Kapitel 21
Leo hatte eigentlich nie viele Gedanken daran verschwendet, wo die Raubritter wohl wohnen könnten, aber wenn sie darüber nachgedacht hätte, dann hätte sie es sich wahrscheinlich genau so vorgestellt. Der Tunnel war alt und mit groben Steinen gebaut, als stamme er aus einer längst vergessenen Zeit.
An manchen Stellen tropfte das Wasser von der Decke und sorgte wahrscheinlich dafür, dass es hier im Tunnel leicht modrig roch. Der schmale Gang, in dem gerade so zwei Menschen nebeneinander passten, war nur in schummriges Licht gehüllt. Die fest an der Wand eingebauten Lampen leuchteten in einem schwachen orange, was Leo nur recht war. Das Dämmerlicht würde sie schützen, zumindest wenn keine Kontrollen auf sie zukamen.
Unheimlich war es trotzdem, zwischen den beiden schweigenden Raubrittern den Gang hinunterzulaufen. Für einen Moment kam ihr der entsetzliche Gedanke, dass der junge Raubritter sie vielleicht erkannt hatte, und nur keine Miene verzogen hatte, damit sie ihm ohne jeglichen Aufstand nach unten folgte. In diesem Falle wäre sie brav wie ein Lamm zur Schlachtbank gelaufen. Denn mit ihr würde man bestimmt keine Gnade haben.
Dafür war Leo viel zu alt. Und dafür hatte sie auch schon viel zu viel angestellt. Bei dem Gedanke kam ihr der Sommermann wieder in den Sinn, aber schon der bloße Gedanke an ihn machte Leo immer noch so wütend, dass sie ihn schnell wieder verscheuchte. Die Minuten, die Leo mit den beiden Männern immer tiefer unter die Erde lief, zogen sich. Es gab keine Abzweigungen, die sie hätten wählen können und auch sonst nichts, was auf eine Möglichkeit zum Leben hindeutete. Aber die Raubritter würden wohl kaum auf dem Gang schlafen.
Gerade als Leo sich zu wundern begann, wie lange es denn noch bergab gehen sollte, erreichten sie eine Tür, vor der ein bis an die Zähne bewaffneter Raubritter stand. Als Leo die Pistole an seinem Gürtel sah, wurde ihr augenblicklich schlecht. Aber der Gesichtsausdruck des Mannes war alles andere als furchteinflößend. Freundlich lächelte er sie an.
„Und, war die Suche endlich erfolgreich?", fragte er neugierig. Die Blicke, die er erntete, waren jedoch schon Antwort genug.
„Sie wurde zwar in diesem Viertel gesichtet, aber anscheinend ist sie schon wieder entkommen", sagte der Mann hinter Leo nach einem Moment finsterem Schweigen.
„Schon wieder? Das wird ja langsam echt peinlich. Der Prinz wird toben", meinte der Wächter besorgt.
„Du sagst es. Aber sie soll in den Fluss gesprungen sein. Und das bei der Strömung. Wenn wir Glück haben, hat sich das Problem von alleine erledigt."
„Meinst du nicht, dass das dem Prinzen noch weniger gefallen wird?", fragte der Wächter. Etwas an seinem Tonfall irritierte Leo zutiefst, aber sie konnte nicht sagen, was. Außerdem konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum der Prinz sie persönlich töten wollte. Im Gegensatz zum Sommermann hatte er keine Rechnung mit ihr offen. Oder ärgerte er sich, dass er ihr auf dem Markt Gnade gewährt hatte? Wollte er mit ihr ein besonderes Denkmal setzen?
„Ach, ich glaube an diese Gerüchte nicht. Sie bedeutet dem Prinzen nicht mehr als die anderen jämmerlichen Stadtbewohner", sagte der Raubritter hinter Leo entschlossen. „Aber wenn herauskommt, wie lange sie nun schon erfolgreich vor uns auf der Flucht ist, könnte das unseren Ruf mehr als nur gefährden."
„Schon gut", wehrte der Wächter ab. „War nicht so gemeint. Ihr könnt reingehen." Er zog einen Schlüssel aus einer Tasche und schloss ihnen die Tür auf.
