Kapitel 23
Im ersten Moment verstand sie die Welt nicht mehr, aber dann fielen ihr die Worte des Mädchens wieder ein.
Deshalb verteidigte der Prinz Sofia also so vehement. Leo wurde speiübel.
„Ja. Hab schon verstanden." Die Worte kamen dem Sommermann nur äußerst widerwillig über die Lippen. Er hatte die Augenbrauen tief zusammengezogen, doch sah den Prinzen nicht an.
„Dann ist ja gut." Ruckartig stand der Prinz auf, und der Sommermann drehte sich stöhnend zur Seite. Einen Moment lang blickte er genau in Leos Richtung, aber er schien zu abgelenkt von seinen Schmerzen zu sein, um sie zu bemerken. Endlich richtete er sich wieder auf, und Leo sah nur noch Schuhe. Mit immer noch wild hämmerndem Herzen beobachtete sie, wie der Sommermann leicht hinkend den Raum verließ. Das Messer behielt sie jedoch trotzdem sicherheitshalber in der Hand.
Einen Moment lang war es totenstill im Zimmer. Sogar Sofia hatte aufgehört zu weinen, als der Prinz den Sommermann zu Boden geworfen hatte.
Schließlich durchbrach der Raubritter mit den roten Stoffschuhen die Stille.
„Lass mal sehen."
Sofia fiepte leise, dann war es einen Moment lang wieder vollkommen still.
„Nur ein Kratzer. Ich verbinde ihn dir besser trotzdem mal."
Leo spürte, wie sie sich entspannte. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal froh über das Erscheinen von Raubrittern sein würde, und sie hätte erst recht nicht erwartet, dass sie ihr jemals ein Gefühl von Sicherheit vermitteln könnten. Das Messer in ihrer Hand hatte Leo ihn fast vollständig vergessen, zumindest, bis sie die Stimme des Prinzen wieder hörte.
„Was wollte er von dir, Sofia?", fragte er sanft, aber bestimmt. Einen Moment lang hörte Leo nur das Klappern des Mannes, der, soweit Leo das aus ihrer Perspektive beurteilen konnte, in einem der Schränke herumwühlte. Dann fing Sofia wieder an zu schluchzen, erst leise und dann immer lauter.
„Hey, ist ja gut", sagte der Prinz sanfter, als Leo es ihm je zugetraut hätte. „Sowas wird nie wieder passieren, das verspreche ich dir."
Das Bett drückte sich so tief durch, dass Leos Schulter leicht eingeklemmt wurde, als sich der Prinz aufs Bett kniete. Am liebsten hätte Leo das Messer von unten durch die Matratze gerammt, aber damit hätte sie wohl keinem von ihnen geholfen. Lautlos rutschte sie ein Stück zur Seite und beobachtete mit wachsender Unruhe, wie die Sitzkuhle von Sofia sich zu bewegen begann. Es machte Leo ganz wild, nicht sehen zu können, was dort oben vorging, aber von unten sah es so aus, als würde sich Sofia in die Arme des Prinzen flüchten. Zumindest schien sie den Abstand zwischen ihnen aus eigenem Willen überbrückt zu haben, aber Leo war sich noch nicht ganz sicher, ob sie das beruhigen oder eher noch mehr beunruhigen sollte. Hilflos und mit einem schrecklichen Gefühl in der Brust hörte sie zu, wie Sofias Weinen langsam leiser wurde, bis schließlich nur noch ein Schniefen zu hören war.
„Was wollte der Mann denn nun von dir?" Der Prinz klang besorgt, als ginge es ihm eher um Sofia als um die Information an sich.
„Er wollte wissen", Sofia schniefte laut, „er wollte wissen, wo Leo ist." Eine Weile war es wieder still, dann sagte Sofia stolz und trotzig zugleich: „Aber ich habe es ihm nicht verraten."
„Das war auch gut so", sagte der Prinz. Vor Überraschung hätte Leo sich beinahe den Kopf am Bett gestoßen. „Dieser Mann ist gefährlich. Aber er ist auch nicht dumm. Er wird Leo sehr bald finden." Die Stimme des Prinzen war leicht rau, und bei ihrem Klang lief Leo ein Schauer über den Rücken. Nein, sie glaubte nicht, dass der Sommermann sie hier finden würde. Aber als die Worte schwer und bedrohlich im Raum hingen, war Leo sich plötzlich doch nicht mehr so sicher.
