Kapitel 27
Sofort spannte sich der Körper unter Leo an, und seine Muskeln pressten sich gegen Leos Körper. Plötzlich fühlte Leo sich sehr klein. Ein schmerzvoller Laut kam über die Lippen des Prinzen, und entgegen ihres eigentlichen Vorhabens lockerten sich Leos Kiefer ein wenig.
„Bist du ein Vampir oder was?", stöhnte der Prinz. Leo schmeckte Blut. Erschrocken löste Leo ihre Zähne, aber der Prinz hielt ihren Kopf auch weiterhin fest, sodass ihre Nase immer noch leicht seinen Hals berührte. Er roch gut, irgendwie beruhigend. Langsam entspannte sich sein Körper wieder ein wenig, aber sein Griff war immer noch so fest, dass Leo jede Faser seines Körpers unter sich spürte.
„Hey, ganz ruhig bleiben, ja? Ich tue dir wirklich nichts."
Leo antwortete nicht, aber ihr Puls beruhigte sich trotzdem langsam. Sie wollte dem Prinzen nicht glauben, aber entkommen konnte sie auch nicht. Sie musste ihre Kräfte sparen. Und ein Teil von ihr wollte sich nicht mehr fürchten. Wollte ihm vertrauen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
„Leo?", fragte der Prinz. Sein Daumen strich ganz vorsichtig über ihr Haar, wie um sie zu beruhigen, aber das sorgte nur dafür, dass Leo ganz aufgewühlt wurde. Ihr Herzschlag schoss wieder in die Höhe, und Leo war sich nicht ganz sicher, ob sie all die Gefühle, die über sie hereinbrachen, angenehm oder unangenehm finden sollte.
„Leo, hör mir zu", sagte der Prinz sanft, als sie einfach nicht antwortete. „Ich will euch hier raushelfen. Aber dafür musst du mir vertrauen." Misstrauisch hob Leo den Kopf, allerdings nur die zwei Zentimeter, die ihr der Griff des Prinzen erlaubte.
„Warum solltest du das tun?" Leos Stimme war kaum mehr als ein Wispern. Der Prinz erschauderte, als ob ihn ihr Atem gekitzelt hätte.
„Wenn ich euch einsperren wollen würde, hätte ich das schon längst getan. Es gibt keinen Grund für mich, dich anzulügen", entgegnete der Prinz. „Ihr beide, was ihr seid, was ihr habt ... ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich zulasse, dass das verloren geht."
„Das was verloren geht?", fragte Leo irritiert. Am Knarren des Bettes konnte sie hören, dass Sofia aus ihrer Starre erwacht war.
Eine Weile schwieg der Prinz, dann sagte er mit rauer Stimme: „Ihr seid eine Familie. Ihr haltet zusammen. Ich kenne sonst niemanden, der seine Freiheit, und sogar sein eigenes Leben für einen anderen riskieren würde."
Das verschlug Leo die Sprache. Bei allem, was sie dem Prinzen zugetraut hätte, das hätte sie nicht erwartet. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden. So hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Als sie draußen gewesen war, war es ihr als das selbstverständlichste auf der Welt erschienen, nach Sofia zu suchen, solange noch der Hauch einer Chance bestand, dass sie am Leben war. Ohne sie hatte es keinen Sinn mehr gemacht, weiterzuleben. Aber nun erfüllten sie die Worte des Prinzen mit Stolz.
Eine Weile war es wieder still, und obwohl Leos Herz immer noch viel zu schnell schlug, fühlte sie sich beinahe wohl, wünschte sich fast, dass der Prinz sie nicht loslassen würde. Der feste Griff, den sie zuerst al Gefängnis empfunden hatte, gab ihr nun ein Gefühl von Sicherheit. Zum ersten Mal seit langem glaubte Leo wirklich, dass alles gut werden könnte.
„Kann ich dich loslassen, ohne das du mich abstichst?", fragte der Prinz schließlich. Leo atmete tief ein, spürte, wie sich ihr Körper noch fester an den des Prinzen drückte, und fragte sich, ob sich je wieder etwas so gut anfühlen würde wie jetzt. Sie wollte den Moment noch nicht verlieren, wollte nicht, dass er sie losließ. Gleichzeitig fragte sie sich, was in den wenigen Minuten bloß mit ihr geschehen war. Zum ersten Mal war sie sich wirklich sicher, dass sie nicht nach dem Messer greifen würde, dass sie ihm wirklich nichts tun würde.
