Kapitel 4
Ich sitze auf dem Bett, in dem ich die Nacht verbracht habe. Aber nun wirkt dieses Zimmer viel kleiner und düsterer. Ich wünsche mir ein Fenster und etwas frische Luft. Meine eiskalten Finger krallen sich in das Kissen, während ich es fest gegen meinen Bauch presse.
Es ist nur ein Kissen und doch fühlt es sich an, als sei es eine Barriere zwischen mir und den beiden Männern, die ich unbedingt aufrecht erhalten muss.
Irgendjemand muss zwischenzeitlich hier gewesen sein, denn der Teller ebenso wie die angefangene Flasche Wasser sind verschwunden. Leon sitzt auf dem Stuhl am Tisch. Er hat ihn ein wenig gedreht, sodass er nun in meine Richtung sieht.
Der andere Mann steht gegen die Zimmertüre gelehnt, mit verschränkten Armen und einem mürrischen Gesichtsausdruck. Seine hellbraunen Haare sind militärisch kurz geschnitten, seine dunklen Augen wachsam und ein gestutzter Vollbart umrahmt seine schmalen Lippen. Obwohl er noch kein Wort gesprochen hat, ist er mir unsympathisch und alles in mir sträubte sich dagegen, in seiner Nähe zu sein.
„Simon ist als Zeuge anwesend. Unabhängig von mir, wird er Alpha Silvan Bericht erstatten." Leon schiebt die Ärmel seines dunkelblauen Shirts bis über seine Ellenbogen zurück, dann setzt er sich auf und nimmt mich ins Visier. Wieder geht von ihm diese Autorität aus, die ich im Farmhaus schon bemerkt habe, ihn jedoch nicht ständig umgibt.
Ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihm abzuwenden, allerdings bietet mir der Raum auch nichts wirklich Interessanteres und Simon anzusehen vermeide ich gern.
„Du wurdest in einem Rudel Aussätziger gefunden, das im Zusammenhang mit mehreren schwerwiegenden Vergehen steht. Raubüberfälle, Morde, Entführungen und Menschenhandel. Gestern meintest du, du hättest damit nichts zu tun und könntest nichts darüber sagen."
Leon sieht mir so intensiv in die Augen, dass ich das Gefühl habe, er kann darin meine Gedanken lesen und die gestrige Lüge erkennen. Und dieses Gefühl vertieft sich, bei seinen nächsten Worten.
„Ist dir vielleicht doch noch etwas eingefallen?"
Die verschiedensten Situationen rasen an meinem inneren Auge vorbei. Zu erzählen habe ich wahrscheinlich mehr, als ich gestern gedacht habe. Aber kann mir dieses Wissen weiterhelfen?
Kann ich Leon irgendwie davon überzeugen, dass ich nichts direkt mit den Entführungen zu tun hatte, wenn ich ihm alles erzähle? Dann wäre es doch nicht mehr nötig, mir das Halsband abzunehmen, denn Mela kann in mir nicht die Wölfin erkennen, die sie angesprochen hat.
Ich muss es zumindest versuchen.
Schwer schlucke ich, fange an, den dünnen Stoff des Kissenbezugs zwischen meinen Fingern zu reiben, und überlege fieberhaft, wann genau sich David dem Rudel angeschlossen hat.
„Ich weiß nicht, wann oder warum dieses Rudel mit Verbrechen angefangen hat. Man hat mich vor ungefähr drei Jahren zum ersten Mal für einen ihrer Zwecke eingespannt. In einem Wald wurde ich ausgesetzt und sollte in eine bestimmte Richtung laufen. Dort war ein Dorf, ein kleines Rudel mit nur wenigen Wölfen. Vielleicht zwanzig, es können aber auch weniger gewesen sein."
Die Erinnerung an diesen Tag treibt mir Tränen in die Augen, gegen die ich nichts ausrichten kann. Ich habe damals nicht einmal geahnt, was diese Typen vorhatten, mit denen sich David in den Wochen zuvor öfter getroffen hatte.
Oft schon habe ich versucht, mir einzureden, dass ich mich geweigert hätte, hätte ich gewusst, welche Monster diese Wölfe waren, obwohl doch ich den Blutwolf in mir verstecke. Erfolglos und das zurecht, denn ich habe auch danach nie den Mut gefunden, mich gegen sie zu stellen.
„Kurz bevor ich das Dorf erreicht habe, wurde ich von zwei Wölfen aufgegriffen. Wie man es mir zuvor befohlen hatte, redete ich nicht mit ihnen, ließ alle Fragen unbeantwortet, folgte ihnen aber ins Dorf zu ihrem Alpha."
Meine Stimme wird stetig leiser und immer wieder muss ich durchatmen, um meine Tränen zurückzuhalten.
„Ich war nicht lange dort, bevor David kam und den Alpha darüber aufklärte, dass ich eine entflohene Gefangene sei. Ich sollte zum königlichen Alpha gebracht werden und David dankte dem Alpha überschwänglich dafür, dass er mich gefunden und festgehalten hatte. Der königliche Alpha wäre sicher ebenfalls erfreut und würde sich erkenntlich zeigen."
Ich weiß noch, wie ich mir damals das Lachen verkneifen musste, denn ich kannte Davids Meinung über die königlichen Alphas.
Faule Säcke, die von den anerkannten Rudeln ausgehalten wurden und sich ihre Ärsche platt saßen, wenn sie sich nicht gerade in jene hineinkriechen ließen.