„Wenn du willst, dass deiner Schwester nichts geschieht, musst du mir sagen, wo sie ist", fuhr der Prinz eindringlich fort. „Dann kann ich euch beide beschützen."
Leo überlief es eiskalt. Auf einmal glaubte sie nicht mehr daran, dass es dem Prinzen um Sofia ging. Ihre Sorge, er könne ihr etwas antun oder sie anfassen, war unberechtigt gewesen, da war Leo sich plötzlich sicher. Ihm ging es um Leo. Um sie. Er wollte sich Sofias Vertrauen erschleichen, damit sie ihm verriet, wo Leo war. Schon viel zu lange war sie den Raubrittern entkommen, und sollten die Stadtbewohner davon Wind bekommen, wäre ihr Ruf und damit ihre Herrschaft in Gefahr.
Obwohl Leo einen trotzigen Stolz empfand, wenn sie daran dachte, wie oft sie den Raubrittern bereits entwischt war, machte sich in ihr eine tiefe Wut und auch Furcht breit. Wie hinterhältig es war, sich Sofias Vertrauen und Zuneigung zu verschaffen, um sie schließlich dazu zu bringen, ihre eigene Schwester zu verraten. Bei diesem Gedanken umfasste sie das Messer in ihrer Hand noch fester. Aber am schlimmsten war, dass Sofia einfach nur schwieg, anstatt den Prinzen anzulügen.
„Du weißt, wo sie ist, richtig? Du musst es mir nicht jetzt sagen, aber mit jeder Stunde, die verstreicht, ist sie mehr in Gefahr."
Glaub ihm nicht!, dachte Leo verzweifelt. Im Kopf ging sie bereits durch, was sie machen wollte, wenn Sofia ihr Versteckt verriet. Hervorspringen und den Prinzen erstechen? Ihm das Messer an den Hals halten und ihn als Geleitschutz nehmen, um aus diesem unterirdischen Labyrinth herauszukommen? Oder sollte sie das Messer verstecken, und den Angriff auf einen Moment verschieben, in dem sie sich nicht auf Knöchelhöhe befand?
„Leo braucht sich nicht vor dir zu fürchten, oder?", fragte Sofia. Es klang eher, als rede sie mit Leo, als mit dem Prinzen. Leos Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte sie das Messer.
„Nein. Ich würde ihr niemals etwas antun, das schwöre ich", sagte der Prinz so ernst, dass Leo ihm selbst beinahe geglaubt hätte. „Aber ich mache mir große Sorgen um sie. Leo denkt wahrscheinlich, du wärst tot und kommt fast um vor Kummer."
„Nein, tut sie nicht", sagte Sofia. Leo hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte, aber ihr selbst gefor beinahe das Blut in den Adern.
„Wieso nicht?", fragte der Prinz. Seine Stimme hatte beinahe etwas lauerndes. Sofia schien es die Sprache verschlagen zu haben. Leo machte sich zum Sprung bereit. Lüge! Lüge verdammt, dachte sie.
„Weil sie meine Schwester ist", sagte Sofia mit kratziger Stimme. Es klang nicht sonderlich überzeugend. Hastig für sie fort: „Ihr geht es gut. Das spüre ich. Und umgekehrt bestimmt auch. Und außerdem habe ich gebetet. Dass sie sich keine Sorgen machen soll um mich."
„War Leo hier?", fragte der Prinz leise. Er klang nicht so, als würde er das für möglich halten. Viel eher wie jemand, der jemanden fragt, ob er einen Engel oder ein anderes übernatürliches Wesen gesehen habe.
„In meinem Traum war sie bei mir", sagte Sofia im Inbrunst der Überzeugung. „Deshalb weiß ich, dass es ihr gutgeht."
„Sofia." Die Stimme des Prinzen klang nun wieder vollkommen ernst. „Ich muss wissen, wo sie ist. Ich mache mir nämlich ganz schön Sorgen um sie. Und ich habe Angst um sie. Wir dürfen nicht riskieren, dass sie jemand anderes findet. Jemand, der ihr Böses will. Bitte Sofia. Wo ist sie?"
Lügner, dachte Leo verbittert. Aber inzwischen war sie sich sicher, dass Sofia sie nicht verraten würde.
