Kapitel 28
Leo sah ihm nach. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass dieser Mann, der sie kaum kannte, ihr mehr zu vertrauen schien als sie sich selbst. Was gab ihm nur diese Gewissheit, dass sie da sein würde? Und doch war sie sich plötzlich sicher, dass sie da sein würde. Er würde Essen mitbringen. Er würde ihr Überleben sichern. Obwohl es Leo nicht richtig gefiel, von jemandem abhängig zu sein, nahm es doch eine große Last von ihren Schultern. Sie wartete noch einen Moment schweigend, in Gedanken versunken. Voller Zweifel und Zuversicht zugleich.
„Sofia?" Leo riss ihren Blick von der Tür los und wandte sich ihrer kleinen Schwester zu, die ebenfalls wie gebannt dorthin starrte, wo der Prinz noch vor kurzem gestanden hatte. „Lass uns losgehen."
Langsam stand Sofia auf. „Jetzt wird alles gut, oder?"
„Ja", sagte Leo sanft, zog ihren Rucksack an und nahm das Messer wieder in die Hand. „Jetzt wird alles gut."
„Wohin gehen wir?", wisperte Sofia, als sie schon nach der ersten Abzweigung den vom Prinzen beschriebenen Weg verließen. Leo kniete sich auf den Boden und suchte nach einem Blutfleck, den sie auf ihrem Weg zu Sofia immer etwa auf Kniehöhe hinterlassen hatte.
„Hier", sagte sie schließlich leise und deutete einen Gang hinab. „Wir befreien die anderen Kinder. Wir können sie nicht hierlassen."
„Aber sie können auch nicht mit uns fliehen. Der Prinz fände das bestimmt nicht gut."
„Wenn er uns entkommen lässt, hat er bestimmt auch nichts dagegen, wenn wir die anderen mitnehmen", entgegnete Leo. Nicht, dass sie auch nur ein Wort davon selbst geglaubt hätte. Aber damit musste sich der Prinz wohl abfinden. Leo hatte ihn schließlich nicht gebeten, mit ihnen zusammen gemeinsame Sache zu machen.
Entschlossen folgte sie der Spur aus Blut durch die Stadt der Raubritter. Immer noch fiel es ihr schwer, dass hinter all diesen Türen Menschen lebten. Fernab von Sonne, die durch Fenster scheinen konnte, fernab von Vögeln, die sangen. Wieso so mächtige Menschen ein so schreckliches Zuhause wählten, konnte Leo einfach nicht verstehen.
Nur einmal hörten sie Schritte, aber es gelang ihnen rechtzeitig, sich zu verstecken, bis der Raubritter vorübergegangen war. Sie schienen eine gute Zeit erwischt zu haben - es waren kaum Raubritter unterwegs. Leo war klar, dass sie das dem Prinzen zu verdanken hatten.
Als sie die Verliese erreichten, sog Sofia deutlich hörbar die Luft ein. Ein paar der Gefangenen schliefen schon, und auch das ohrenbetäubende Schnarchen, was Leo bei ihrem ersten Besuch aufgefallen war, war wieder zu hören. Aber manche waren noch wach und sahen die beiden mit großen Augen an. Ihre Blicke waren müde, als hätten sie sich schon fast aufgegeben, aber trotzdem war da noch ein Funke Hoffnung, der aufblitzte, als Sofia und Leo ins Licht traten. Leo gehörte nicht wirklich zu der mitfühlenden Sorte, trotzdem wischte der Anblick der Menschen ihren letzten Zweifel beiseite. Sie hatte sich für das Richtige entschieden.
„Wie kann ich euch hier rausholen?", wisperte sie und trat einen Schritt näher an die Gefängnisse heran. Weitere Menschen öffneten die Augen, und Leo konnte das Erstaunen auf dem Gesicht der Kinder und Erwachsenen sehen. Jeder schien auf sie gehofft zu haben, aber keiner hatte wohl geglaubt, dass sie wirklich kommen würde, um sie zu retten.
Vorsichtig lugte Sofia an Leo vorbei, fest an ihren Arm geklammert.
„Alle Türen lassen sich mit demselben Schlüssel öffnen", flüsterte einer der Jungen, mit denen Leo noch vor wenigen Tagen hatte fliehen wollen. „Jeder Raubritter hat so einen."