Allerdings hatte David damit erreicht, was er bezwecken wollte.
„Natürlich hörte der Alpha das gerne und führte David bereitwillig durchs Dorf, damit dieser dem königlichen Alpha eine angemessene Belohnung vorschlagen konnte. Eventuell Geld für die Bohrung eines neuen Brunnens oder die Erweiterung ihres Gebiets. Ich habe erst im Nachhinein erfahren, dass auch das zuvor bereits geplant gewesen war. David wollte das Dorf auskundschaften, damit das Rudel dann ihren eigentlichen Plan durchziehen konnte."
Ich hab den Kampf gegen die Tränen verloren. Langsam, eine nach der anderen, laufen sie mir über die Wangen und tropfen von meinem Kinn auf das Kissen.
„Zwei Tage später gab es das Dorf nicht mehr. Mitten in der Nacht war es überfallen, geplündert und abgefackelt worden. Es gab keine Überlebenden."
Ein lautes Schnauben erinnert mich daran, dass ich nicht allein mit Leon bin. Die ganze Zeit über habe ich Blickkontakt zu ihm gehalten. Habe gesehen, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte, die Autorität immer mehr von Mitgefühl verdrängt wurde. Zumindest habe ich Mitgefühl in diesen Blick von ihm hineininterpretiert und es so geschafft, zu erzählen.
Jetzt aber sehe ich zu Simon, der mir verächtlich entgegenblickt.
Mit dem Rücken lehnt er gegen die Türe, ein Bein hat er abgewinkelt und der Fuß drückt sich ebenfalls gegen die Türe. Die Arme hat er weiterhin verschränkt und es fehlt nur noch, dass er auf den Boden spuckt, um mir zu zeigen, was er von mir hält.
„Ich habe das nicht freiwillig getan", wiederhole ich die leise, trotzige Stimme in meinem Kopf, die sich gemeldet hatte. „Ich wusste nichts vom Plan des Rudels und war auch nicht dabei, als das Dorf überfallen wurde."
„Warum solltest du es sonst gemacht haben?", entgegnet Simon.
Da ich seine Stimme zum ersten Mal höre, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob ich richtig liege, aber ich glaube, eine gehörige Portion Feindseligkeit schwingt darin mit.
Seine braunen Augen funkeln irgendwie angriffslustig und mir wird bewusst, dass er sich nur von der Tür abstoßen muss und innerhalb eines Augenblicks direkt vor mir stehen würde.
Unruhig malträtiere ich das Kissen auf meinem Schoß weiter. Ich glaube nicht, dass Simon mir etwas antun würde. Alpha Silvan hat schließlich noch Pläne mit mir. Dennoch fühle ich mich von ihm zunehmend bedroht. Selbst wenn ich ihm antworten wollte, bin ich mir nicht sicher, ob ich etwas sagen könnte oder mir die Worte im Hals stecken bleiben würden.
„Ich stelle hier die Fragen!"
Überrascht wende ich mich Leon zu. Das Mitgefühl, von dem ich zuvor gedacht habe, es in seinen schönen goldenen Augen gesehen zu haben, ist verschwunden. Stattdessen wirkt er kalt und verbissen. Fast wie eine jüngere Version des Alphas...
Plötzlich bin ich mir sicher, eins und eins richtig zusammenzuzählen. Dieser ähnliche Farbton der Iriden, die schwarzen Haare, die gleichen schmalen Lippen.
Ist Alpha Silvan Leons Vater? Hat Leon nur deshalb die Erlaubnis bekommen, mich zu befragen? Ist es dann ganz egal, was ich hier erzähle, und es hat keinerlei Bedeutung?
„Ja, ja", antwortete Simon leise, bevor er etwas Unverständliches vor sich hin grummelt.
Ich bin mir ziemlich sicher, Leons Lippen zucken für einen winzigen Moment, bevor er mich wieder ansieht. Wollte er lachen?
Das ist jedenfalls mein erster Impuls, jetzt wo Simons Überheblichkeit verpufft ist und ich glaube, dass die beiden Männer sich nicht als Freunde bezeichnen würden.
Aber nicht nur Simons Anblick, unterwürfig wenn auch widerwillig, erheitert mich. Auch die Hoffnung, die in mir aufkeimt.
Ist es etwa ein Vorteil, dass Leon der Sohn des Alphas ist? Zählt seine Einschätzung mehr als Simons?
„Wo war das Dorf?"
Leons Stimme ist deutlich sanfter, ebenso wirken seine Augen wieder wärmer.
„Ich kann es nicht genau sagen, aber es lag im Norden, nahe der kanadischen Grenze", antworte ich wahrheitsgemäß.
„Also nicht im Gebiet unseres königlichen Alphas." Überlegend reibt sich Leon am Kinn. „Vielleicht finden wir dennoch etwas darüber. Hol doch bitte mal Jamie für mich, Simon."
Genervt verdreht Simon die Augen, aber er richtet sich auf und dreht sich um. Noch ehe er die Türe öffnet, hält ihn Leons Stimme zurück.
„Und bring etwas zu trinken für Emily mit."
Deutlich kann ich Simons Anspannung sehen und halte abwartend den Atem an. Ich möchte ehrlich gesagt weder der Grund dafür noch anwesend sein, wenn seine Geduld aufgebraucht ist.
Ich höre ein herausgepresstes „Natürlich", dann reißt er kraftvoll die Tür auf.
Und diesmal zeigt sich tatsächlich ein Lächeln auf Leons Lippen.
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