„Wo sie jetzt gerade ist, weiß ich nicht", behauptete Sofia. „Aber sie ist in Sicherheit. Bestimmt."
„Das hoffe ich für sie", sagte der Prinz leise. „Das hoffe ich für sie."
„So, jetzt aber erst mal stillhalten. Ich mache die Wunde sauber und verbinde sie dir", sagte der Mann mit den roten Schuhen und trat ans Bett heran.
Leo entspannte sich wieder unter dem Bett, auch wenn sie kaum glauben konnte, so einfach davongekommen zu sein. Doch gerade, als die beiden Männer Anstalten machten zu gehen und Leo es kaum noch abwarten konnte, unter dem Bett hervorzukommen und ihre steifen Glieder zu strecken, meldete Sofia sich noch einmal zu Wort.
„Kann ich heute Abend eine größere Portion haben? Ich habe echt Hunger."
Die beiden Raubritter erstarrten auf der Stelle. Leo hätte sich am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen. Als ob die Situation vorher nicht schon brenzlig genug gewesen wäre. Beinahe, beinahe wäre alles gut gegangen. Aber nun drehten sich die beiden Männer noch einmal um.
„Woher kommt denn dein plötzlicher Appetit?", fragte der Mann mit den roten Schuhen misstrauisch. Eine angespannte Stille machte sich breit, doch gerade, als Leo unter dem Bett hervorspringen wollte, bevor man sie hervorzog, durchbrach der Prinz die Stille.
„Ach, es war eben ein anstrengender Tag, nicht? Ganz schön aufregend für so ein junges Mädchen. Kein Problem, du bekommst dein Essen."
Leo traute ihren Ohren nicht. Gerade eben war der Prinz noch so erpicht darauf gewesen, Leos Aufenthaltsort zu erfahren, und jetzt wischte er eine so verdächtige Aussage einfach vom Tisch?
Ungläubig beobachtete Leo, wie die beiden doch noch den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen. Ganz leise drang die Stimme des Mannes mit den roten Schuhen zu ihnen herein.
„Das kaufst du ihr doch nicht ernsthaft ab, oder?"
„Nein, natürlich nicht." Die Stimme des Prinzen war gedämpft, aber besser zu verstehen als die des anderen Mannes. „Ich werde heute Nacht Wache stehen und sehen, was es damit auf sich hat. Aber wenn du mich fragst, Sofia bildet sich aus lauter Sehnsucht etwas ein ..." Seine Stimme wurde immer leiser und schließlich vollkommen unverständlich.
„Leo? Bist du noch da?" Auf einmal hing Sofia kopfüber vom Bett und grinste Leo an. „Das habe ich doch gut gemacht, oder?"
„Das wir jetzt beide Abendessen kriegen, ist echt super." Leo streckte und reckte sich. Es tat gut, nicht mehr in dieser zusammengekauerten Position zu liegen. „Aber ein bisschen Verdacht haben sie eben doch geschöpft. Wir müssen vorsichtig sein. Heute Nacht wird der Prinz vor der Tür stehen, da wird es nichts mit Fliehen. Und wenn sie dir gleich dein Essen bringen und uns so sehen, sind wir sowieso dran." Leo grinste schwach.
„Schon verstanden." Sofia verschwand wieder aus Leos Blickwinkel und streckte sich aus dem Bett aus. „Ich tu einfach so, als wäre alles wie immer."
„Genau", sagte Leo. Dann waren sie wieder still. Obwohl es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, bis das Essen kam.
Leo erkannte sofort an den Schuhen, dass es der Prinz war. Ohne auch nur darüber nachzudenken, kroch sie tiefer unters Bett, bis sie mit dem Rücken die Wand berührte. Aber selbst das schien nicht weit genug weg zu sein. Am liebsten wäre Leo unsichtbar geworden, aber ihre Angst war vollkommen unbegründet. Der Prinz setzte sich einfach Sofia gegenüber aufs Bett und der Duft von Essen stieg Leo in die Nase.
„Soll ich dir wieder ein Märchen erzählen?", fragte er. Diesmal stieß Leo wirklich vor Schreck mit dem Kopf gegen das Bett, und Sofia begann augenblicklich, heftig zu husten und auf und abzuhüpfen dabei. Aber selbst das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der dumpfe Knall an der völlig falschen Stelle gewesen war. Sofort griff Leo nach dem Messer, nur um festzustellen, dass sie es immer noch in der Hand hielt.
