Kapitel 3
Stechender Schmerz fuhr durch Leos Schulterblätter. Ob die Frau gerade Rücken an Rücken mit ihr stand, nur durch eine poröse Schicht Stein getrennt, oder ob sie es in den Keller geschafft hatte?
„Sag es!", schrie der Mann so laut, dass Leo heftig zusammenzuckte. Eine seltsame Kälte hatte sich in ihr breitgemacht, wie immer, wenn sie zu viel Angst hatte, um sich zu fürchten.
„Wer?", fragte Leo, und bereute das sofort. Der Schlag in die Seite tat nicht allzusehr weh, ließ aber ahnen, dass noch weit Schlimmeres folgen konnte.
„Eine Frau ist gerade eben in das Haus hier reingelaufen", gestand Leo schnell. Es fühlte sich schlecht an, sie so einfach zu verraten, aber es fühlte sich noch schlechter an, nicht zu wissen, wo Sofia gerade war. Noch nie in ihrem Leben waren Leo so vielen Raubrittern auf einmal begegnet, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Ein falsches Wort von Sofia und alles, was man von ihnen finden würde, waren wahrscheinlich ein paar Finger und viel zu viel Blut.
Dieser Gedanke war schlimmer als alle Schläge, die man Leo androhen konnte.
„Sie ist in das Haus!", brüllte der Raubritter so laut, dass es Leo in den Ohren schmerzte, und sofort sprang jemand neben ihr durchs Fenster und ein anderer trat die Tür ein. Es waren so viele. So viele wegen einer einzigen Frau. Leo wagte nicht einmal daran zu denken, was ihr geschehen würde. Hoffentlich bot der Keller genügend Versteckmöglichkeiten.
„Hat sie etwas zu dir gesagt?", verlangte der Mann zu wissen, nun nicht mehr ganz so vehement. Trotzdem war er Leo für ihren Geschmack immer noch viel zu nahe und seine breiten Schultern, die sie von der Sonne abschirmten, beunruhigten sie. Im Vergleich fühlte Leo sich viel zu klein, zu schmal und vor allem zu hilflos.
„Nein, nichts", sagte Leo.
„Das hoffe ich für dich", sagte der Mann kühl. „Sollte uns etwas anderes zu Ohren kommen ..." Er ließ den Satz unbeantwortet, sah Leo jedoch nicht einmal mehr an, bevor er ins Haus verschwand.
Einen Moment lang blinzelte Leo gegen das Sonnenlicht an, dann sah sie, dass nur noch wenige Raubritter in den umliegenden Straßen standen. Aber einer war noch in der Nähe ihres Bollerwagens. Sofia stand vor ihm. Klein, zierlich und irgendwie zerbrechlich in ihren viel zu weiten, viel zu oft geflickten Klamotten. Ihre Haare schienen noch strubbeliger als sonst, ihre Wangen waren mit Asche beschmutzt, und vor ihr stand ... der Prinz.
Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Hinter Leo rumste, knirschte und polterte es, während die Raubritter das Haus auf den Kopf stellten, aber von der Frau war noch immer nichts zu hören. Trotzdem fühlte Leo sich schlecht und ihre Beine waren immer noch butterweich. Erst als sie auf Sofia zukam, spürte sie, wie sich der Löwe in ihr zu regen begann. Der Löwe, der bereit war zu kämpfen, sollte der Prinz ihrer kleinen Schwester auch nur ein Haar krümmen. Der Löwe, der nicht kämpfen würde, weil sonst alles nur noch schlimmer werden würde.
Aber Sofia schien zum Glück nicht in Gefahr zu sein, im Gegenteil.
„Was macht Aschenputtel denn mit einem Bollerwagen und einem Wasserkanister?", fragte der Prinz gerade. Leo hielt abrupt inne. Sie traute ihren Ohren nicht.