Leo raufte sich die Haare, die, obwohl sie jetzt ja kurz, schon wieder leicht filzig waren. Leise fluchend lief sie auf und ab, Sofia, die immer noch an ihrem Arm hing, mit sich ziehend. Wie sollte sie das nur bewerkstelligen? Hätte sie den Prinzen nicht doch einfach direkt und offen nach dem Schlüssel fragen sollen? Hätte er ihn ihr gegeben? Es war doch schon wer genug, ungesehen aus diesem Labyrinth herauszukommen, aber einem Raubritter unbemerkt den Schlüssel abluchsen? Unmöglich.
Aber wieso auch unbemerkt? Tief in Gedanken starrte Leo auf ihr Messer, fragte sich, ob sie das tun konnte. Wenn er keinen Mucks machte, brauchte sie ihm auch nichts zu tun. Aber wenn doch? Konnte sie das? Konnte sie das verantworten? Welchen Preis war sie bereit, für die Freiheit dieser Menschen zu zahlen?
„Sofia. Du bleibst hier. Du folgst mir auf keinen Fall. Und egal was passiert, du rührst dich nicht vom Fleck. Keiner, keiner von euch gibt einen Laut von sich. Verstanden?"
Ohne eine Antwort abzuwarten drehte Leo sich um und lief die düsteren Gänge zurück. Schon bald verklang das Schnarchen zu einem undefinierbaren Hintergrundgeräusch, aber noch immer konnte Leo keinen Raubritter hören. Es war, als wäre die Stadt wie ausgestorben. Für ihre Flucht würde das perfekt sein, aber jetzt ...
Ungeduldig lief Leo weiter. Mit jeder Minute, die verstrich, rückte der Morgen näher, und damit auch der Zeitpunkt, zu dem es in den Gängen von Raubrittern nur so wimmeln würde. Dann konnten sie ihre Flucht vergessen.
Als Leo endlich Schritte hörte, war sie schon ganz unruhig. Es waren eindeutig die Schritte einer einzelnen Person, also perfekt für Leos Vorhaben. Trotzdem war ihr übel. Das Messer fühlte sich falsch an in ihren schwitzigen Händen.
Sie fragte sich, warum sie bis vor kurzem noch den Impuls hatte niederkämpfen müssen, jemandem mit dem Messer an die Kehle zu springen, wo sie sich jetzt so stark davor fürchtete. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder eine Szene ab, wie ihr das Messer ausrutschte, wie sie zu schnell an den Hals ging. Eine unbedachte Bewegung, und ein Mensch, der ihr nie etwas Böses getan hatte, würde zu ihren Füßen sterben.
Nein, das war nicht wahr. Jeder dieser Menschen hatte ihr etwas angetan. Ihr ganzes Leben lang. Nicht nur ihr, sondern allen Stadtbewohnern. Den Gefangenen hier unten. Jeder der Raubritter hatte es nicht besser verdient. Und wenn er sich nicht wehrte, würde er am Leben bleiben.
Die Schritte waren nun bedenklich nah. Nur noch wenige Sekunden. Leos Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich gegen die Wand presste und das Messer hob. Sobald ein Schatten in ihren Augenwinkeln erschien, sprang sie hervor. Der Raubritter erstarrte vor Schreck, und ehe er begreifen konnte, war Leo hinter ihn gesprungen und hatte das Messer sanft, beinahe vorsichtig an seinen Hals gelegt.
„Sei still, wenn dir dein Leben lieb ist", zischte sie ihm ins Ohr. Erst dann wurde ihr bewusst, dass sie keinen Raubritter erwischt hatte. Die Kleidung sprach eindeutig dafür, aber der leicht bebende Körper war eindeutig der einer Frau. Das konnte nicht sein. Noch nie hatte Leo eine Frau mit Raubritterweste gesehen. Das erste Mal, dass ihr überhaupt der Gedanke gekommen war, es könnten Frauen bei den Raubrittern leben, war, als Leo die fliehende junge Frau gesehen hatte. Und die war, wie Leo sich inzwischen ziemlich sicher war, eine Gefangene und keine Raubritterin gewesen.
Leicht irritiert stand Leo da, aber dann hatte sie sich wieder gefasst. Der Junge hatte gesagt, dass jeder Raubritter einen Schlüssel habe. Und die Frau war eindeutig ein Raubritter. Leo musste ihr Glück versuchen.