Im ersten Moment konnte Leo nichts erkennen, so hell war es. Klares Licht strahlte in den Gang hinaus, fast so, als wäre die Tür ein Ausgang nach draußen. Aber dafür waren sie viel zu tief unter der Erde. Zögerlich folgte Leo dem jungen Raubritter in den runden Raum, dessen Decke mit Lampen übersät war.
Vor Staunen klappte Leo der Mund auf, aber sie wandte den Blick schnell wieder ab, um nicht merkwürdig zu wirken. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die sechs Gänge schweifen, die von dem Raum abzweigten. Mit einem Mal schrumpfte ihre Hoffnung, Sofia zu finden, rapide. Während der junge Raubritter bereits in einem Gang verschwand, und der andere Mann zielstrebig auf einen weiteren Gang zuhielt, stand Leo für einen Moment völlig überfordert da. Als dann noch drei weitere Raubritter aus einem Gang herauskamen, hielt Leo nichts mehr in dem Raum.
Schnellen Schrittes hielt sie auf einen der Gänge zu, den Blick scheinbar müde zu Boden gerichtet. Aber die Raubritter unterhielten sich gerade aufgeregt und würdigten sie keines Blickes. Kaum, dass Leo außer Sicht war, lehnte sie sich an die Wand und atmete tief durch. Noch immer konnte sie nicht ganz fassen, dass sie so unbehelligt durchgekommen war. Keine Losung, kein geheimes Zeichen schütze das Zuhause der Raubritter, und selbst der Wächter hatte sie nur einmal halbherzig angesehen. Und trotzdem schien es, als hätten sie Schwierigkeiten jetzt erst begonnen.
Im ersten Moment hatte Leo einfach nur gedacht, dass die Raubritter ihr Zuhause so schlecht bewachten, weil niemand davon wusste. Und wenn eine arme Seele doch per Zufall von einem Eingang erfuhr, so würde wohl kaum einer so lebensmüde sein und auch nur einen Fuß in die Höhle des Löwen setzen.
Leo konnte selbst noch nicht ganz fassen, dass sie den Mut dazu aufgebracht hatte. Aber die Hoffnung, dass Sofia vielleicht doch noch lebte, trieb sie an. Für Sofia würde Leo ohne zu zögern sterben, denn ohne sie leben konnte sie auch nicht.
Aber je länger Leo auf leisen Sohlen durch die dämmrigen Gänge schlich, desto mehr stellte sie fest, dass sie keineswegs in ein geheimes Lager eingedrungen war. Sie war in eine unterirdische Stadt eingedrungen. Dunkle, schwere Türen führten ins Ungewisse, aber obwohl Leo nichts hörte, als sie ein Ohr an eine legte, wagte sie es nicht, eine der Türen zu öffnen.
Sollte sie unvermutet im Haus eines Raubritters stehen, dürfte das schwer zu erklären sein. Aber auch so gab Leo sich alle Mühe, sich von Raubrittern fern zu halten. So gut wie es ging versuchte sie sich den Weg den sie gekommen war zu merken, während sie immer tiefer in die unterirdische Stadt heineinlief. Sobald sie auch nur ein verdächtiges Geräusch hörte, sei es eine Stimme oder das Hallen von Schritten in den Gängen, begann ihr Herz wie wild zu schlagen, und sie schlich noch weiter in die stillen Teile der Stadt. Noch nie war Leo in einer so unheimlichen Gegend gewesen.