„Äpfel sammeln. Ich suche nämlich etwas zu essen und einen Prinzen", sagte Sofia. Sie schien keine Angst vor dem Raubritter zu haben, und die Art, wie sie von einem Prinzen redete, verriet, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wer da vor ihr stand. Manchmal fragte Leo sich, wie ein aufgewecktes, sechsjähriges Mädchen übersehen konnte, dass der Mann vor ihr ein halbes Gesicht aus Stoff hatte. Oder stellte Sofia sich den Prinzen einfach ganz anders vor?
„Zwei grundlegende Dinge im Leben, da bin ich mir sicher." Der Prinz schmunzelte leicht. „Aber braucht das Aschenputtel nicht drei Haselnüsse?"
„Das stimmt", sagte Sofia unbekümmert, als wäre nichts dabei, aber Leo spürte, wie es ihr kalt ums Herz wurde. All die Jahre hatte sie die Märchen wie ein Geheimnis empfunden, das sie immer noch mit ihrer Mutter verband. Nie hätte sie geglaubt, dass auch andere Menschen die Geschichten kennen könnten. Schon gar nicht der Prinz.
„Ich habe leider keine Nüsse für dich", sagte der Prinz sanft. „Aber ich habe eine Frage: Hat die Frau, die hier gerade vorbeigekommen ist, etwas gesagt?"
Das war also der Grund, weshalb er so freundlich tat. Leider schien Sofia ohne die geringsten Bedenken auf ihn hereingefallen zu sein. Wofür hatte Leo ihr bloß Tag für Tag eingetrichtert, dass die Raubritter gefährlich waren? Leos Gesichtsausdruck verfinsterte sich, aber sie wagte es nicht, weiter vorzutreten. Jede falsche Bewegung konnte sie und ihre Schwester in Gefahr bringen.
Einen Moment lang zögerte Sofia, dann entdeckte sie Leo, die hinter dem Prinzen stand, und sah Hilfe suchend zu ihr auf.
„Nein", sagte Sofia nach ein paar quälend langen Sekunden.
„Gut." Der Prinz nickte, dann wirbelte er herum und packte Leo am Kragen. Hielt inne und ließ sie wieder los. „Mit dir hat schon jemand geredet, richtig?"
Leo nickte eingeschüchtert. „Angeschrien" wäre wohl zutreffender gewesen.
„Dich kenne ich doch", sagte der Prinz leise. In seiner Stimme klang nun etwas Lauerndes mit, von der Sanftheit, die er Sofia gegenüber an den Tag gelegt hatte, war nichts übrig geblieben.
Leo war dem Prinzen heute auf dem Markt nicht zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Ehrlich gesagt verging kaum ein Tag, an dem Leo ihn nicht sah, aber sie hätte nicht gedacht, dass er sich an sie erinnern würde. Naja, nach der heutigen Aktion vielleicht schon.
„Ist dir das Pferdefutter gut bekommen?", fragte der Prinz. Ein blaues und ein schwarzes Auge durchbohrten Leo, während leicht raue und doch weiche Finger ihr Kinn anhoben. Finger aus Stoff. Leo schauderte, traute sich jedoch nicht, sich aus seinem Griff zu befreien. Der stechenden Blick des Prinzen durchbohrte sie für einen quälend langen Moment, dann wandte er gelangweilt den Blick ab. Erst als er Leo losließ, fiel ihr wieder ein, zu atmen. Sie schnappte nach Luft, taumelte einen Schritt zurück und wäre beinahe über ihren Bollerwagen gefallen, hätte der Prinz sie nicht blitzschnell gepackt und am Kragen zurückgezogen.
„Danke", sagte Leo leise, und als der Prinz sie leicht verwundert ansah, fügte sie hinzu: „Für heute Morgen."