„Los, da lang." Zielstrebig und ohne das Messer von ihrem Hals zu nehmen, dirigierte Leo die Frau zurück zu den Verliesen. Jetzt, da sie sie so einfach überwältigt hatte, war ihre Angst verflogen, und ein unbekanntes Gefühl von Stärke und Macht erfüllten Leo. Es fühlte sich gut an, nicht mehr schwach und machtlos unterm Bett zu kauern und warten zu müssen. Es fühlte sich gut an, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Zudem wehrte die Frau sich nicht, sodass Leo gar nicht erst in die Situation kam, entscheiden zu müssen, wie weit sie gehen wollte. Jemandem die Kehle aufzuschlitzen behagte ihr nicht wirklich, zumal sie das dumpfe Gefühl hatte, dass die Raubritter dann wirklich keine Gnade mehr mit ihr walten lassen würden.
Schon bald waren sie wieder bei den Verliesen angekommen, und Leo konnte die Freude in den Gesichtern der Gefangenen sehen. Obwohl sie immer noch angespannt war, erwiderte sie das Lächeln der Menschen. Freute sich mit ihnen. Aber noch waren sie nicht frei. Was, wenn die Frau doch keinen Schlüssel hatte, wenn sie ganz umsonst gehofft hatten?
„Schließ das erste Gefängnis auf", befahl Leo leise. Zu ihrer großen Erleichterung griff die Frau tatsächlich zögerlich in ihre Westentasche. Leos Herz machte vor Freude einen Sprung. Sie hatte es geschafft. Die Frau zog den Schlüssel hervor und beugte sie langsam nach vorne, als habe sie Angst, dass Leo ihr trotzdem wehtun würde. Dann, bevor Leo realisieren konnte, was überhaupt geschah, ruckte sie plötzlich mit dem Kopf zurück und schlug Leo damit genau in dem Moment heftig gegen die Nase, in dem ihre freie Hand hochschoss und ihre Messerhand fixierte.
Leo konnte gerade noch verhindern, dass sie vor Schmerz aufheulte. Blut lief ihr aus der Nase. Im nächsten Moment hatte die Frau ihr bereits denn Schlüssel in den Oberschenkel gerammt. Leo stolperte zurück. Die Frau wirbelte herum, verdrehte ihre Hand, und das Messer fiel klirrend zu Boden. Mit von Tränen verschleiertem Blick sah Leo, wie die Frau wie ein Raubvogel auf den Boden stürzte und nach dem Messer griff. Aber Sofia war schneller. Leo hatte ihre kleine Schwester bis dahin gar nicht bemerkt, so unauffällig hatte sie im Schatten gestanden. Aber jetzt war sie vorgesprungen und hielt plötzlich das Messer in der Hand. Es gab wohl kaum einen merkwürdigeren Anblick, und Sofia sah auch nicht gerade aus, als behage es ihr, diese Waffe in den Händen zu halten. Sie hielt es nicht wie ein Messer, sondern eher wie einen ekeligen, halb verrotteten Stock.
„Leg das Messer weg, Kleine", sagte die Frau sanft. An ihren Haaren klebte Leos Blut, aber ihr Blick war so sanft als spreche sie mit ihrem eigenen Kind.
„Du hast Leo wehgetan", sagte Sofia, wie zu ihrer Verteidigung. Leo trat an ihre Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Das schien zu helfen, auch wenn Sofia weiterhin deutlich ihr Unwohlsein zeigte.
„Leg das Messer weg. Ich möchte dir nicht wegtun", sagte die Frau eindringlich. Als Sofia nicht reagierte, griff die Frau nach ihrer Hand, aber Leo sprang vor und stieß sie zurück.
„Wage es, dich uns in den Weg zu stellen, und ich werde keine Gnade haben!", fauchte sie, hoffend, dass ihr finsterer Blick jede blutige Tat überflüssig machen würde. Trotzdem nahm sie Sofia sanft das Messer aus der Hand und hielt es der Frau unter die Kehle. „Gib Sofia den Schlüssel. Diesmal ohne Aufstand."
Leo wusste selbst nicht, weshalb sie so ruhig blieb, aber unter ihrem Schmerz hatte sich plötzlich eine tiefe Ruhe eingestellt. Das Blut lief ihr immer noch heftig aus der Nase, aber sie ließ die Frau keine Sekunde aus den Augen. Sie würden entkommen, und nichts in der Welt würde sie mehr aufhalten.
„Tut das nicht", bat die Frau. „Ihr würdest euch am Tod vieler Stadtbewohner schuldig machen."