„Geht es dir gut?", fragte der Prinz besorgt. Sofia röchelte nur leicht.
„Ach, ich glaube, heute erzähle ich dir eine ganz besondere Geschichte. Es ist kein Märchen, nichts Ausgedachtes. Es ist eine Geschichte von mir. Aber sie ist traurig. Ist das ok für dich?"
„Ja", sagte Sofia. Ihr schien immer noch etwas Essen in der Kehle zu stecken, zumindest klang ihre Stimme noch leicht rau.
„Vor ... etwa fünfzehn Jahren", begann der Prinz, dann hielt er inne, als suche er nach Worten. „... lebte ein vierzehnjähriger Junge. Er war wütend. Er war einsam. Er war betrogen. Eigentlich gab es keinen Grund mehr für ihn am Leben zu sein. Und so hungrig wie er war, hätte er einfach dort draußen sterben können."
Leo lauschte mit offenem Mund. Das Messer in ihrer Hand war vergessen, so sehr hatte sie die dunkle Stimme des Prinzen in ihren Bann gezogen. Mit Unglauben folgte sie den Worten, konnte sich nicht vorstellen, dass der Prinz einmal ein kleiner Junge gewesen war, nicht viel besser dran als sie noch vor wenigen Tagen.
„Aber es sollte anders kommen. Obwohl der Junge sich geschworen hatte, die Fähigkeiten, die er in seinen Jahren in einer ... Kampfeinheit gelernt hatte, niemals gegen die einfachen Menschen zu richten, ließ ihm sein Hunger bald keine Wahl. Er stahl frecher als die Raben, gerissener als ein Fuchs und er lauerte ausdauernder als ein Wolf. So verstrichen die Monate, und er musste nie Hunger leiden. Trotzdem hielt ihn nichts lange an einem Ort. Er reiste von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt."
Langsam begann Leo sich zu fragen, ob wahr war, was der Prinz erzählte. Was sagte ihr denn, dass er nicht hier aufgewachsen war, bei den Raubrittern? Was sagte ihr denn, dass er nicht versuchte, sie auch noch einzulullen? Aber wenn er doch wusste, dass sie hier war, warum zerrte er sie nicht unter dem Bett hervor? Wusste er, dass sie hier war? Hatte er den Rums tatsächlich überhören können?
„Eines Tages führte ihn sein Weg in diese Stadt. Aber ein guter alter Mann am Stadtrand warnte ihn, er solle lieber fortgehen, denn einmal hier, müsse er ewig hierbleiben."
„Aber wenn er einfach fortläuft, wird er nie seine Prinzessin finden, und kann nicht glücklich bis ans Ende seiner Tage leben", warf Sofia mit vollem Mund ein.
„Du bist ein ganz schön intelligentes Mädchen, Sofia", sagte der Prinz nach einem kurzen Schweigen. „Ja, ich blieb hier, hörte mir an, was der Mann erzählte, und ..."
„Wieso denn du?", fragte Sofia wieder dazwischen und schluckte laut hörbar.
„Na, weil die Geschichte doch von mir handelt, Dummerchen. Ich nehme das mit dem intelligent doch wieder zurück." Der Prinz lachte frech, und nach einem kurzen Moment stimmte Sofia mit ein. Leo biss sich auf die Lippe.
„Jedenfalls hatte ich einen Plan", fuhr der Prinz schließlich fort. „Ich suchte die Raubritter auf, und unterbreitete ihn ihnen. Einen Plan, wie nicht nur die ganze Stadt vor ihnen erzittern würde, sondern wie sie darüber hinaus den Menschen viel weniger Leid zufügen mussten. Der Plan funktionierte, und während wir den Stadtbewohnern mithilfe von Tierblut und unseren Toten vorgaukelten, alle Aufmüpfigen grausam zu töten, ermöglichten wir ihnen hier unten ein Leben. Ein Leben in Gefangenschaft, aber kein schlechtes Leben."
Von wegen, dachte Leo finster. Ich wäre lieber tot, als euch zu dienen!
Aber Sofia schien dem Prinzen jedes Wort zu glauben.
„Und deshalb bist du ihr Prinz geworden?", fragte sie ehrfürchtig.
„Nein", sagte der Prinz düster. „Das ist eine noch unerfreulichere Geschichte."
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