„Wir Raubritter sind vielleicht nicht nett, aber wir sind keine Unmenschen", sagte der Prinz. Da schien Sofia endlich zu dämmern, dass es sich bei den Männern um niemand anderes als um die Raubritter handelte. Mit großen Augen starrte sie den Prinzen an, obwohl Leo ihr zwar oft, aber nur sehr vage von den Gräueltaten der Raubritter erzählt hatte. Auch Leo hatte ihre Gesichtszüge nicht ganz unter Kontrolle. Zu lebhaft konnte die sich vorstellen, was mit dem Metallschmied geschehen war.
Die Miene des Prinzen wurde dunkel und Leo hob beinahe reflexartig die Arme vors Gesicht. Aber kein Schlag folgte. Stattdessen kam der Prinz einen Schritt auf sie zu, Leo wich einen Schritt zurück, schrie auf und landete im Bollerwagen. Der Prinz beugte sich über sie, sein Gesicht gewitterwolkenböse, aber auch mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen, das Leo fast noch mehr beunruhigte.
„Leo, was macht er da?", mischte sich in diesem Moment Sofia ein, die bis dahin nur mit großen Augen das Geschehen verfolgt hatte. Der Prinz erstarrte.
„Er ..." Leo sah den Prinzen verunsichert an, wandte jedoch schnell wieder den Blick ab.
„Manchmal müssen sich Erwachsene gegenseitig daran erinnern, welche Position sie haben", sagte der Prinz und zog Leo nicht sonderlich sanft aus dem Wagen. Sofia sah ihn ratlos an.
„Das ist ein bisschen so wie mit Vater", sagte Leo. Daraufhin sah Sofia zwar sehr betroffen aus, aber immerhin wandte sich der Prinz abrupt ab und lief zu einem der anderen Raubritter.
Leo blieb verdattert und erleichtert zurück.
Kurz darauf zogen Leo und Sofia mit ihrem Bollerwagen davon, begleitet von einem jungen Mann, dessen Gesicht nur aus Sommersprossen zu bestehen schien.
Soweit Leo das aus den Gesprächen der Raubritter herausgehört hatte, hatte man zwar die Frau gefasst, es schien jedoch kein Interesse daran zu bestehen, sie öffentlich abzuführen oder gar hinzurichten, worüber Leo mehr als nur dankbar war. Einen solchen Anblick wollte sie Sofia wirklich nicht zumuten.
Aber auch auf den Raubritter, der sie auf Tritt und Schritt begleitete, hätte sie gerne verzichtet. Der junge Mann beunruhigte sie. Ließ man sie überwachen? Oder steckte ein anderer Plan dahinter? Was immer es war, es konnte nicht gut sein. Leo war auf der Hut und sie konnte nur hoffen, dass auch Sofia keine Dummheiten anstellte.
Stumm trotteten sie neben dem Sommersprossenmann her. Der große Mann sah nicht viel älter als achtzehn aus. Zwei Jahre älter als Leo. Ihn hätte sie ohne zu zögern als Mann bezeichnet, aber obwohl viele Mädchen in Leos Alter bereits verheiratet waren, fühlte sie sich nicht gerade wie eine Frau. Der Prinz hatte sie „Erwachsene" genannt, während sie selbst in sich immer nur das Kind gesehen hatte. Das Mädchen, das auf seinen Vater angewiesen war. Aber bevor Leo sich weiter Gedanken machen konnte, hatten sie bereits die Apfelwiese erreicht. Sie war nicht sonderlich groß, aber dieses Jahr trugen die Bäume gut, und nicht viele Menschen machten sich die Mühe, für ein paar Äpfel bis nach hier draußen zu laufen.
Der Sommersprossenmann war stehengeblieben, und so hielt Leo sicherheitshalber ebenfalls an. Angespannt beobachtete sie jede seiner Bewegungen, wartete förmlich auf eine Bedrohung. Der Raubritter verhielt sich so untypisch. Das war noch beunruhigender, als wenn er ununterbrochen mit einem Messer gespielt hätte. Was wollte er? War das ein Test?
