Kapitel 9 (3/3)
Zumindest als das Essen gebracht wurde, hatte mein Herr mich losgelassen und war zu seinem Platz zurückgekehrt. Allerdings wollten meine Wangen nicht an Farbe verlieren, nachdem eine lange Stille über uns hereinbrach. Ich konnte es zwar nicht schnell genug haben, mit dem Essen zu beginnen und ich spürte förmlich, wie Kraft in meinen Körper zurückkehrte, aber wirklich genießen konnte ich es nicht.
Wie furchtbar peinlich das alles war, dieser ganze Ausflug! Und dann hatte er sich auch noch entschuldigt und mich geküsst...
Und verdammt! Jetzt fiel mir wieder ein, dass er gesagt hatte, ich sollte ihn doch für heute Isaac nennen. Sein Ernst?
Wäre ich allein gewesen, ich hätte mich vor Scham am liebsten über das Sofa gekullert. Mit Essen im Magen und etwas Zeit zum Nachdenken begriff ich erst so richtig.
Mein Herr schielte zu mir, als er einen Bissen von der Gabel nahm. So sehr wir eben noch über unsere Gefühle gesprochen hatten, desto peinlicher war die Stimmung nun. Zudem war es völlig irritierend eine gute und angerichtete Mahlzeit zu essen. Mit Besteck kam ich ja zum Glück klar, aber ich kannte viele, für die das hier umso schlimmer wäre.
»Mein Herr...?«, fragte ich nach einiger Zeit. Das warme Essen dampfte auf meinem Teller und während er schon halb fertig war, traute ich mich kaum, weitere Bissen zu nehmen. Es schien so surreal.
»Nenn mich Isaac.«, erwiderte er, aber das schob ich gleich in die hinterste Ecke meines Oberstübchens. Sicher würde ich ihn nicht mit Namen ansprechen.
»Darf ich... etwas fragen?«
»Warum auf einmal so verhemmt?«
Ich presste die Lippen aufeinander. Eben war ein Ausrutscher gewesen, ich hatte mich nicht zurückhalten können. Aber jetzt hatten mich die Ketten meiner Gefangenschaft eingeholt und auf meinen Platz zurückverwiesen. Der Mut war gewichen.
»Darf ich?«
»Mach nur. Und nenn mich Isaac.«, meinte er schmunzelnd.
Kurz überlegte ich, wie ich es formulieren sollte, dann legte ich das Besteck nieder und fragte: »Was hat es mit meinem Namen auf sich? Jeder, der ihn hört, horcht auf, als sei er verflucht.«
Nun war es mein Herr der aufhorchte. Auch er legte das Besteck nieder. Dann schien er mit sich zu ringen - er räusperte sich und fuhr sich angestrengt übers Gesicht. Aber er sah mich erneut an und seufzte. »Na schön. Dann lass es mich erklären. Eigentlich hatte ich gehofft, nicht darüber sprechen zu müssen.«
»Ich bin nur Euer...«
»Aber wie ich gesehen habe, ist Reden vielleicht gar nicht so schlecht.« Ein warmes Lächeln, das einer fast schon verzweifelten Mine wich. »Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Sicher hast du mitbekommen, das in der Vergangenheit einiges passiert ist. Und wenn nicht, hat es dir bestimmt einer von den Plappermäulern längst erzählt.«
»Ich... weiß nichts genaues.«, sagte ich ehrlich. Alle hatten bei diesem Thema abgeblockt. Würde ich jetzt mehr erfahren?
»Dein Name... wo soll ich denn jetzt anfangen? Noch nie habe ich darüber mit jemanden gesprochen. Es stand immer im Raum, die Tatsachen waren da, aber keiner traute sich, weiter vorzudringen.«
»Dann wird es Zeit.«, sagte ich ohne groß darüber nachzudenken. »Ich weiß zwar nicht, was irgendwann mal gewesen ist, aber ich weiß sehr wohl, dass es schlecht ist, alles in sich hineinzufressen. Auch aus eigener Erfahrung. Selbst Sklaven müssen sich hin und wieder einem guten Freund anvertrauen, um nicht an ihren Leiden zu zerbrechen.«
Ich hatte guter Freund gesagt. War das jetzt positiv oder negativ? Was schloss mein Herr daraus? Hätte ich einfach meinen Mund halten sollen? Vielleicht wollte er sich nicht so anmaßend bezeichnen lassen.
Eine große Hand tastete über die Tischdecke, bis sie meine eigene erreichte und sanft drückte. »Ja, du hast recht. Meine Familie ist nur nicht so... wie soll ich es sagen? Ich bin es gewöhnt, nichts nach außen zu tragen und so zu tun, als wäre nichts geschehen.«
»Wie meint Ihr das?« Selbst tat ich gerade auch so, als würde nichts geschehen, dabei spürte ich die Hitze in mein Gesicht steigen und mein Herz setzte einen Sprung aus. Alles wegen einer Hand.
