Kapitel 4
„Hey! Ich will auch einen Märchenkuss!", rief Sofia neben ihnen. Sofort ließ der Mann Leo los, die immer noch wie erstarrt dastand. Langsam versuchte sie nachzuvollziehen, was gerade passiert war, aber ihr Kopf war wie leergefegt, und sie spürte nur den kühlen Wind auf ihren Lippen.
„Einen Märchenkuss?", fragte der Mann und kniete sich vor Leos kleine Schwester.
Sofia sah ihn mit großen Augen an, und er erwiderte den Blick mit einem leichten Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte. So aufgewühlt Leo auch war, ihr Wille, Sofia zu schützen, ließ sie schnell wieder zu sich kommen. Denn der Blick, mit dem der Mann ihrer kleinen Schwester ansah, war Leo nicht ganz geheuer. Es schien ein Feuer in seinen Augen zu brennen, das hoffentlich nichts mit Sofia zu tun hatte. Aber auch wenn dieses Funkeln in seinen Augen eigentlich ihr galt, war Leo sich nicht sicher, ob sie das gutheißen sollte.
„Geht Aschenputtel nicht zuerst auf den Ball?", warf Leo heiser ein, als sie zur Sprache zurückfand. Der Gedanke, dass der Sommersprossenmann ihre kleine Schwester küssen könnte, beunruhigte Leo noch mehr, als selbst von einem Mann geküsst zu werden. Einfach so. Kein Ball, kein ewiger Schlaf, kein Drache. Nicht wie in den Märchen. Dabei waren Männer ja in der richtigen Welt gefährlich, auch wenn Leo sich gerade nicht ganz sicher war, vor was sie sich eigentlich fürchten sollte. Der Sommersprossenmann war die netteste Person, die ihr je untergekommen war.
„Was ist ein Ball?", fragte der Mann.
„Da tanzen alle in ganz schönen Kleidern", sagte Sofia, die Tanzen fast mehr liebte als essen.
„Dann tanzen wir jetzt", sagte der Mann entschlossen. „Ein schönes Kleid hast du ja bereits."
„Das ist ein zu großes Hemd", sagte Sofia vorwurfsvoll. Aber jeder konnte sehen, dass ihr das Kompliment gefiel.
Mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen hielt der Sommersprossenmann Sofia eine Hand hin, die vor lauter Begeisterung kaum zu halten war. Schon wirbelten die beiden über die Wiese, und Sofias klares, helles Lachen erfüllte Leo mit einer tiefen Wärme. Trotzdem schlug ihr Herz ungewöhnlich schnell für die Situation, ihre Schultern waren leicht angespannt und sie war nervöser als bei einem nächtlichen Streifzug durch die heruntergekommensten Straßen der Stadt. Es war, als wolle ein Teil ihres Körpers sie warnen, während ein anderer Teil völlig fasziniert von diesem energiegeladenen, anmutigen Körper war, der Sofia durch die Luft wirbelte, als wöge sie nichts.
Seine Nähe hatte sich so gut angefühlt, aber auch fremd und überwältigend.
Bisher hatte Leo immer nur Angst vor Männern empfunden. Sie waren größer, stärker, fieser und, wie ihr Vater ihr immer wieder eingetrichtert hatte, durchaus heimtückisch. Dieser Mann schien das Gegenteil von dem zu sein, was Leo bisher kennengelernt hatte. Er hatte sie verzaubert.
Auf einmal dämmerte Leo etwas. Der Sommersprossenmann hatte sie verzaubert. Aber es war wichtig, dass sie dem Zauber nicht erlag, dass sie Sofia und sich schütze. Jahrelang hatte ihr Vater sie vor den Gefahren gewarnt, sie beschworen, niemals auf einen Mann hereinzufallen. Jetzt, da Leo nicht mehr die Augen von dem jungen Mann lassen konnte, begann sie zu verstehen, wie gefährlich dieser Zauber war.
Hastig sammelte Leo weitere Äpfel auf und legte sie in den Wagen. Noch nicht einmal halb voll. Das konnte noch dauern. Was würde geschehen, wenn Leo erneut dem Zauber erlag? Ihr Vater hatte ihr nie verraten, was genau einem dann widerfuhr, und das machte Leo Angst.
Hatte ihre Mutter ihr je von einem Märchen erzählt, in dem jemand verzaubert wurde? Wie brach man einen Zauber? Dornröschen hatte eine Fee in ewigen Schlaf gezaubert, aber ein Kuss hatte sie wieder geweckt.