„Braucht ihr Hilfe?", fragte der junge Mann unvermittelt. Leo klappte die Kinnlade herunter. Sie verstand die Welt nicht mehr. Am liebsten wäre sie einfach umgedreht und weggerannt, aber Wegrennen kam nicht infrage. Wegrennen kam nie infrage.
„Ihr habt uns einen Dienst erwiesen. Da ist es nur gerecht, eure Hilfe zu erwidern." Der Mann sah Leo an, und sie konnte keinen Spott, keine Falschheit in seinem Gesicht erkennen. „Wer zu uns hält, hat nichts zu fürchten."
Leo dachte an die Frau, die sie verraten hatte, fragte sich, was sie an ihrer Stelle empfinden würde. Ihr wurde übel.
Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie musste Sofia beschützen. Aber selbst das gelang ihr gerade nicht. Warum sagte der Raubritter nicht einfach, was er wollte? Oder warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe?
„Danke, aber wir schaffen das schon", sagte Leo leise und höflich, wobei sie den Blick nicht vom Boden nahm. Da trat der Mann vor sie, langsam, wie um sie nicht zu erschrecken. Hände legten sich auf Leos Schultern, so sanft dass sie es im ersten Moment kaum wahrnahm. Leo erstarrte.
„Der Frau wird nichts geschehen. Keine Finger ab, kein Blut." Endlich nahm er die Hände von ihren Schultern. „Das war etwas anderes."
Leo hielt den Blick weiterhin gesenkt und hoffte inständig, dass er sie einfach in Ruhe lassen würde. Sie wagte es kaum, dem Mann zu glauben, so gerne sie das auch getan hätte. Etwas an ihm wirkte so vertrauenswürdig. Sein Lächeln. Wie er sprach. Aber sie durfte ihm nicht vertrauen. Niemand war einfach so nett.
„Sie ist eine von uns", sagte der Sommersprossenmann leise. „Aber behaltet bitte für euch, was ihr gesehen habt. Zu ihrer und eurer Sicherheit." Leos Gedanken überschlugen sich. Frauen bei den Raubrittern? Das hätte sie nicht für möglich gehalten, aber jetzt, da der Mann es sagte, erschien es ihr irgendwie logisch. Wäre sie eine Frau der Raubritter, würde sie wahrscheinlich auch wegrennen. Aber immerhin würde die Frau am Leben bleiben. Es war, als habe der Sommersprossenmann eine große Last von ihren Schultern genommen.
Trotzdem regte sich etwas tief in Leo, eine Furcht, die zu groß war, um sie zuzulassen. Normalerweise sagten die Raubritter nicht „bitte". Sie drohten einem, ließen einen auf den Knien versprechen, dass man nie auch nur ein Wort verraten werde. Dass der Mann „bitte" sagte, ließ Leo befürchten, dass diese Situation ernster war. Gefährlicher.
Und dass die Raubritter sich alle Mühe gaben, das zu verheimlichen.
„Hat sie etwas zu euch gesagt?", fragte der Mann diesmal Sofia. Es klang nebensächlich, höchstens milde interessiert.
„Nein, hat sie nicht", antwortete Leo schnell an Sofias Stelle.
Der Raubritter wandte sich ihr zu und Leo schrumpfte in sich zusammen, obwohl er nicht einmal vorwurfsvoll dreinschaute. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, er würde sie einfach schlagen. Dann wüsste sie wenigstens, dass sie ihn zu fürchten hatte. Dass er nur freundlich tat, um sie hereinzulegen. Dann müsste sie nicht gegen sich selbst kämpfen, nicht den Wunsch nach Vertrauen, unterdrücken.
