nach rechts und warf mich rücklings über Bord. Meine Füße, die noch immer in den Ausreitgurten steckten, fingen meinen Fall auf, sodass ich bloß mit dem Kopf untertauchte. Mein Hinterkopf knallte gegen den Rumpf.
Ich öffnete meinen Mund zu einem stummen Schmerzensschrei. Luft stieg in unzähligen Blasen an meiner Nase vorbei. Ich ruderte mit den Armen, um irgendwo in der Eiseskälte Halt zu finden und wieder aufzutauchen. Meine Bewegungen wurden hastiger, verzweifelter, als sich meine Beine mit dem Boot zur Seite neigten und über mir ins Wasser tauchten.
Mein Herzschlag pochte in meinem Kopf. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. Ich wollte Luft holen, aber ich konnte nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
Mit aufgerissenen Augen bekam ich das Boot zu greifen und zog mich an der Seite hoch. Es sackte ein Stückchen hinunter, doch ich schaffte es, mit dem Kopf die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Ich schnappte gierig nach Luft. Sogleich peitschte mir eine Welle ins Gesicht – es fühlte sich an wie Tausende von Nadeln, die meine Wangen attackierten. Ich spuckte hustend Wasser.
Alles Strampeln schien nichts zu nützen, als das Boot langsam tiefer und tiefer sank. Einer meiner Füße war noch immer im Ausreitgurt gefangen. Ich musste mich bald befreien und wegschwimmen. Das Boot würde mich sonst am Gurt oder durch den Sog mit hinunterziehen.
Ich glaubte meinen rasenden Herzschlag in meinem gesamten Körper zu spüren. Er trommelte in meinen Ohren, übertönte sogar die brechenden Wellen und das Tosen des Windes. Mit bebenden Lippen versuchte ich rückwärts zu schwimmen. Ich gab das verzweifelte Treten nicht auf.
Panik erfüllte meinen Körper. Sie hielt mich in ihrem eisernen Griff fest und schnürte mir die Luft ab. Alles um mich herum schwirrte.
Ein dunkler Schatten – dunkler als das Meer um mich herum – tauchte unter meinen Füßen auf. Seine schnellen, kraftvollen Bewegungen verhießen nichts Gutes. Ich hatte schon Haie gesehen. Das war keiner.
Das hier war weitaus gefährlicher als ein Hai.
⚓️
A/N: Was, glaubt ihr, lauert ihm auf?
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