Es war, als wäre es ständig Nacht, aber keine Sterne schienen, nur das trübe Flackern der Lampen erfüllte die Straßen. Alte, teilweise sehr schmale und niedrige Gänge, die aus groben Stein gemauert waren, verbanden unterirdisch die Häuser, aber viele Gänge sahen auch aus, als hätten die Raubritter selbst sie gebaut, damit man nicht durch die Häuser durch musste, wenn man durch die Stadt lief. Das unheimlichste war jedoch, dass keines der Häuser Fenster hatte, sodass man lediglich an den Türen erkannte, dass es tatsächlich Häuser und nicht lediglich weitere unterirdische Gänge waren. Schon lange konnte Leo nicht mehr sagen, wo unter der Stadt sie sich befand, und die Müdigkeit ließ jeden ihrer Schritte schwer wie Blei werden. Außerdem war Leo so kalt, dass sie am ganzen Körper zitterte, und das schon so lange, dass sie das Gefühl hatte, selbst dafür bald keine Kraft mehr zu haben. Nicht mehr lange, und Leo würde gezwungen sein, in eins der Häuser zu gehen. Sie wusste nicht, was schlimmer sein würde. In eine Horde Raubritter reinzuplatzen, oder wieder nach oben in die Stadt zu kommen.
Leo schloss die Augen und sackte an einer Wand zusammen. Der Stein war feucht und kühl in ihrem Rücken, aber das war ihr auch schon egal. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Hatte sie etwa geglaubt, hier einfach reinzuspazieren, und Sofia an einen Pranger gefesselt in der Eingangshalle vorzufinden?
Leo wusste nicht, wie lange sie schon durch dieses Labyrinth irrte, aber hier unten sah einfach alles gleich aus. War Sofia vielleicht in einer dieser Häuser versteckt? Waren sie einfach so weit unten, dass niemand oben in der Stadt von diesen Kellern wusste? Oder führten die Türen in die Häuser und dann nach oben in die Stadt, und die Raubritter lebten woanders? War Leo vielleicht einfach im falschen Teil der Stadt? Vielleicht hätte sie den Geräuschen folgen sollen, in der Hoffnung, dass einer der Raubritter sie zu ihrer Schwester führen würde.
Vielleicht hätte sie sich auch gleich umbringen lassen können. Wer sagte ihr eigentlich, dass Sofia noch lebte? Vielleicht hatte man sie auch gefangengenommen, um sie dann möglichst grausam vor den Augen aller Menschen umbringen zu können. Leos Kopf sackte auf ihre Brust und ihre Augen fielen zu, ohne dass sie etwas dagegen machen konnte. Da hörte sie ein schreckliches Geräusch, so durchdringend und markerschütternd, dass Leo bereits auf die Beine gesprungen war, bevor sie wusste, was geschah. Ihr ganzer Körper war zum Zerreißen gespannt, jeder Muskel trotz der Erschöpfung fluchtbereit.
Leos Beine zuckten, aber sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Das Geräusch schien überall und nirgends gewesen zu sein. Angespannt wartete Leo, lauschte in die Dunkelheit hinein, und dann, plötzlich wie ein Donnergrollen, war das Geräusch wieder da. Kurz und heftig, dann war es wieder still. Einen Moment lang stand Leo völlig verdattert da, dann zogen sich ihre Mundwinkel amüsiert nach oben. In ihrem Herzen machte sich ein verrücktes Gefühl breit. Sie hätte lachen können, ob vor Erleichterung, oder schon halb aus Wahnsinn, das konnte sie nicht so genau sagen. Das furchterregende Geräusch war eindeutig ein Schnarchen gewesen, und zwar eines, das das Schnarchen ihres Vaters und alles andere, was Leo bisher gehört hatte, beiweitem in den Schatten stellte.
Leo spürte, wie die angespannte Energie langsam aus ihr wich, aber trotzdem stand sie immer noch unschlüssig da. Wenn sie sich hier drinnen einem menschlichen Wesen nähern wollte, dann ja wohl jetzt, wo die Person schlief. Vielleicht würde Leo irgendeinen Hinweis auf irgendetwas erhalten. Oder sie würde das Messer aus ihrer Jacken-, inzwischen eher Westentasche, ziehen und dafür sorgen, dass sie erfuhr, was sie wissen wollte. Ja, so würde sie das machen.
Einen Moment später ertappte Leo sich dabei, wie sie immer noch dastand. Ihr Gehirn war so träge wie sonst nur in sehr kalten Winternächten, in denen sie schon viel zu lange nichts mehr gegessen hatte. Oh ja, Essen. Und Trinken. Wie lange war es her? Wie lange war sie schon hier unten? Es war unmöglich zu sagen. Ihr Schädel brummte. Ihre Beine schmerzten. Einfach wieder hinsetzen. Nein, nicht hier.
