Kapitel 1
Meine Muskeln entspannen sich langsam.
Nicht weil ich mich in meiner Situation wohl fühlen würde. Immerhin bin ich auf dem Weg mit zwei unbekannten Wölfen zu einem unbekannten Ort, an dem mir ein Prozess gemacht werden soll.
Ich glaube, sie können einfach nicht mehr. Zu lange hat sich die Anspannung gehalten.
Obwohl ich wusste, eine Flucht wäre sinnlos, habe ich gleich nach dem Einsteigen versucht die Türe wieder zu öffnen, bereit herauszuspringen und loszurennen. Vergeblich, denn die Türe lässt sich von innen nicht öffnen.
Das monotone Brummen des Motors übertönt die leise Musik aus dem Autoradio. Meine beiden Begleiter sind still.
Vielleicht unterhalten sie sich telepathisch, für mich nicht hörbar, denn hin und wieder wirft Levi Leon einen fragenden Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentriert. Wobei die Straße eher einem Feldweg gleicht mit unzähligen ausgespülten Schlaglöchern.
Schon auf dem Weg zur Farm, als ich von David in die entgegengesetzte Richtung gefahren wurde, habe ich gedacht, die Straße würde kein Ende nehmen.
Meile um Meile zieht sie sich, abwechselnd gesäumt von Wäldern und Felder und mit jeder Meile lullt mich die Wärme im Wagen mehr ein.
Ich lehne den Kopf gegen die Seitenscheibe, drehe ihn ein wenig und presse meine Stirn gegen das kühle Glas.
Ich darf jetzt nicht einschlafen, muss mir jede Kreuzung und jede Abzweigung merken, an der wir noch vorbeikommen, damit ich später den Rückweg nachverfolgen kann.
Gewiss nicht zurück zur Farm, aber vielleicht bis zu einer Stadt oder wenigstens zu Bahngleisen, die mich zu einer bringen könnten. Dabei habe ich keine Ahnung, wie lange unser Weg noch ist.
Draußen ist es mittlerweile dunkel, wir sind schon gute zwei Stunden unterwegs und meine Müdigkeit nimmt zu. Läge ich in einem Bett, würde ich wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten einschlafen.
Hier im Auto ist es dafür zu unbequem und immer wieder jagen fiese Krämpfe durch meine Waden, da ich die Beine nicht ausstrecken kann.
Deswegen rutsche ich unruhig auf dem Sitz hin und her und ernte kritische Blicke von Levi im Rückspiegel. Nur das rote Licht des Tachos erhellt sein Gesicht, das ich im Spiegel erkenne, und ich kann nicht abschätzen, ob er von mir genervt ist.
Allerdings muss ich nur an das warnende Knurren von ihm im Farmhaus denken und meine Frage nach einer kurzen Pause, um mir die Beine zu vertreten, bleibt mir im Halse stecken.
Dabei hat sich während der Fahrt wenigstens die Angst in mir gelegt. Ich habe mich mit der Situation abgefunden, in das Dorf der beiden gebracht und befragt zu werden. Wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das schon in meinem Zimmer tun können. Aber das haben sie nicht.
Das Warum will ich im Moment gar nicht hinterfragen. Mein müdes Hirn würde ohnehin auf keinen grünen Zweig kommen.
„Ist es dringend oder hältst du es noch aus? In ungefähr zwanzig Minuten sind wir da", sagt Leon plötzlich, wobei ich einen Augenblick brauche, um ihm die Stimme zuzuordnen.
„Geht schon", antworte ich ohne die beiden darüber aufzuklären, dass mein Zappeln nicht an einer vollen Blase liegt. Stattdessen stemme ich meine Fersen in die Fußmatte und hebe meinen Hintern ein Stück an, um Druck auf meine Waden auszuüben.
Ich weiß, es ist absolut unsinnig, aber ich habe nicht vor, diesen Männern gegenüber Schwäche zu zeigen und zwanzig Minuten erscheinen absehbar zu sein.