»Ähm... wahrscheinlich ist es besser zu verstehen, wenn du mehr weißt.« Mein Herr räusperte sich zweimal. Seine Finger fuhren zwischen meinen und strich darüber. »Also dein Name... ähm... Kennst du Fourth World Heros?«
Ich blinzelte mehrmals. »Ihr meint das Kartenspiel? Das mit den Superhelden in Raumschiffen und diesen ganzen Planeten, die sie beschützen müssen?«
»Du kennst dich ja sehr gut aus.«, stellte er monoton fest. Wir waren uns beide nicht einig, wie wir das zu deuten hatten. »Ich habe einen kleinen Bruder, weißt du. Und er liebte dieses Spiel.« Jetzt trat ein Lächeln auf seine Lippen. Ein glückliches und zugleich so bitteres Lächeln, dass ich eine Gänsehaut bekam. »Besonders liebte er eine Figur dort. Er hatte so viele Karten, dass ich ihm eine große Kiste holen musste, in der er seine Sammelalben verwahrte. Während die anderen Kinder Captain Ultra oder Lady Lady bewunderten, hatte mein Bruder immer nur Augen für einen jungen Mann - Killan X Fourth.«
Aufmerksam lauschte ich, vergaß sogar bald, dass wir Händchen hielten. Es machte mich zu neugierig zu erfahren, was hinter meinem mysteriösen Namen steckte.
»Dieser Killian konnte keine Flammen aus den Händen schießen, oder Laserstrahlen aus den Augen. Er besaß keine Flügel oder Tentakel, mit denen er seine Feinde attackieren konnte. Etwas ganz besonderes war er - ein Heiler.«
»Ein Heiler?«, fragte ich verwundert nach.
»Weißt du, da muss ich wohl noch etwas erklären, damit du alles verstehst. Mein Bruder war ein sehr schwacher Junge. Er kam per Notoperation als Frühchen zur Welt und litt sofort an einer chronischer Atemnot.« Ich tat es ihm gleich, als mein Herr tief durchatmete. Sein Griff um meine Hand wurde fester, klammernder. »Wie gut kann ich mich daran erinnern, als ich an seinem Bettchen stand und er seine winzigen, weichen Finger um meinen Daumen schlang.«
Sein Lächeln wurde breiter, aber auch gleich eine ganze Spur trauriger. Kein schöner Start ins Leben für ein unbedarftes Kind.
»Während ich also begriff, dass ich echt ein großer Bruder geworden bin, hörte ich vom Nebenzimmer, wie sich meine Eltern mit den Ärzten stritten. Sie rieten ihnen dazu, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen - für meinen Bruder wäre es nur eine Qual, er würde sowieso lediglich ein paar Tage zu leben haben.«
»Das ist... furchtbar...«, keuchte ich erschrocken. Die Hand meines Herrn begann leicht zu zittern.
»Aber meine Eltern wollten das nicht hören.« Er gluckste. »Ich hätte sie auch niemals gelassen. Das war so ein winziges, beschützenswertes Wesen vor mir - ich schwor, niemals ein Leid über meinen kleinen Bruder kommen zu lassen.«
»Das muss eine schwere Zeit für Euch gewesen sein.«
»Ja, das war es wirklich. Wir hatten nicht damit gerechnet, unser Haus war doch gar nicht auf ein schwer krankes Kind ausgerichtet. Also zogen wir auch noch in der Kürze der Zeit in ein Haus mit mehr Platz für die ganzen Maschinen, die mein Bruder zum Leben benötigte. Manchmal weinten meine Eltern in seinem Zimmer, weil sie befürchteten, er würde trotz der Maschinen ersticken. Und manchmal schlich ich zu ihm und und schlief in seinem Bett, obwohl ich nicht durfte und es sehr gefährlich war, hätte ich doch nur die Schläuche aus Versehen herausreißen müssen.«
Mein Herr drehte seine Hand und ich strich gedankenverloren über die Innenfläche. Obwohl seine Erzählung nicht fertig war, fühlte ich mich ihm bereits jetzt um Welten näher. Ich war der einzige, dem er es bisher erzählte? Kaum zu glauben, wie schwer es sein musste, das mit sich herumzutragen.
»Aber wir konnten es allen zeigen.«, verkündet mein Herr voller Stolz. »Ben - so hatten wir ihn genannt - überstand Wochen, Monate, Jahre. Ja, er lebte und wurde groß. Ich sah ihn das erste Mal sprechen, das erste Mal laufen und wir waren so eng, dass ich es kaum ertragen konnte, mit achtzehn ausziehen zu müssen, um studieren zu können.«
»Das glaube ich.«, fügte ich an. »Das muss ein großer Erfolg gewesen sein.«
»Auf jeden Fall. Allerdings...« Seine Stimme wurde dunkler. »Kam der nächste Rückschlag, als ich mich schon auf der Uni befand. Bei meinem Bruder wurde ein gutartiger Tumor am Herzen festgestellt.« Er sah auf und seine Augen wurden feucht. »Wie viel Pech kann ein kleines Kind haben?«
Mein Herr nahm etwas Zeit, um sich zu sammeln und auch ich versank in meinen Gedanken. Hatte jemand sowas wirklich verdient? Das wünschte ich meinem ärgsten Feind nicht.