Leo bleckte die Zähne gegen niemand bestimmtes, einfach gegen die Schwäche und die Müdigkeit selbst. Dann holte sie tief Luft, zog das Messer aus der Tasche und schlich in die Richtung, aus der immer noch das Schnarchen kam.
Noch immer hallte das Geräusch so irritierend in den Gängen, dass Leo zweimal beinahe falsch gelaufen wäre, aber schließlich fand sie einen mit schmutzig grauen Steinen gemauerten Gang, der direkt zum Schnarchen zu führen schien. Am merkwürdigsten war jedoch, dass keine Wand mehr Leo von dem Geräusch zu trennen schien. Es war, als schliefe der Mensch auf dem Gang. Im ersten Moment hatte Leo ein Bild im Kopf, wie sich die Raubritter überall in dieser unterirdischen Hölle abends an Ort und Stelle auf dem Boden zusammenrollten und einschliefen.
Aber das konnte nicht sein. Wer sich Geld und Essen skrupellos aus den Händen anderer Menschen nahm, der schlief nachts nicht wie ein Bettler. Noch misstrauischer als sie eh schon war, lugte Leo um die nächste Ecke und erstarrte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas gesehen, und sie hatte schon viel gesehen, was sie erschreckt hatte. Aber das Bild was sich ihr bot, löste ein unbeschreibliches Gefühl in ihr aus.
Ein paar wenige Lichter leuchteten den Gang aus, trotzdem konnte Leo sein Ende nicht erkennen. Die eine Seite des Ganges war ganz normal aus Stein gemauert, aber die andere Wand bestand aus rostigen Metallstäben. Armdick waren sie und immer im Abstand von einer Fußlänge angebracht. Diese Stangen bildeten enge, schmale Käfige, und in diesen Käfigen lagen, mal ausgestreckt, mal zusammengerollt, Menschen. Den ganzen Gang entlang. Leo konnte sie gar nicht zählen. Es waren junge und alte, kleine und große. Sogar ein Kind entdeckte Leo. Ein kleines Mädchen, und im ersten Moment schoss ihr Puls in die Höhe.
Sofia? Beinahe hätte Leo ihren sicheren Beobachtungspunkt verlassen, aber dann erkannte sie, dass es nicht Sofia war die da lag. Trotzdem kannte sie das Mädchen. Es war eins der Kinder, die versucht hatten zu fliehen. Schon lange hatte Leo nicht mehr solche Erleichterung und Freude verspürt. Die Raubritter hatten sie nicht umgebracht.
Sie war noch hier, eingesperrt zwischen all den Menschen. Dann musste Sofia also auch hier sein. Beinahe hätte Leo einen voreiligen Schritt hinaus in den Gang gemacht, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen. Jetzt galt es, vorsichtig zu sein, und nicht auf die letzten Meter alles zu ruinieren. Vielleicht hatten die Raubritter ihre Gefangenen ja nicht unbewacht gelassen.
Also hielt Leo inne und lauschte in den Gang, aber außer Schnarchen konnte sie nichts hören. Aber das Schnarchen war so laut, dass das nichts zu bedeuten hatte. Leo musste es einfach wagen.
Auf leisen Sohlen schlich sie an den Gefangenen vorbei, wobei sie in jede Zelle genau hineinsah. Immer nur ein einzelner Mensch lag da, und schon bald sah Leo ein weiteres der Kinder, die mit ihr hatten fliehen wollen. Die meisten Menschen kannte Leo jedoch nicht. Langsam begann sie sich zu fragen, was die Raubritter wohl mit so vielen Gefangenen machten. Der Gang schien kein Ende zu nehmen.