Leo zog den Bollerwagen ein Stück weiter und kniete sich wieder hin, um Äpfel aufzulesen. Der Sommersprossenmann hatte Sofias Handgelenke gepackt und wirbelte sie so schnell im Kreis, dass sie flog. Hoffentlich ließ er nicht los.
Ein Prinz wurde in einen Frosch verwandelt, aber durch einen Kuss wurde er von dem Fluch erlöst.
Mit wild klopfendem Herzen hielt Leo inne und spähte zu dem Sommersprossenmann hinüber. Nun hielt er Sofia an einer Hand und ließ sie sich im Kreis drehen, dann führte er sie mal nach rechts, mal nach links, mit kleinen, eleganten Schritten.
Er war einfach zu schön, von seinen im Sonnenlicht glänzenden goldenen Haaren bis hin zu seinem geschmeidigen Gang. Es war nicht fair. Leo konnte gar nicht anders, als ihn anzusehen.
Das war kein Sommersprossenmann, das war ein Sommermann. Haare, golden wie Sonnenlicht, sommerwiesengrüne Augen und sanftrote Lippen. Wie die wilden Rosen, die manche der Häuser umrankten.
Leo fühlte sich ganz benommen durch den Zauber, Angst spürte sie kaum noch welche, obwohl das Zeichen der Raubritter nicht zu übersehen war.
In diesem Moment hielt der Sommermann inne und sah zu Leo herüber. Ihre Blicke trafen sich und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. Mit Sofia an der Hand kam er zu Leo herüber.
Ein Kuss, um den Zauber zu lösen. Der Gedanke wirbelte unaufhörlich in Leos Kopf und ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen. Etwas unbeholfen stand sie auf und sah den Sommermann beinahe furchtvoll an.
„Willst du tanzen?", fragte er sie und löste seine Hand aus Sofias Griff.
„Nein, danke", sagte Leo höflich und unterwürfig. Sie durfte ihm nicht vertrauen. Sie musste den Zauber lösen.
„Wie du willst." Mit einem selbstsicheren Schritt überbrückte der Sommermann den Abstand zwischen ihnen. Leo spürte seine kräftigen Hände an ihren Hüften. Sanft, aber bestimmt zog er sie zu sich heran. Leo wehrte sich nicht. Auf einmal fiel es ihr schwer, sich an ihr Vorhaben zu erinnern. Der Sommermann roch so gut nach warmer Wiese. Aber da war nochetwas, ein kühler Geruch nach alten, verborgenen Kellern. Der Geruch von Geheimnissen.
Das war alles nur ein Zauber. Sie schwebte in Gefahr. Aber warum fühlte es sich dann so gut an? Nur ein Kuss, dann würde sich der Zauber lösen. Nur ein einziger, gefährlicher, verlockender Kuss.
Ihr Herz raste wie wild, ihre Arme hingen hilflos an ihrer Seite herab. Alles fühlte sich so komisch an. Aber sie musste es hinter sich bringen. Für Sofias und ihre eigene Sicherheit. Leo nahm allen Mut zusammen, stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor.
Doch bevor sich ihre Lippen berühren konnten, glitten die Hände des Mannes unter ihr Oberteil, fuhren über ihren Rücken und Leo wich erschrocken zurück. Ihr Schrei war so leise, dass sie sich im Nachhinein nicht einmal sicher war, ob sie ihn sich nicht eingebildet hatte.
Irritiert und leicht besorgt sah der Sommermann sie an.
„Ich ... ich habe mich erschrocken", stammelte Leo, ihre Augen fest auf dem Boden. „Es tut mir leid." Das tat es wirklich, und es beunruhigte Leo zutiefst. Der Zauber war so stark, und sie hatte es nicht geschafft, ihn zu brechen.
„Ist schon gut. Du musst nicht", sagte der Sommermann sanft. „Wir rauben keine Mädchen. Eisernes Gesetz."
Leicht irritiert sah Leo ihn an, aber da hatte der junge Mann bereits begonnen, wieder Äpfel aufzulesen. Mädchen rauben – diesen Ausdruck hatte sie schon manchmal gehört, aber nie ganz verstanden. Das merkwürdigste war, dass die geraubten Mädchen meist noch da waren, nur der Glanz in ihren Augen fehlte. Leo wusste nicht, wie man den Glanz aus den Augen eines Menschen stahl, und sie wollte es auch gar nicht wissen.