Laut der digitalen Uhr am Autoradio sind zweiundzwanzig Minuten vergangen von Leons Aussage bis wir mitten in einem Wald auf eine geschlossene Schranke stoßen.
Links daneben erkenne ich im Scheinwerferlicht mehrere große Müllcontainer. Auf der rechten Seite steht ein überdimensionalgroßer Briefkasten unter einem auf Pfählen liegenden Dach. Direkt daneben schließt sich zu beiden Seiten der Wald an.
Mit dem Auto kann man die Schranke also nicht umfahren.
Allerdings ist es für Leon wohl kein Problem. Er steigt aus und zieht etwas aus der Hosentasche, sobald er steht. Die Beifahrertüre lässt er geöffnet und frische Luft strömt ins Auto.
Genau das richtige, um mein schläfriges Gehirn wieder munter werden zu lassen. Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis wir das Dorf endlich erreichen und ich muss mir sofort ein Bild der neuen Umgebung machen.
Auch wenn ich mir das nur ungern eingestehe, habe ich den Vorteil, dass ich wegen David schon einige Male in genau so einer Situation war. Natürlich hat er mich dabei immer nur für seine kriminellen Absichten benutzt und eine Flucht war von vornherein aussichtslos gewesen. Aber jedes Mal habe ich mich nach einem Fluchtweg umgesehen und mir Verstecke eingeprägt. Wege, die direkt in den Wald führen, alte Schuppen, offenstehende Garagen, große Mülltonnen oder Brunnen, wenn es welche gab.
Schnell verdränge ich die aufkommenden Erinnerungen und die Furcht, die David von klein auf so erfolgreich in mir gesät hat, dass ich mich nie gegen ihn gestellt habe. Er lebt nicht mehr, seine Drohungen können mir nichts mehr anhaben.
Wie lange es wohl dauert, bis ich mir das selbst glaube?
Nachdem wir die Schranke hinter uns gelassen haben, dauert es nicht mehr lange, bis ich die ersten Lichter zwischen den Bäumen sehe.
Kurz danach liegt das Dorf direkt vor uns.
Im gelblichen Licht der Straßenlampen erkenne ich zwei von Häusern gesäumte Straßen, die an einer Kreuzung nach links und rechts abzweigen.
Wir fahren weiter geradeaus und kommen auf ein großes Haus zu.
Unter dem halbrunden Vordach des Hauses, im Licht einer Außenlampe, stehen zwei Männer und schauen aufmerksam zum Auto, sobald Levi vor dem Gartentor hält.
Die Ruhe, die bis dahin im Wagen geherrscht hat, erscheint nun wie die Ruhe vor dem Sturm.
Augenblicklich spannen sich meine Muskeln wieder an, mein Puls beschleunigt sich und rastlos springen meine Augen von einem Punkt zum anderen, auf der Suche nach einem Weg in den Wald.
Mein Plan, eine Weile abzuwarten, mir einen Überblick zu verschaffen und dann heimlich still und leise zu verschwinden, rückt durch die beiden Türsteher gerade in weite Ferne.
Hätte ich doch schon auf der Farm einen Fluchtversuch starten sollen?
Dort wären es nur zwei Wölfe gewesen, die ich mit viel Glück vielleicht irgendwie hätte abhängen können.
Wobei das Glück eher selten auf meiner Seite ist ...
Von Leon und Levi flankiert betrete ich das Haus und komme in eine kleine Eingangshalle.
An einer der Wände hängen mehrere gerahmte Urkunden. Worum es sich genau handelt, kann ich auf die Entfernung nicht entziffern. An der gegenüberliegenden Wand hängt eine großformatige Fotografie eines Mannes.
Bestimmt der Alpha des Rudels und er wirkt nicht gerade sympathisch. Ernst sieht er mir entgegen und erweckt dabei den Eindruck, dass mit ihm nicht zu spaßen ist.
Ein dicker Kloß setzt sich in meinem Hals fest.