„Wir töten sie nicht, wir retten sie gerade", entgegnete Leo mit unverhohlenem Unverständnis.
„Nein. Wenn unser falsches Spiel auffliegt, können wir nicht mehr so gnädig mit den Menschen umspringen", sagte die Frau. „Die Ordnung muss bestehen bleiben, sonst wird mehr Blut vergossen als uns lieb ist."
Fassungslos sah Leo sie an. Die Frau schien tatsächlich zu glauben, was sie da sagte. Hörte sie nicht, wie schwachsinnig das klang?
„Wenn ihr kein Blutvergießen wollt, dann lasst die Dorfbewohner doch einfach in Frieden", sagte Leo und hielt ihr die Messerspitze an den Hals. „Und jetzt gib Sofia den Schlüssel."
„Bitte!", flehte die Frau.
„Mein Arm wird langsam müde", knurrte Leo. „Nun mach schon!" Langsam wurde sie unruhig. Schon zu viel Zeit war verstrichen. Die Frau schien zu spüren, dass Leo nicht mehr viel Geduld mit ihr hatte, denn sie übergab Sofia den Schlüssel ohne sich zu wehren.
„Ihr werdet schon sehen, was ihr da anrichtet", sagte sie leise, fast zu sich selbst. „Ich habe euch gewarnt."
Leo verdrehte die Augen und bedeutete Sofia, die erste Zelle aufzuschließen.
„Los, wir haben nicht mehr viel Zeit. Befreie alle, dann führe ich euch zum Ausgang."
Es dauerte Leo viel zu lange, bis alle Gefängnisse aufgeschlossen waren, aber sie wagte es auch nicht, einzelne zurückzulassen. Sie hätten sie bestimmt sofort verraten, und Leo hätte es ihnen dann nicht einmal verübeln können.
Die Frau hatte einen resignierten Blick aufgesetzt und stand beinahe teilnahmslos da, aber Leo beging trotzdem nicht den Fehler, unaufmerksam zu sein. Als alle befreit waren, band jemand der Frau ein Tuch über den Mund, fesselte ihre Hände und schloss sie in eine der Zellen ein. Lange würde sie dort vermutlich nicht bleiben, aber es würde hoffentlich reichen, um unbemerkt zu fliehen.
„Folgt mir", sagte Leo leise. Obwohl keiner etwas sagte, und nur unruhiges Füße scharren zu hören war, war es Leo fast schon zu laut. Wenn man sie hören würde, könnte das ihr Ende sein.
Mit Sofia und den Kindern an ihrer Seite lief Leo voraus. Erst jetzt fiel ihr auf, das eins der Mädchen fehle, aber sie traute sich nicht zu fragen, warum. Auf leisen Sohlen schlich Leo durch die düsteren Gänge, ihren Blutspuren folgend. Aber so sehr sie sich auch Mühe gab, leise zu sein, sie konnte nicht verhindern, dass die vielen Leute hinter ihr zusammen eine gedämpfte, aber doch nicht zu vernachlässigende Geräuschkulisse verursachten.
Zu allem Überfluss konnte Leo durch diese Geräusche nicht einmal hören, ob sich ein Raubritter näherte. Sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert, zumal ihre Augen in dem Dämmerlicht kaum etwas erkennen konnten. Langsam fragte sie sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, all die anderen zu befreien. Sie hätte schon längst draußen sein können, schon längst die kühle Nachtluft atmen und ihrer Freiheit entgegenlaufen können.
Es erschien Leo wie ein Wunder, als sie die Tür des Krankenzimmers erreichten, in denm Sofia untergebracht gewesen war. Von hier aus wandte sie sich in die Richtung, die der Prinz ihr beschrieben hatte, und wagte schon zu hoffen, dass doch noch alles gut gehen würde, als hinter ihnen leises Gemurmel zu hören war.
Ärgerlich wandte Leo sich um, aber sie konnte vor lauter Menschen nicht einmal mehr die sehen, von denen die Geräusche gekommen waren. Plötzlich ging alles ganz schnell: Schreie wurden laut, das Murmeln schwoll an und Leo spürte, wie die Panik wie eine Welle über die fliehenden Menschen schwappte.
„Lauft! Lauft!" Schon sprangen die ersten vor, Menschen wurde fast umgerannt, gegen die Wand gepresst, stolperten, fluchten, Chaos brach aus. Dann ertönte ein Schuss.
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