Schweigend schenkte sie Sofia, die etwas verloren dastand, ein schwaches Lächeln und hob ein paar Äpfel auf. Sofia tat es ihrer großen Schwester nach. An den Falten auf ihrer Stirn konnte Leo erkennen, dass sie angestrengt nachdachte.
„Ist er jetzt dein Prinz?", fragte Sofia schließlich, als der Wagen schon fast voll war.
„Ich bin kein Prinz", sagte der Sommermann, als Leo nicht antwortete. „Und ich werde euch jetzt in Frieden lassen. Viel Glück, euch beiden."
Hin- und hergerissen sah Leo zu, wie der Sommermann die letzten Äpfel in den Bollerwagen legte und sich zum Gehen wandte. Sie wollte nicht, dass er ging und doch wusste sie, dass es falsch war, dass sie dem Zauber nicht erliegen durfte. Das Missverständnis würde sie schützen, und doch zerriss es ihr fast das Herz, ihn so gehen zu lassen.
„Kein Wort über den Mann zu Vater", ermahnte Leo Sofia bestimmt zum fünften Mal. Die beiden Schwestern mühten sich mit dem voll beladenen Bollerwagen ab, und obwohl es bereits dämmerte und kühl geworden war, lief ihnen der Schweiß von der Stirn. Diesmal schepperte der Wagen zwar nicht mehr, aber dafür blieb er alle fünf Schritte an einer Unebenheit hängen und der Wasserkanister schwappte ununterbrochen. Noch zwei Straßenzüge nach Hause. Es schien wie eine halbe Ewigkeit.
„Leo, ich kann nicht mehr", klagte Sofia.
„Dann lauf vor und hole Vater."
„Ich traue mich nicht", sagte Sofia leise. Leo konnte es ihr nicht verübeln. Es gab zu viele dunkle Ecken, in denen praktisch jeder lauern konnte, und immer wieder huschten Ratten und Katzen über die Straßen und strapazierten die sowieso schon angespannten Nerven. Nachts war dieser Teil der Stadt wohl mit Abstand der unheimlichste, wenn auch nicht der gefährlichste. Hier lebten einfach zu wenige Menschen, als das man vielen finsteren Kreaturen begegnen konnte. Aber Leo und Sofia waren nicht gerade leise mit ihrem Bollerwagen, und so war Leo mehr als nur erleichtert, als sie endlich ihr Haus erreichten und den Bollerwagen bei der versteckten Feuerstelle parkten.
Ein Topf stand bereits zwischen den züngelnden Flammen, aber von ihrem Vater war nichts zu sehen. Erst als er sich aus den Schatten der gegenüberliegenden Hauswand löste, bemerkte Leo ihn. In einer Hand hielt er eine alte, rostige Metallstange, mit der er jedem unwillkommenem Besucher wohl den Kopf eingeschlagen hätte. Instinktiv duckte Leo sich ein wenig, aber ihr Vater stellte die Metallstange bloß in eine Ecke.
„Gute Arbeit, Mädchen", sagte er und holte eine Plane aus dem Haus, die sie über den Bollerwagen spannten, damit kein Tier in der Nacht die Äpfel wegfraß.
„Ich habe sogar heute Geld mitgebracht", sagte Leo.
„Ich weiß. Heute war ein guter Tag." Ihr Vater setzte sich ans Feuer. „Wurde auch Zeit."
Leo wusste, dass das eine Anspielung auf ihre reichlich erfolglosen Tage davor war, aber sie sagte nichts. Ihr Vater hatte gute Laune, und dabei wollte sie es belassen.
„Die Bäume haben gut getragen", sagte Leo und setzte sich neben Sofia ans Feuer. Ihre Arme taten weh vom Bollerwagenziehen, und ihre Gedanken waren immer noch auf der grünen Spätsommerwiese. Trotzdem war ihr warm ums Herz.
„Leo, waren heute Raubritter auf dem Markt?", fragte ihr Vater plötzlich.
„Ja, wieso?", fragte Leo leicht beunruhigt. Wieder sah sie den Prinzen vor sich, spürte die Blicke, die Furcht. Aber obwohl sie sogar mit einer Belohnung aus der Situation hervorgegangen war, hatte Leo das Gefühl, dass es ihrem Vater nicht gefallen würde, dass sie so viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Zum Glück fragte er jedoch nicht in diese Richtung weiter.
„Dann gehst du Morgen auf den Markt, Äpfel verkaufen", ordnete ihr Vater an. „Hoffen wir, dass die Raubritter nicht zwei Tage hintereinander den Markt heimsuchen."