Ich habe gedacht, Leon würde die Befragung durchführen. Er ist derjenige, der auf der Farm den Ton angegeben hat.
Und er ist auch derjenige, der mich am Leben gelassen hat.
Es war sicher kein Zufall, dass Leon in seiner Wolfsform in mein Zimmer gekommen ist. Er war bereit, mich ebenfalls zu töten, aber hat es nicht getan.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich geglaubt habe, er meint es ernst mit einem fairen Prozess, was mir wiederum Zeit verschaffen würde, einen Ausweg zu finden.
Aber da ich nun hier bin, liegt meine Zukunft wahrscheinlich in der Hand des Alphas.
Wie wird er reagieren, wenn er erfährt, wo Leon und Levi mich gefunden haben? Wird er sofort mein Todesurteil über mich verhängen?
Wer weiß schon, ob es ihm wichtiger ist, Antworten zu bekommen oder für Ordnung zu sorgen. Darum geht es den Alphas doch immer. Das Rudel an der kurzen Leine zu halten, damit alle nach seiner Pfeife tanzen. David und die anderen können ohnehin keinen Schaden mehr anrichten, warum an mir dann kein Exempel statuieren?
„Ihr kommt spät. Habt ihr alles erledigt?"
Mit diesen Worten tritt ein Mann aus einem Zimmer in die Eingangshalle. Er ist ungefähr so groß wie ich, für einen Mann also eher klein, bestimmt um die fünfzig Jahre alt und strahlt etwas Gefährliches aus. Sein Adamsapfel steht ungewöhnlich weit heraus und zusammen mit der Hakennase erinnert er mich an einen hungrigen Geier.
Seine unnatürlich grünen Augen wandern von Levi zu Leon und dann zu mir.
„Das Rudel ist eliminiert, Beta Rasmus. Der Aufräumtrupp kann sich um das Haus kümmern", antwortet Leon.
„Was ist mit ihr?" Der Beta deutet auf mich und kommt einen Schritt näher. Schnüffelnd, wobei sich seine Nase mehrfach hintereinander kräuselt. „Ein unreiner Straßenköter."
Eine passende Erwiderung auf der Zunge, schließlich ist ein unreiner Straßenköter einem Wolf ähnlicher als ein unhöflicher Geier, beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wangen.
Zum einen ist es besser zu schweigen, auch wenn es mir schwerfällt. Zum anderen habe ich die Hoffnung zu erfahren, warum ich noch am Leben bin.
„Ich will ein paar Antworten. Sie war auf der Farm in einem Zimmer eingesperrt und trägt dieses Halsband. Alles deutet darauf hin, dass sie sich schon länger beim Rudel aufgehalten hat, aber doch nicht integriert war. Dennoch kann sie uns etwas darüber erzählen, falls es noch weiter Mitglieder gibt."
Ich hasse es, wenn über mich gesprochen wird, als wäre ich nicht da. Dennoch bleibe ich weiterhin still.
Beta Rasmus baut sich vor Leon auf und die Spannung ist fast schon greifbar. Er scheint Leons Vorhaben nicht gutzuheißen.
„Das hätte ihr auf der Farm machen können."
„Hätten wir", bestätigt Leon und hält Rasmus' Blick stand. „Aber wir müssen sicher sein. Mela hat gesagt, sie wurde von einer Wölfin angesprochen. Wenn sich Emily verwandelt, kann Mela erkennen, ob sie die Wölfin ist und dieses Rudel die Drahtzieher der Entführungen und Versteigerungen war."
Leons Worte lassen meinen Plan und meine Hoffnung einfach so verpuffen und es reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich habe das Gefühl, der Raum fängt an sich um mich zu drehen. In meinen Ohren klingeln schrille Alarmglocken.
Was noch besprochen wird, bekomme ich nicht mit. Denn vor meinem geistigen Auge spielen sich blutige Szenen ab, die allesamt mit dem Tod enden. Meinem und dem vieler anderer.
Das kann ich nicht zulassen. Ich darf mich nicht verwandeln!
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