„Du hast das Richtige getan", sagte der Mann leise aber mit einer solchen Bestimmtheit in seiner Stimme, dass Leo nicht anders konnte als ihm zu glauben. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, nahmen seine Augen sie gefangen. Sommerwiesengrüne Augen, die mit goldenen Sprenkeln überzogen waren, als ob das Sonnenlicht darin gefangen wäre. Jetzt, da die Anspannung langsam von Leo abfiel, spürte sie die Nähe des Mannes wie ein warmes Prickeln auf ihrer Haut. Immer, wenn sie einem Mann so nahe gewesen war, hatte sie Angst gehabt, aber was sie nun empfand war noch beunruhigender. Ihr Vater hatte sie gewarnt. Männer waren am gefährlichsten, wenn man sie nicht mehr fürchtete.
Endlich wandte der Mann den Blick ab und der Zauber war gebrochen. Leos Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie traute sich nicht, den Mann zu bitten, zu gehen.
„Ich helfe euch", sagte der Sommersprossenmann, und schon begann er, Äpfel aufzulesen und in den Bollerwagen zu legen. Sofia, die etwas ratlos zwischen dem Mann und ihrer Schwester hin und hergesehen hatte, kniete sich neben ihn und half mit.
Leo atmete tief ein, dann kniete sie sich zu den beiden. Die Angst davor, ihm zu widersprechen war größer als die ständige Beunruhigung, die mit seiner Anwesenheit einherging. Auch wenn sein Verhalten etwas anderes sagte, war er immer noch ein Raubritter. Ein Mann, der nicht zögerte, aufmüpfige Menschen in Stücke zu zerlegen. Dass Leo die Aufmerksamkeit der Raubritter auf sich gelenkt hatte, war eine Katastrophe, aber noch war nichts verloren. Solange sie aufpasste, keinen falschen Schritt machte. Solange Sofia sich nicht verplauderte.
„Wer seid ihr eigentlich?", fragte der Sommersprossenmann, nachdem Leo nach kurzem Zögern zwischen ihn und Sofia gerückt war.
Leos Herz überschlug sich. „Leo", sagte sie schließlich, nachdem ihr nichts eingefallen war, wie der Mann ihren Namen gegen sie verwenden konnte.
„Aschenputtel", sagte Sofia. Leo wünschte sich, sie selbst hätte ebenfalls irgendetwas verrücktes wie zum Beispiel „Dornröschen" gesagt. Der Mann legte leicht verwundert den Kopf schief.
„Komischer Name. Aber er passt zu dir. Du hast sogar Asche auf den Wangen."
„Und an den Händen", sagte Sofia stolz und streckte dem Mann ihre kleinen, schmutzigen Hände entgegen.
„Putz sie ab", sagte Leo schmunzelnd. „Die Äpfel werden ja ganz dreckig."
Gehorsam wischte Sofia ihre Finger an ihrer Hose ab, was jedoch aufgrund des Zustands der Hose keinen großen Unterschied machte. Da lachte der Sommersprossenmann ausgelassen und reichte ihr ein Tuch, das zwar auch nicht das Sauberste, aber immerhin besser als Sofias Hose war. Schließlich stimmte Sofia in das offene, herzliche Lachen des Mannes ein, eine hohe, zarte die Stimme, die Leo nachts in ihren Träumen begleitete und die sie wohl nie vergessen würde, egal wie viele Jahre ins Land gingen.
Es war, als habe der Sommersprossenmann einen Bann gebrochen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Leo jemanden an, ohne sich zu überlegen, inwiefern er ihr nützlich oder gefährlich werden konnte. Sie sah ihn einfach nur an, weil er schön war, weil sie spürte, wie sie zu lächeln anfing, wenn er lächelte. Weil sie zu hoffen wagte, dass nicht alle Menschen so gemein und gefährlich waren, wie ihr Vater ihr immer einschärfte.
„Und du? Bist du ein Prinz?", fragte Sofia. Leo hielt beim Äpfelauflesen inne. Die Erwähnung eines Prinzen in der Nähe eines Raubritters versetzte sie in Unruhe. Aber nicht so sehr, wie sie es eigentlich sollte. Leo ertappte sich sogar dabei, wie sie den Sommersprossenmann eher neugierig als furchtvoll ansah. Seine Gesichtszüge waren so freundlich, und das Lächeln war nicht von seinen Lippen gewichen. Es fiel Leo von Minute zu Minute schwerer, diesen Menschen zu fürchten.