Sie nickte langsam.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er ihr wirklich trauen konnte, öffnete der Prinz seine Arme, dann manövrierte er umständlich seine Beine aus ihren. Als Leo sich erhob, fuhr seine Hand über ihre verfilzten Haare, als zögere der Prinz, sie vollends loszulassen.
Etwas verlegen und unsicher, was sie nun machen sollte, hockte sich Leo ein paar Schritte vom Prinzen entfernt auf den Boden. Als eine Friedensbekundung ließ sie das Messer dort wo es war, auch wenn sie es gerne bei sich getragen hätte. Ohne den warmen Körper des Prinzen unter ihr fühlte sie sich plötzlich kalt und schutzlos. Etwas unbeholfen setzte der Prinz sich auf und sah erst Leo, dann Sofia an. Die gab plötzlich einen merkwürdigen Laut von sich und rutschte vom Bett, sodass sie zwischen Leo und dem Prinzen saß.
„Laufen wir jetzt gemeinsam fort?", fragte sie mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den Augen. Da war es wieder, das kleine Mädchen, das an Märchen glaubte. Der Ernst, den Leo am Nachmittag noch in ihren Augen gesehen hatte, schien für diesen Moment verschwunden.
„Wieso gemeinsam?", entfuhr es Leo, obwohl ihr der Gedanke plötzlich gar nicht mehr so schlecht vorkam. Als sie den verletzten Gesichtsausdruck des Prinzen sah, stotterte sie: „Ich meine ... naja ..." Sie verstummte wieder und sah weg.
„Ich kann gut verstehen, dass du nicht willst, dass ich mitkomme", sagte der Prinz leise, beinahe behutsam. „Aber wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich nichts lieber machen, als mit euch fortzugehen. Ich war schon viel zu lange hier."
„Aber ... Aber warum wir?", entfuhr es Leo, ehe sie sich zurückhalten konnte. Der Prinz zuckte mit den Schultern, sah sie nicht an, dann holte er tief Luft. Und schwieg. Eine Weile sagte niemand etwas, dann räusperte sich der Prinz.
„Ihr erinnert mich an meine Familie", sagte er mit leicht rauer Stimme. Obwohl der Prinz sie nicht einmal ansah, machte sich ein bleischweres Gefühl in Leo breit, und es war, als umfasse eine eiserne Hand ihr Herz. Unwillkürlich spürte sie den Schmerz, der sich auf dem Gesicht des Prinzen widerspiegelte. Leo traute sich nicht zu fragen, warum er nicht einfach zu seiner Familie zurückkehrte, aber sie hatte auch so die dumpfe Ahnung, dass das nicht mehr möglich war. Sie schluckte.
Noch immer fiel es ihr schwer, das Gehörte und Erlebte dem Prinzen zuzuordnen, dem bekanntesten aller Raubritter. Leo fragte sich, was wohl als nächstes passieren würde, und ob sie noch irgendetwas in dieser vollkommen verrückt gewordenen Welt überraschen konnte.
Je länger sie schweigend auf dem Boden saßen, desto mehr wurde Leo bewusst, dass sie noch nie gut darin gewesen war, Gespräche zu führen. Sofia war die einzige Person, mit der sie mehr als unbedingt nötig geredet hatte, und die meiste Zeit hatten sie trotzdem schweigend verbracht. Nun fühle Leo sich unbeholfen. Würde der Prinz sie näher kennenlernen, würde er mit Sicherheit nicht mehr mit ihr fortwollen. Eine Feldmaus würde bessere Unterhaltung bieten.
Immer wieder sahen Leo und der Prinz sich an und dann schnell wieder weg, aber keiner sagte etwas. Nur Sofia schien die merkwürdige Stimmung nicht zu stören. Sie hatte sich wie eine Katze zwischen den beiden zusammengerollt und sah beinahe friedlich aus.
„Am besten, ihr flieht heute Nacht, oder?", fragte der Prinz schließlich leise. Leo war so erleichtert, dass er endlich etwas sagte, dass sie heftig nickte, noch bevor sie die Worte ganz verstanden hatte. Abhauen? Das klang gut. Endlich fort hier. Endlich frei.