»Da war er gerade mal fünf. Eine Operation kam nicht infrage, ein zu hohes Risiko lastete auf seinen schwachen Schultern. Er hätte einen Herzinfarkt bekommen können oder seine Lungen hätten aufgegeben. Also blieb nichts anderes, als die Chemotherapie übrig.«
Plötzlich war alles um uns herum ausgeblendet. Es gab nur noch ihn und mich. Etwas unglaubliches Zerrendes in mir wollte für ihn da sein und ihm Trost spenden. Aber schaffte ich das?
»Jedenfalls gingen wir auch diese Herausforderung an. Ben hielt sich tapfer, er war ein richtiger Kämpfer, der selbst in den schlimmsten Situationen nicht aufgab. Zur Schule konnte er nicht und Freunde hatte er keine, weil sie ihn auf dem Spielplatz auslachten, wenn wir mit den Schläuchen und Geräten kamen - Was aber nicht hieß, dass er sein Leben nicht in vollen Zügen genoss. So oft es mir möglich war, besuchte ich ihn und trotz seiner Krankheiten hielt ihn nichts davon ab, im Hinterhof mit mir Fußball zu spielen oder seine geliebte Kartensammlung zu bewundern.« Mein Herr seufzte. »Ach ja... Killan X Fourth - er hatte die größte Kraft, die sich Bens unschuldige Kinderseele wünschen konnte. Dieser Mann konnte jegliche Krankheit heilen, egal wie schwer oder unmöglich es schien. Und ich wollte zu diesem Mann werden, der eine Heilung fand und Ben neuen Mut und einen neuen Sinn verleihen würde.«
»Deswegen seid Ihr Arzt geworden?«
»Damals war ich mir so sicher, ich würde ihn eines Tages von allen Leiden der Welt heilen können.«
Er biss sich auf die Lippe. Ich spürte, wie der Druck seiner Hand nachließ, bis sie schließlich zu seinem Körper zurückkehrte. Eine einsame Kälte machte sich breit.
»Ganz schön viel geschnackt, was?«, lachte mein Herr beschäftigt und fuhr sich durchs Gesicht. »Jetzt kennst du die Geschichte um diesen Namen.«
»Wie geht es Eurem Bruder heute? Habt Ihr schon eine Heilung gefunden?«, fragte ich voller Naivität und erschauderte, als das Gesicht meines Herrn erstarrte.
»Er ist gestorben. Vor fünf Jahre. Mt vierzehn.«, flüstert er.
Ich senkte erschrocken den Blick und verfluchte mich für meine Neugierde. »D-Das tut mir sehr leid, mein Herr.«
»Schon gut...«, quetschte er zwischen zusammengepressten Lippen heraus. »Weißt du, er hatte genauso grüne Augen wie du und er wäre jetzt neunzehn geworden.« Die zitternden Lippen, die nassen Lider - Voller Trauer meinte er: »Manchmal erinnert du mich an ihn.«
Dann war erstmal Stille. Mit meiner unbedachten Frage hatte ich der Stimmung wirklich den Tiefpunkt verliehen. Es fühlte sich so düster und depressiv an, wie ein nimmer mehr endender Regentag.
Als mein Herr wieder mit Essen begann, tat ich ihm gleich und aß selbst weiter, nur dass kein Bissen mehr zu schmecken schien. Lediglich mein Körper antwortete mit einem zufriedenen Grummeln.
»Er starb nicht an seinen Krankheiten.«, murmelte mein Herr zwischendurch und ich stoppte. Er blickte auf und da betrachtete er mich wieder mit dem Hass, den ich schon bei unserem ersten Treffen gespürt hatte.
»Nicht?« Nur diesmal konnte ich genau spüren, dass er nicht mir galt. Wollte er mir Klarheit verschaffen, so war alles noch viel verschwommener geworden. Wie war sein Bruder verstorben? Was bedeutete dieser Hass?
Wir aßen beide still auf und erst als mein Herr bezahlt hatte, regte sich wieder etwas zwischen uns. Dann sah er auf und nahm meine Hand wie zuvor. Diesmal war ich es, der auf der Bank zu ihm rutschte und meinen Kopf gegen seine Schulter legte.
»Bist du satt geworden?«, fragte mein Herr. Seine Hand fand in meine Haare und strich über meinen nickenden Kopf. »Gut, dann...«
Ich stemmte mich langsam hoch und fing seinen Blick ein. Gerade jetzt, wo wir beide am verletzlichsten waren, da fühlte ich das unstillbare Bedürfnis, ihm nahe zu kommen, soweit wie möglich. Er sollte mich halten, beschützen und ich wollte ihm ebenso Trost spenden.
Meine Hände legten sich wie von selbst an seine Wangen und streichelten sie behutsam. Ich wollte alles von ihm sehen, jede Narbe, jeder Bruch in seiner Mauer,
Mein Herr küsste mich sanft, dann leidenschaftlicher, bis seine Zunge über meine Lippen leckte. »Hilf mir...«, hauchte er gegen sie und ich nickte stumm.
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