„Meistens nicht", sagte Leo. Sie mochte es, zu verkaufen. Ein wenig mit den Leuten reden, aber vor allem keine Angst vor ihnen haben zu müssen. Jeder Tag ohne stehlen war eine Erleichterung.
„Darf ich auch mit?", fragte Sofia voller Vorfreude.
„Nein. Du wirst die restlichen Äpfel verarbeiten", sagte ihr Vater. Damit war die Sache geklärt. Niemand, der noch ganz bei Sinnen war, gab Leos Vater Widerworte. Den ganzen Tag arbeitete er in einer Metallfabrik, die einem der Reichen der Stadt gehörte. Um in seiner Fabrik nicht zugrunde zu gehen, musste man härter sein als das Metall, das man verarbeitete.
Der Himmel über ihnen war übersät mit Sternen, nur wenige Wölkchen zogen vorbei. Das Knistern des Feuers fraß die meisten Geräusche, aber hin und wieder hörte man eine Eule rufen oder das Tippeln einer vorbeihuschenden Maus. Endlich war die Kohlsuppe fertig und alle drei löffelten hungrig ihren Teller leer. Danach gab es sogar einen Apfel für jeden, und Leos Bauch wölbte sich wohlig. Lächelnd rieb sie sich den prallen Magen, und bemerkte erst gar nicht, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Vaters veränderte. Als sie jedoch sah, wie tief er die Augenbrauen zusammenzog, rutschte sie erschrocken ein Stück zurück. Woher der plötzliche Launenwandel kam, wusste sie nicht, aber das war nicht wichtig. Wichtig waren die Konsequenzen. Leo fragte sich, ob sie es rechtzeitig zwischen Sofia und ihren Vater schaffen würde, wagte es jedoch nicht, sich zu bewegen.
„Einer meiner Kollegen", sagte ihr Vater mit leiser, bedrohlicher Stimme, „hat heute erzählt, dass seine Tochter von einem Raubritter geraubt wurde. Dabei rauben die Ritter niemanden gegen ihren Willen." Leos Vater legte eine Pause ein, in der die Stille noch bedrückender als sonst wirkte. Trotzdem war Leo insgeheim erleichtert darüber, dass es sich nur um eine der Warnungen handelte, die ihr Vater in regelmäßigen Abständen verkündete.
„Es gibt immer wieder Mädchen, die dumm genug sind, freiwillig mitzukommen." Finster stocherte Leos Vater mit einem Stock im Feuer, und Funken stoben in die Luft. „Ich möchte nicht, dass meiner Tochter je dasselbe passiert."
„Ich würde nie ...", begann Leo und versuchte, das schlechte Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren. Sie hatte sich doch gegen den Sommermann gewehrt, also war alles in Ordnung, oder?
„Das weiß ich doch." Leos Vater lehnte sich erschöpft zurück. „Aber denk immer dran: Sie wollen nicht dich, nur deinen Körper. Sobald du ihnen alles gegeben hast, haben sie kein Interesse mehr an dir. Dann bist du wieder alleine. Oder schlimmer noch: Dann hast du wahrscheinlich ein Kind. Das können wir nicht auch noch durchbringen."
Leo nickte, dabei verstand sie nicht viel. Manchmal, wenn ein Mann aus der Stadt versucht hatte, sie zu berühren, hatte sie sich ganz komisch gefühlt. Sie vermutete, dass ihr Vater das mit rauben meinte, aber wie man davon ein Kind bekommen sollte, war Leo schleierhaft. Leos Vater redete nicht gerne über Märchen, aber darüber, wie Kinder auf die Welt kamen, hatte er noch nie ein einziges Wort verloren. Einmal, als Leo gefragt hatte, hatte er sie sogar zur Antwort geschlagen.
Ob der Sommermann Leo rauben wollte? Er war so nett gewesen, und seine Berührungen hatten sich gar nicht schmierig angefühlt. Trotzdem hatte Leo ein ziemlich ungutes Gefühl, wenn sie an ihn dachte. Er hatte sie verzaubert, und plötzlich sehnte sie sich nach einem Mann, vor dem sie sich ansonsten ihr Leben lang gefürchtet hätte. Was, wenn das der Grund war, weshalb sich manche Mädchen freiwillig rauben ließen? Leo musste den Sommermann unbedingt finden und den Zauber lösen, selbst wenn das bedeuten würde, ihn noch einmal zu küssen.
Oder vielleicht auch gerade deswegen.
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