
𝙹𝚎𝚍𝚎𝚛 𝙰𝚗𝚏𝚊𝚗𝚐 𝚒𝚜𝚝 𝚂𝚌𝚑𝚠𝚎𝚛 𝚜𝚊𝚐𝚎𝚗 𝚜𝚒𝚎
Hannes und Lilys Sicht
Dicke Regentropfen peitschten gegen die Autoscheibe des roten Opel Corsa von Oma, der uns schnurstracks in unsere neue Heimat Dortmund bringen sollte. In einem Viertel, geprägt von alten Fabriken und schmutzigen Mauern, sollten wir künftig leben. Ehrlich gesagt, verspürte ich jetzt schon keine große Lust darauf. Aber so ist das Leben nun mal – nicht immer fair, nicht immer einfach.
Hannes und ich hockten auf der Rückbank, jeder mit einem Kopfhörer im Ohr, um dem Trommeln des Regens zu entkommen. Mama tippte mit ernster Miene auf ihrem Handy herum, als hinge ihr ganzes Dasein davon ab.
Klar, besser Dortmund als noch einen weiteren Tag bei Oma Hannelore unter einem Dach. Oma war pingelig, streng, stur – und ihre schlechte Laune kannte keine Pausen. Einfach nur anstrengend.
Die Musik von Apollo 3 dröhnte in unseren Ohren. "Superhelden" war unser Lieblingssong, und nicht mal Oma konnte uns davon abhalten, lautstark mitzusingen.
„Du hast, du hast, du hast das Zeug zum Superhelden! Superhelden! Superhelden!" gröhlten wir völlig schief, während wir wie wild auf unsere Oberschenkel trommelten.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis Oma loslegte.
„Hannes! Lily! Hört sofort mit diesem entsetzlichen Geplärre auf! Das hält ja kein Mensch aus!", maulte sie gereizt, genervt von der fröhlichen Stimmung, die wir uns nicht nehmen lassen wollten.
„Boah Oma! Immer musst du uns die Laune vermiesen. Nur weil du selbst nie lachst, heißt das nicht, dass wir auch so sein müssen! Jetzt lass uns einfach in Ruhe Musik hören!", fauchte ich, wütend bis in die Haarspitzen. Nicht mal einen Tag konnte sie sich zusammenreißen!
Da brauchte sie sich wirklich nicht zu wundern, dass wir so ungern bei ihr waren. Selbst schuld.
„Lily!", schnappte Mama schockiert nach Luft, als meine Worte bei ihr ankamen.
„Was denn? Ich lass mir das nicht mehr gefallen, Mama!", entgegnete ich trotzig, die Arme verschränkt, mein Blick fest auf Oma gerichtet.
Bevor Oma kontern konnte, erreichten wir Dortmund. Das Viertel war trist und grau, mit wenig Charme. Kein Ort zum Wohlfühlen. Aber immerhin besser als Omas Haus, sagte ich mir.
„Komm, Lily! Lass uns unser Zimmer anschauen. Je schneller wir auspacken, desto eher können wir uns draußen umsehen", meinte Hannes voller Elan. Wir stürmten die Treppe hinauf in die neue Wohnung.
Wir nahmen das erste – und einzige – freie Zimmer und warfen einen Blick hinein. Die Wände waren kahl und in einem trostlosen Grau gestrichen. Die Luft wirkte schwer, fast erdrückend.
„Wow... richtig einladend. Da bekommt man ja richtig Lust hier zu wohnen", murmelte ich sarkastisch, während Hannes ebenfalls nicht begeistert dreinschaute.
Ich sollte echt aufhören, alles so negativ zu sehen. Immerhin wohnten wir endlich nicht mehr bei Oma. Und das war ein Anfang.
Langsam begannen wir, unsere Sachen auszupacken. Stück für Stück füllten sich die wenigen Regale mit unseren Habseligkeiten. Auch wenn wir nicht viel besaßen – ich hätte mir keine bessere Familie wünschen können.
Eine halbe Stunde später hatten Hannes und ich die letzten Kleinigkeiten verstaut. Zufrieden blickte ich mich um. Die kahlen Wände waren jetzt mit Apollo-3-Postern bedeckt, das Hochbett aufgebaut, und unsere Skateboards standen ordentlich in der Ecke – wie Schätze, die wir nie hergeben würden.
„Für den Anfang sieht's doch ganz gut aus", meinte Hannes und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ich liebte meinen Bruder einfach.
Hannes und ich verband seit frühester Kindheit eine besondere Nähe. Etwas, das selbst Mama nie ganz begreifen konnte. Wir waren wie zwei Hälften eines Ganzen. Wohin er ging, würde ich folgen. Er war mein Anker, wenn ich unterzugehen drohte.
„Ja, du hast recht. So lässt es sich aushalten", erwiderte ich und wuschelte ihm durch die Haare – er hasste das, aber ich liebte es, ihn zu ärgern.
Geschwisterliebe war wirklich etwas Besonderes, oder, Brüderchen? Wie zur Antwort schüttelte Hannes grinsend den Kopf und schlug spielerisch meine Hand weg.
„Komm, wir drehen noch eine Runde mit dem Skateboard, bevor's Abendessen gibt", schlug ich vor. Aufgeregt wie ein Kind nickte Hannes, und wir schnappen uns unsere Boards.
Leise schlichen wir aus der Wohnung, um Mama nicht zu alarmieren – sie hasste es, wenn wir gingen, ohne Bescheid zu sagen. Stundenlang cruisten wir durch die Straßen, prägten uns jede Ecke ein, um später nicht die Orientierung zu verlieren.
Punkt 18 Uhr schlossen wir vorsichtig die Haustür auf. Wir rechneten mit einem Donnerwetter – doch Mama lächelte nur.
„Na endlich! Los, Hände waschen – das Essen ist fertig", rief sie uns liebevoll zu.
Puh, Glück gehabt. Aber so ein freier Pass würde sicher nicht zur Gewohnheit werden. Blitzschnell rannten wir ins Bad, wuschen uns die Hände und setzten uns an den Tisch.
„Ich hab mit eurer neuen Schule gesprochen", begann Mama zwischen zwei Bissen, „morgen stellt ihr euch dort vor, damit ihr nach den Ferien nicht ganz so fremd seid. Und ich will keine Widerrede, klar?"
Fast hätte ich meine Gabel fallen lassen.
„Was?! Morgen sind doch schon Ferien...", murmelte ich entsetzt.
„Okay, Mama...", seufzte ich schließlich. Diskutieren hätte eh keinen Zweck. Mist.
„Gut", antwortete sie zufrieden, und wir aßen schweigend weiter.
Nach dem Abwasch verzogen wir uns direkt ins Zimmer. Ich hatte das Gefühl, dass morgen kein einfacher Tag werden würde.
Tja, und wer hätte gedacht, dass ich damit recht behalten würde...
Hannes und ich schlüpften in unsere Pyjamas und kuschelten uns unter unsere Decken. Ich zog mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze und schloss die Augen.
„Gute Nacht, Lily. Glaub mir, ab morgen wird alles besser", murmelte Hannes verschlafen. Ich musste lächeln.
„Gute Nacht, Hannes", flüsterte ich zurück.
Hoffentlich hatte er recht. Hoffentlich war das hier wirklich ein Neuanfang.
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