„Ich würde euch gerne helfen, aber wenn man mich dabei erwischt, wird es übel mit uns enden. Deshalb müsst ihr alleine fliehen, und ich treffe euch dann draußen", fuhr der Prinz fort.
„Ja", sagte Leo. Inzwischen konnte sie es kaum noch erwarten, rauszukommen. Sie konnte den Wald förmlich riechen, wollte laufen, laufen bis der Horizont kam.
„Dafür müssten wir aber einen Treffpunkt ausmachen." Der Prinz sah Leo an, als wisse er, was in ihr vorging, und als frage er sich, ob sie wirklich auf ihn warten würde.
„Ähm, ja." Leo verknotete ihre Finger, wusste nicht, was sie sagen sollte. Sofia hatte wieder die Augen geöffnet und sah aufmerksam zwischen ihr und dem Prinzen hin und her.
„Am sinnvollsten wäre außerhalb der Stadt. Damit uns niemand zusammen sieht", sagte der Prinz. Aufmerksam sah er Leo an. Für einen Moment rang Leo mit sich selbst, dann sagte sie zögerlich: „Ich kenne da eine Hütte, nicht weit im Wald. Aber werden dort nicht Wachen sein?"
„Nicht, wenn ich sie ablenke", entgegnete der Prinz. Seine Augen leuchteten sanft, als freue er sich genauso darauf wie Leo.
Es schien, als habe auch der Prinz schon mehr als einmal über diese Flucht nachgedacht. Er versprach Leo, im Laufe des nächsten Tages mit Essen und allem, was sie zum Überleben brauchen würden, zu ihnen zu stoßen, und beschrieb ihr bestimmt fünfmal den einzigen unbewachten Weg aus der Stadt der Raubritter.
Leo war sich immer noch nicht sicher, was sie von der Situation halten sollte. Vor nicht mal einer halben Stunde war sie fest davon überzeugt gewesen, dass der Prinz sie, sollte er sie erwischen, sofort packen und in die nächste Zelle schmeißen würde. Doch jetzt gab er ihnen eine Möglicheit zu fliehen. Wollte mit ihnen kommen. Sie verstand weder wieso, noch warum, aber sie spürte Hoffnung in sich, wie einen kleinen hüpfenden Vogel, der es gar nicht erwarten konnte, loszufliegen.
„Lasst euch nicht erwischen, ja?", sagte der Prinz, stand auf und riss Leo so aus ihren verworrenen Gedanken. Dann machte er einen Schritt auf sie zu und kniete sich direkt vor sie. „Und versprich mir, dass ihr da sein werdet, ja?" Behutsam strich er ihr mit dem Daumen über die Wange, dann richtete er sich abrupt auf und lief zur Tür.
„Ich gehe jetzt raus und warte darauf, die Wächter an der Stadtgrenze abzulenken." Der Prinz drehte sich noch einmal kurz um, in seinem Blick Vorfreude aber auch Sorge. „Ich vergesse gleich, diese Tür zuzumachen, und auch die des unbewachten Eingangs."
„Warum willst du diese Tür offen lassen?", fragte Leo irritiert.
„Ist dir noch nicht aufgefallen, dass sie sich nicht von innen öffnen lässt?"
Verlegen sah Leo zur Seite. Daran hatte sie in ihrem ausgefeilten Fluchtplan gar nicht gedacht. Irgendwie war sie immer davon ausgegangen, dass sich die Tür einfach öffnen ließe, und nun fühlte sie sich ganz schön dumm. Natürlich ließ sich die Tür nicht von innen öffnen. Sonst hätte Sofia sich wahrscheinlich auch aus dem Staub gemacht, sobald sie wieder in der Lage gewesen war zu laufen.
Gerade, als der Prinz einen Schlüssel zückte, um die Tür wieder zu öffnen, kam Leo eine Idee.
„Warum alle Türen offen lassen? Kannst du mir nicht einfach die Schlüssel geben?", fragte sie so unschuldig wie möglich.
„Und wie soll ich das erklären, wenn man dich erwischt?", fragte der Prinz. Leo antwortete nicht. Darauf gab es nichts zu sagen.
„Bis morgen Mittag im Wald." Der Prinz lächelte sie ein letztes Mal an, dann verließ er den Raum, ohne die Tür richtig zu schließen.
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