Gerade, als Leo anfing sich zu fragen, ob es vielleicht mehr Gefangene als Raubritter gab, hörten die Gitterstäbe auf und nur ein leerer Gang führte weiter in die Dunkelheit. Ungläubig starrte Leo in den Gang, als hoffe sie, doch noch ein letztes Gefängnis in der Dunkelheit zu sehen. Irgendwo musste doch Sofia sein. Verzweifelt drehte Leo sich im Kreis, konnte nicht fassen, dass sie so nah dran gewesen war, ihre kleine Schwester zu finden, und doch versagt hatte.
Warum war Sofia nicht hier? Alle anderen Kinder, die versucht hatten, mit ihnen zu fliehen, hatte Leo gesehen. Bis auf einen. Der älteste Junge fehlte auch. Ob die Raubritter sie doch umgebracht hatten? Warum nur die beiden, warum lebten die anderen noch?
Für einen Moment ertappte Leo sich dabei, wie sie dachte: Warum sind nicht die anderen tot und Sofia dafür noch am Leben? Aber der Gedanke war so abscheulich, dass Leo ihn aus ihrem Kopf verbannte.
Verzweifelt, wütend, hilflos und erschöpft stand Leo da und versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Egal wie lange sie darüber nachdachte, sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum die meisten Kinder hier waren und Sofia fehlte. Leo stand wieder am Anfang. Nein, nicht ganz. Diesmal hatte sie jemanden, den sie fragen konnte. Die anderen Kinder waren ihre letzte Hoffnung.
Es war ein beinahe schmerzliches Gefühl, so viel Hoffnung in eine Person zu setzen. Leos Herz fühlte sich an, als wolle es zerreißen, als sie zurück zu einem der Mädchen lief, mit dem sie vor gar nicht allzu langer Zeit hatte fliehen wollen. Mit vor Erschöpfung zittrigen Beinen kniete Leo sich vor die Zelle des Mädchens und streckte die Hand durch das Gitter. Nur mit den Fingerspitzen konnte sie die zusammengerollte Gestalt berühren. Leo tippte sie an. Nochmal und nochmal. Erst zuckte das Mädchen nur im Schlaf, dann riss sie die Augen auf und schreckte so ruckartig hoch, dass sie gegen die Wand, die sie von der Nachbarzelle trennte, stieß. Von nebenan war ein unverständliches Grummeln zu hören, das Leo dazu veranlasste, sich fest gegen die Gitterstäbe zu pressen.
„Psst", raunte sie, fürchtend, dass jemand anderes aufwachen und sie verraten könnte.
„Du?", zischte das Mädchen und starrte sie ungläubig aus müde verquollenen Augen an. Der Anblick war wirklich furchteinflößend. „Das hätte ich dir niemals zugetraut."
Leo räusperte sich und schluckte, aber kein Ton kam über ihre trockenen Lippen.
„Bist du gekommen um dich zu entschuldigen?", fragte das Mädchen mit einem Blick, der Leo vermuten ließ, dass sie ihr sowieso nicht verzeihen würde. Für was auch immer sie angeblich schreckliches getan hatte. Leo verstand die Welt nicht mehr.
„Ich", brachte sie heraus und räusperte sich, aber ihre Kehle war schrecklich trocken. „Ich hole euch hier raus."
„Schlechtes Gewissen bekommen?", raunzte das Mädchen.
„Was? Was hast du gegen mich?" Irritiert sah Leo sie an, wandte den Blick jedoch schnell wieder ab, um sicherzugehen, dass sich kein Raubritter unbemerkt näherte. Ein Mann in der Nachbarzelle saß inzwischen auch aufrecht und sah Leo fassungslos an, allerdings machte er keine Anstalten, sie zu verraten.
„Das fragst du noch? Wegen dir versauern wir in diesem Loch. Wegen dir sind wir in dieser Hölle gelandet." Das Mädchen spuckte vor Leos Füße. Leo wich einen Schritt vom Gitter zurück.
„Das war doch keine Absicht", verteidigte Leo sich. „Ich wurde am Marktplatz vom Prinzen aufgehalten, und ..."
„Und dann hast du uns halt einfach verraten, um deinen Hintern zu retten, was?", fauchte das Mädchen. Aus ihren Augen sprühte so viel Hass, dass Leo übel wurde. Sie fühlte sich schuldig, aber nicht aus dem Grund, aus dem das Mädchen dachte.