„Nein, ich bin kein Prinz. Aber ich kenne einen Prinzen", sagte der Sommersprossenmann.
„Der Prinz hat Stoff im Gesicht, stimmt's?", fragte Sofia und zog sich ihr Flickenhemd über die Nase. Leo wurde blass und warf dem Mann einen beunruhigten Blick zu, aber der zwinkerte ihr nur zu und lächelte Sofia belustigt an.
„Ja, so in etwa", sagte er. Leo sagte gar nichts. Sie war zu durcheinander.
Ihr Leben lang hatte sie die Raubritter gefürchtet wie sonst nichts auf der Welt. Eine falsche Bewegung, und es folgten Schläge schlimmer als ein Gewitter. Ernsthafter Widerstand, und alles was übrig blieb, waren ein Ohr, ein Fuß und jede Menge Blut.
Aber dann, als Leo glaubte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, geschah nichts. Und jetzt laß sie Äpfel auf, neben ihr ein Mann mit Augen wie eine Sommerwiese, und beinahe hätte sie vergessen, dass auch er einer der Raubritter war. Beinahe wäre sie seinem warmen Sonnenlächeln auf den Leim gegangen.
Sollte sie diese neue Seite der Raubritter gut finden, oder doch auf ihr angespanntes, unruhiges Gefühl hören? Und was war erst mit Sofia, deren erste Begegnung mit den Raubrittern wie in einem Märchen verlief? Was würde geschehen, wenn sie sich in falscher Sicherheit wog?
Würde dann Gewisper über Aschenputtel die Geschichte des Metallschmieds ersetzen?
„Seit wann muss Aschenputtel eigentlich Äpfel auflesen?", fragte Sofia. Inzwischen war der Boden des Wagens mit Äpfeln bedeckt, und Leo kam nicht drumherum festzustellen, dass der Sommersprossenmann eine große Hilfe war.
„Nachdem Aschenputtel mit ihren Nüssen aus dem Wald kam, schickte ihre böse Stiefmutter sie zum Äpfelsammeln", sagte Leo. Letztes Mal hatte Aschenputtel den Fußboden schrubben müssen, aber es ging schließlich nichts über eine lebhafte Fantasie.
„Und weiter?", fragte Sofia mit leuchtenden Augen. Der Sommersprossenmann sah Leo neugierig an. Leo sah weg. Im ersten Moment fühlte es sich für sie komisch an, vor diesem fremden Mann ein Märchen zu erzählen, aber irgendwie gefiel es ihr auch. Irgendwie gefiel ihr, wie er sie dabei ansah, auch wenn es ihr Herz in Aufruhr versetzte.
„Als Aschenputtel auf die sommergrüne Apfelwiese mit den herbstroten Äpfeln kam, wusste sie, dass eine Veränderung bevorstand", sagte Leo, wobei sie ihrer kleinen Schwester sanft über die mit Asche beschmierte Wange strich. Sich auf Sofia zu konzentrieren half, um überhaupt einen Ton über die Lippen zu bekommen. „Aber sie ahnte natürlich nicht, welches Ausmaß diese haben würde. Und sie ahnte nicht, dass der Mann mit dem Federhut der Prinz war."
„Der Prinz?", fragte der Sommersprossenmann. In seine grünen Augen war ein gefährliches Schimmern getreten.
„In jedem Märchen gibt es einen Prinzen", sagte Sofia, als wäre das das selbstverständlichste auf der Welt.
„Nicht euer Prinz. Irgendein Prinz. Diesmal Aschenputtels Prinz", erklärte Leo. Ihre Unruhe ließ langsam nach, zumal es ihr nicht gefährlich erschien, vor einem Raubritter eine Geschichte zu erzählen. Das war nicht verboten, da war sie sich sicher.
„Während Aschenputtel mit einem alten, selbstgebauten Bollerwagen auf die Apfelwiese kam, war der Prinz in Begleitung seiner Freunde. Pfeil und Bogen hatte er im Anschlag, die Pfeilspitze zielte auf einen besonders roten Apfel."
„Auf einen Apfel?", fragte Sofia verständnislos. „Wer schießt denn auf einen Apfel?"
„Der Prinz hatte keinen Hunger. Er jagte nicht nach Essen, sondern aus Vergnügen. Und außerdem war er der beste Jäger weit und breit. Er traf immer, auch diesen roten Apfel, der daraufhin vom Baum fiel und in Aschenputtels Wagen landete."
Verträumt lächelnd entlud Leo einen Arm voll Äpfel auf den Bollerwagen und hielt irritiert inne.
„He. Nicht aufhören zu arbeiten. Sonst erzähle ich nicht weiter", sagte sie schmunzelnd und verschluckte sich im nächsten Moment vor Schreck. Wie hatte sie zulassen können, dass die Situation so vertraut wurde, dass sie nicht mehr aufpasste, was sie da sagte?
Aber der Raubritter schien ihr ihre Frechheit nicht im Geringsten übel zu nehmen. Sofia klappte ihren Mund zu und der Sommersprossenmann las schnell ein paar Äpfel auf. Die beiden schienen so begeistert von der Geschichte, dass Leo verlegen wurde. Augenblicklich vergaß sie, wie die Geschichte eigentlich weitergehen sollte.
„Und jetzt?", fragte Sofia, als von Leo nichts mehr kam. „Jetzt kommt der Prinz zu ihr, stimmt's?"
„Äh, ja", sagte Leo. Ihre Wangen wurden leicht rot, aber ihr wollte einfach nichts mehr einfallen.
„Und dann wurde Aschenputtel rot wie der Apfel, den der Prinz vom Baum geschossen hatte", sagte der Sommersprossenmann schmunzelnd und stand auf.
„Äh ja. Moment, nein!" Empört sah Leo zu ihm auf, was gar keine gute Idee war. Die Situation geriet außer Kontrolle und Leo wusste nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Ihre Zurückhaltung gegenüber den Raubrittern vermischte sich damit, wie sie meistens mit Sofia redete, und ließ sie orientierungslos zurück.
Nimm dich vor Männern in Acht!, wiederholte sie die Worte ihres Vaters in ihrem Kopf. Am gefährlichsten sind sie, wenn du sie nicht fürchtest.
Gut, dass Leo sich fürchtete, dass ihr Herz raste, als sei sie auf der Flucht. Schlecht, dass ihr dieses Gefühl irgendwie gefiel. Und noch schlechter war, dass Leo ganz leicht im Kopf wurde und sie zuließ, dass der Sommersprossenmann ihre letzte Vorsicht davonzauberte. Es war, als wäre Leo Hals über Kopf in ein Märchen gefallen.
Hin und wieder war es vorgekommen, dass ein Mann Leo zu nahe gekommen war. Dann war sie weggelaufen. Aber nie waren es Raubritter gewesen und nie hatte Leo sich dabei so durcheinander gefühlt. Sie lief nicht weg.
Auf einmal waren da wieder die Hände des Sommersprossenmanns auf ihren Schultern, erst leicht, wie herabfallende Blätter, dann kräftig. Seine Augen waren so nahe, dass Leo jeden Sonnensprenkel darin erkennen konnte. Hilflos sah sie ihn an, stand da wie erstarrt, während gemischte Gefühle über sie hereinbrachen. Ihre Arme hingen an ihrer Seite herab, die Hände krampfhaft geschlossen.
Seine Hände fuhren in ihre Haare, er legte den Kopf schief und Leo spürte warme Lippen auf ihren. So fühlte sich also ein Märchenkuss an. Warm wie der Sommer, fremd und drängend und schmeckte ein wenig nach Apfel.
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