„Ich habe euch nicht verraten", versuchte Leo das Missverständnis zu klären. „Ich habe einfach nur länger gebraucht als gedacht, und als ich bei euch ankam, tauchten plötzlich von überall her Raubritter auf."
„Du brauchst nicht zu leugnen, dass du uns verpfiffen hast."
„Das habe ich nicht!" Leo senke schnell wieder die Stimme. So laut zu sprechen war nicht klug, und weh tat es auch noch. „Die Raubritter müssen euch belauert haben, und als wir aufbrechen wollten ..." Einen Moment lang schwieg Leo, dann sprach sie aus, was ihr seit diesem Vorfall schwer wie Blei auf dem Herzen lag. „Wären wir schon am Abend vorher gegangen, hätten wir es geschafft. Es tut mir leid."
Misstrauisch sah das Mädchen sie an, offensichtlich nicht ganz sicher, ob sie Leo glauben sollte oder nicht.
„Und warum schleichst du dann hier unten rum und bist nicht eingesperrt wie wir?", fragte sie schließlich.
„Ich bin den Raubrittern gefolgt, um Sofia rauszuholen. Und euch."
„Es geht also um Sofia", schlussfolgerte das Mädchen treffsicher. Leo seufzte ergeben. Sie war nicht gut im Lügen.
„Ich kann dir sagen, wo sie ist. Aber nur, wenn du uns dafür auch rausholst."
„Mein Ehrenwort. Ich habe euch gegenüber sowieso noch eine Schuld zu begleichen. Aber ich dachte, ihr wäret tot. Erst als sie Sofia geschnappt hatten, wurde mir klar, dass die Raubritter ..."
Plötzlich stockte Leo und sah das Mädchen mit aufgerissenen Augen an.
„All die Jahre ... sie haben nie wirklich ... sie haben die Leute gar nicht ...", stammelte sie.
„Na, das fällt dir aber früh auf", spottete das Mädchen, dann biss sie sich auf die Lippen. „Es tut mir leid. Ich war so wüten auf dich. Wir waren so wütend auf dich", korrigierte sie. „Das war ganz schön gemein von uns, dir sowas zuzutrauen."
„Was hättet ihr auch sonst denken sollen?", sagte Leo trocken. „Ist auch egal. Wo ist Sofia und wie bekomme ich euch hier raus?"
Das Mädchen lächelte erleichtert. „Wo deine kleine Schwester ist, weiß jeder hier." Sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Sie ist nicht im Krankenzimmer der Gefangenen, sondern im Krankenzimmer der Raubritter. Man munkelt die verrücktesten Sachen, warum sie eine Sonderbehandlung bekommt. Manche behaupten sogar, der Prinz hätte Gefallen an ihr gefunden."
„Was?", zischte Leo. Vor Wut wurde es eher ein Krächzen. „Was soll denn das heißen?"
„Wir gehören alle jemandem, für den wir arbeiten müssen. Aber manchmal suchen sich die jungen Männer eins der Mädchen aus. Dann wird man seine Frau." Die Miene des Mädchens verdüsterte sich und Angst war auf ihrem Gesicht zu sehen. „Du kannst nichts dagegen machen. Und die meisten Männer im Alter des Prinzen haben bereits ein Mädchen."
„Aber Sofia ist viel zu jung!", brauste Leo auf.
„Ist alles schon vorgekommen." Das Mädchen deutete auf ihre immer noch schlafende Nachbarin. Es war das jüngste Mädchen der Gruppe. Sie hatte den Kopf im Schlaf in ihren Armen versteckt, trotzdem konnte Leo sehen, dass sie nichts schönes träumte.
„Sie ist bereits ausgesucht. Der Mann ist so alt wie du, vielleicht noch etwas älter. In einer Woche wird sie ihm gehören."
„Ich hole euch hier raus", versprach Leo noch einmal, und diesmal meinte sie es auch so. „Sag mir nur, wo das Krankenzimmer ist, und ich komme mit Sofia und hole euch alle hier raus."
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